Hubje

Die Tapete stört sie. Mal zeigt sie endlose Ferne, dann wieder ziehen sich Flecken zusammen, bilden Gesichter die sie angrinsen.
Plötzlich spürt Mariane eine Hand an ihrem auf den Rücken gefalteten Flügel. Ohne zu überlegen wandte sie sich um und will dem Grabscher eine Ohrfeige verpassen. Tat es dann doch nicht, glitzerte den Menschen nur böse an. "He süße", sagte er mit einer Stimme, die genau in diese schäbige Hafenspelunke passt. "Du bist doch'n Fliecher, nich? Wieso zur verdammten Hölle fliechst du nich und hockst hier wie angesoffen?" Sie deutete auf ihre Uhr. "Wasn das, kleine? Ein verdammter Countdown?" Mariane nickte und errötete. "Mann" sagte der Mann, seine Stimme klingt weicher, fast liebenswert findet sie, und setzte sich auf den Stuhl neben sie. "Ihr Fliecher seid doch sonst so verdammt frei und so? Oder was is mit dir los?" Sie seufzte.
Mariane ist noch jung. Ihre Flügel sind noch nie getestet worden, weil andere Angst hatten. Und nun sitzt sie hier und wartet auf die Freundin, mit der sie sich zum erstenmal in die Lüfte schwingt. Des nachts und versteckt vor allen Augen.
"Ich versteh dich, Mädchen" er lacht. "Habbich als junger Lichtmatrose auch 'emacht. Hab vondenn Wirtn in'nen Häfen pfundweise Bier für mich un'nie Jungs abgeschleppt. Für auf die Fahrt. War verbottn, aber Captn hats nieunnimmer 'emerkt. Aber sach ma, fliechen is doch nik verbottn für euch. Wieso dann so'ne Geheimnistuerei? Und wieso biste so auf'eregt? Der alte Hubje" (er meinte wohl sich selbst) "wird dafür woll niche Grund sein."
Mariane hat Angst, nicht nur, weil eigentlich die Familie bestimmt, wann zum erstenmal geflogen wird, und wehe man wiedersetzt sich (wie sie), sondern auch, weil sie nicht weiß, wie gut sie die Freundin kennt. Sie weiß nur, daß sie wunderschön singt und glaubt, daß sie mindestens genauso fliegt - die zwei wichtigsten Dinge im Leben eines Fliegers - und letzteres hat Mariane nie zuvor wagen dürfen. Sie weiß nicht was kommen wird. Sie weiß nicht mal, ob sie der Freundin trauen kann.
Hubje klopfte ihr aufmunternt auf die Schulter. "Mein Kindchen, dat wird doch sicher schon in Ordnung gehn. Es gibbet doch immer alles. Ein neur Captn, der nok nie 'n Kajütchen von inna geseen hat un' Matrosn, die länger fahn alse laufen und als Matrosn auch beseedigt werdn." Sie sah wohl sehr unsicher aus. Er fuhr fort. "Un mach dir mal keene Sorng. Dat leben is wie dat Meer. Manchmal hamma schon 'esacht, nix hat mehr zu 'ehn, jetzt hamma die Ruht schnurstracks zum Höllensee erwischt und wat war? Nix wars! Hubje is da heer? Issa dat? Ja issa. Mit Schramma und 'nem Bein aus Holz, aber er is da heer."
Die Kirchenuhr schlug. Die Spelunkentür tat es ihr gleich, verschluckte Hubje und entließ eine neue Gestalt in die Taverne.
Ein Gesicht lächelte Mariane von der Wand an.
Sie fühlt sich etwas besser.

03-24-98

-Pilgrim

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