Der Seiltänzer

In einem hohen Gebirge, die Alten sagen, es reiche bis zum Himmel, gab es eine tiefe Schlucht. Diese Schlucht, so erzählt die Legende, fraß die Zeit. Viele Abenteurer brachen auf, um in diesen Abgrund zu schauen und ihrem Hunger zu trotzen. Zwar kamen alle zurück, aber erst nach vielen, vielen Jahren als stumme Greise, deren verklärten Blick viele mit Wahnsinn erklärten. Eines nachts begab sich ein Seiltänzer auf den beschwerlichen Weg. Er sagte sich nämlich: "Die Zeit wird wohl nicht verlorengehen, sondern irgendwo in der Schlucht verborgen sein. Wenn ich ein Seil über die Tiefe spanne, kann ich vielleicht einen Blick hineinwerfen und sehen, wo die Zeit ist, um sie mir selber zu holen." So brach er auf, ohne Begleitung und ohne jemanden zu sagen, wohin er ging, aber die Leute aus seinem Dorf würden es wissen. War es nicht jedesmal so, wenn einer zur verfluchten Schlucht aufbrach?
Der Weg war schwierig und gefahrvoll und oft entging er dem Tode nur durch schieres Glück, aber nach vielen Tagen stand er schließlich vor dem letzten Paß, der ihn zum sagenumwobenem Abgrund führen sollte. Ob des nahen Ziels achtete er nicht mehr auf Tag und Nacht und stieg unter Aufwendung aller seiner Kräfte auch über dieses Hindernis. Als er ungefähr die Hälfte überwunden hatte, traf er einen alten Mann auf dem Rückweg. Er rief ihm zu, sich nicht allein auf den gefährlichen Rückweg zu machen, aber der Greis hörte ihn nicht und lief weiter. Da schwor sich der Seiltänzer, das zu vollbringen, was jener nicht geschafft hatte. Er würde den Hunger der Schlucht endlich überwinden.
So durchwanderte er auch den letzten Teil des Weges und stand schließlich eines Nachts vor dem Objekt der Begierde. Vor dem unheiligen Maul, das mit großer Gier die Jugend aller Recken verschlungen hatte, und das er nun schließlich bezwingen würde. So spannte er sein Seil und schritt voll kühner Hoffnung, wie auf festem Boden, über die Mitte der Schlucht, als die Dämmerung langsam anbrach. Aber noch war es zu dunkel um zu sehen, was darin verborgen lag. So wartete er und sah zu wie sich die Sonne aus ihrem Bett erhob und langsam ihren Tageslauf begann. Immer höher und höher stieg sie und gleich würde er sehen können, was sich in der Schlucht verbarg, gleich, wenn die Sonne nur noch ein bißchen stieg.
Dann, plötzlich, sah er das Bild. Es war nicht in der Schlucht, nein an den Himmel war es gemalt, viel zu schön und perfekt als das es wirklich hätte sein können.
Die Sonne hatte sich über die Nebelbänke des Morgens erhoben und war gerade dabei ihren Platz am Zenit einzunehmen. Die Farbe des fast wolkenfreien Himmels ging vom glühendem Rot des flüssigen Stahls am Horizont zu einem strahlenden Blau in der Höhe über, welches so hell war, daß es in den Augen schmerzte. Die Sonne aber teilte mit ihrem Licht, welches stärker schien, als es je ein Auge erblickt hatte, die einzige längliche Wolkenbank in zwei Hälften und erschuf so den Eindruck, die leuchtende Pupille eines gigantischen Auges am Firmament zu sein. Aber all dies konnte nicht wirklich sein. Es schien mehr von einem Künstler der Renaissance genau berechnet und mit den leuchtendsten Farben gemalt zu sein. Und dies alles sah der Seiltänzer nicht als kurzen Eindruck, der es in Wirklichkeit sein mußte, sondern als Quintessenz tausender Sonnenaufgänge, zusammengefaßt auf diesen wunderschönen und kostbaren Augenblick.
Plötzlich aber verloren seine Füße den Halt. In die Tiefe stürzend wollte er noch versuchen, das Seil mit der Hand zu greifen, aber er stockte in der Mitte der Bewegung und vergaß alles. Er vergaß, das er in die Schlucht fiel, welche er doch bezwingen wollte, er vergaß auch, daß das Seil, welches seine letzte Rettung war, an ihm vorbeizog dünner und dünner wurde und in der Höhe verschwand. Ihn durchzuckte mit grausamer Macht die Erkenntnis: Nicht die Schlucht war es die die Zeit stahl. Nein, es war nur der Himmel und die Wunderbarheit des Sonnenaufgangs, der all den Abenteurern nicht ihre Jugend stahl, sondern sie verwendete um ihnen einen kurzen Blick auf die Ewigkeit zu gewähren. Einen kurzen Blick auf die vollkommene Schönheit. Und der Seiltänzer fing an zu lachen, und er lachte seine Hand an und hörte erst auf zu lachen, als der Boden der Schlucht das Werk seines langen Falls beendete.
Denn als er versucht hatte das Seil zu greifen, fiel sein Blick auf seine Hand und es war die Hand eines Greisen.

1997

-Pilgrim

Zurück zu den Geschichten