High Stock Gambling I
Der Raum war abgedunkelt. Nur auf den Holztisch in der Mitte fiel das Licht der
nackten Glühbirne. Ich und mein Kontrahent saßen im dunkeln.
Mary stand hinter mir. Der Mann mir gegenüber hatte einen gelbweiß gestreiften
Trenchcoat an und einen passenden Hut auf. Sein Gesicht lag im Schatten. Ich
hatte das dumpfe Gefühl, daß er grinste.
"Ali's Doomed Seraph" Seine Stimme klang kühl, anteilnahmelos, tödlich. Er sprach
weiter "Drei Gaben. Du fängst an. Keine Austauscher, keine Auszahlung, keine
Fragen. Einsatz Minimum du: Vertrauen. Maximum: Leben.Ich Minimum: keins. Maximum:
Leben. Unentschieden möglich bei klarem Abbruch, wobei kein Besitzwechsel. Noch
Fragen?" Keine Fragen.
Ich nahm die erste Karte von meinem Stoß und warf sie ihm verdeckt hin. Er nahm sie
auf und lächelte (ich bin mir ganz sicher. Aber wissen kann ich es natürlich nicht).
Er stieß scheinbar unachtsam an seinen Kartenstapel und meine erste Karte lag vor mir.
Eine Sagengestalt. Wunderschön, gigantisch auf einer Klippe, vor dem hellen Licht des
vollen Mondes. War das ein gutes Omen? Mary sah mir über die Schulter. Sie schien
beruhigt. Eine gute Karte schien ihr Blick zu sagen. Es mußte eine gute Karte sein.
"Einsatz?" - "Vertrauen."
Der Hut nickte.
"Hoffnung. Gehen sie mit?" - "Liebe."
"Liebe und Hoffnung." - "Ich - ich gebe Vertrauen."
Mir wurde heiß. Mit dieser Wette konnte er nun für mich erhöhen. Was, wenn...nein,
das Glück war mir hold in dieser einen Nacht. Es war mir nie zuvor vergönnt gewesen,
über Hoffnung zu steigern. Aber die Karte in meiner Hand war mein Fetisch, mein
Glücksbringer geworden. Ich würde SIE nicht loslassen, wie all die anderen in den
Spielen davor. Und wenn er mein...
"Leben."
Ja, er hat es ausgesprochen. Die Entscheidung ist gefallen. Ich werde dieses eine mal
gewinnen. Diese Karte, die ich jetzt in der Hand halte, wird das Spiel gewinnen.
"Hoffnung, Liebe und Zärtlichkeit." - mein finales Gebot.
Er nickt. "Das Leben deines Königs gegen die Hoffnung, Liebe und Zärtlichkeit meines
Königs. Frist: Einen Monat. Spiel. Bis vierte Karte blind. Spiel beginnt bei drei. Eine
Runde. Konsultierungen theoretisch."
Er nimmt seine zweite Karte auf.
Meine zweite Karte. Ich stutze. Das Material fühlt sich weich an. Weich und
beruhigend und - vertraut. Auf der Vorderseite ist nichts abgebildet.
Ich schaue unsicher zu Mary. Was bedeutet diese Karte? Sie zuckt mit den Schultern.
Seine dritte Karte. Was zeigt sie ihm wohl. Ich weiß es nicht.
Meine dritte Karte. Ein Schmerz, kurz und schon wieder vergessen? Nein, er hallt
einige Sekunden nach. Und weg ist er.
Ich schlucke und sehe Mary an. Sie erkennt es an meinem Blick?
"Du - kennst dieses Spiel?" Ich zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Vor nicht
allzu langer Zeit war ich wo du jetzt bist, Mary, und meine Schwester saß auf meinem
Platz. Er hatte Hoffnung gesetzt und sie auf Hoffnung, Liebe und Verständnis über
eine Not-wette raufgetrieben. Die erste Karte war die hier"
Ich deutete auf die weiche Karte. "Und die dritte die hier." Ich deutete auf die letzte
Karte. "Und die zweite?" "Mein Gott" flüsterte ich und starrte meine liebgewonnene
erste Karte an. Ich sank in mich zusammen. Meine Gesichtsmuskulatur wurde zu Brei.
"Es...es war Grisu, der kleine Drache."
"Und, und die vierte Karte?" Sie schwitzte. War verkrampft. Ihre Hand war in meine
Schulter gekrallt, als ob sie mich festhalten wollte, sollte ich im nächsten Augenblick
von Ali's Leuten geholt werden.
Er antwortete für mich. "Die wird erst gezogen, wenn wir unter uns sind, Schätzchen."
Neutral, immer noch kühl und tödlich, aber trotzdem neutral.
Sie flüstert mir ins Ohr: "Überleg es dir Cen...bevor die vierte Karte gezogen wird,
kannst du aufgeben." Ich nicke. Ich weiß. Er dreht seine erste Karte um. Seine Stimme
wandelt sich. Wird sanft und liebenswert. Wirklich liebenswert. Auf der Karte ist ein
Raubsaurier abgebildet. "Ok, mein kleiner Raptor. Möge der bessere gewinnen." Ich
drehe meinen Drachen um. Mal sehn, wie das Spiel sich entwickelt.
"The Storm is awake and all on the Hazard"
-William Shakespear "Julius Caesar"
High Stock Gambling II
Karten wirbelten hin und her. Muster aus offenen und verdeckten Karten erschienen
auf der Spielfläche und verschwanden meist so schnell wie sie gekommen waren.
Karten stapelten sich zu nach komplizierten Regeln aufgehäuften Stößen. Karten
Karten Karten. Ich hatte bereits seit längerem die Übersicht über jede einzelne Karte
verloren, aber ich dachte, nein, besser vermutete einen Trend zu entdecken. Ich
versank in der Karte mit dem Drachen. Wollte ihn immer noch nicht hergeben.
Mary hinter mir war verwirrt und müde. Wir spielten nun schon mehrere Stunden und
nun waren wir endlich in die nähe der alles entscheidenden vierten Karte gekommen.
Diese Karte würde den weiteren Spielverlauf vollkommen bestimmen. Und sollte es die
Karte sein, die ich...nein, die Karte durfte es einfach nicht sein. Sie konnte es nicht
sein. Unmöglich. Aber wenn doch...es wäre jetzt schwierig, gefahrvoll, auszusteigen,
aber es wäre möglich, ohne ALLES zu verlieren. Aber wenn er nur das wollte? Wenn
das der falsche Weg wäre? Der Sieg und die Niederlage waren beide zum Greifen
nahe. Ich betrachtete immer noch den Drachen. Es mußte einfach klappen.
"Vierte Karte?" Ich nickte. Er tippte an seinen Stoß und eine Karte wirbelte direkt vor
mir auf den Tisch. Dann zog er eine von meinem Stapel.
Wir nahmen sie gleichzeitig auf. Er sieht mich an, ich sehe ihn an. Wir wissen beide
was der andere hat. Und nun auch, was wir haben. Auf meiner Karte war...
to be continued...
High Stock Gambling III
Die Tür brach aus den Angeln. Zwei Agenten stürmten das Zimmer.
Ein Waffe. Browning? Colt? Keine Ahnung. Unwichtig.
Ein Schuss
Stille. Zweiter Schuss. Stille
Der Mann im Trenchcoat sackte zusammen. Meine vierte Karte war durchbohrt - seine
vierte Karte war durchbohrt. Und sein Herz. Er fiel um. Tod.
Ich sah auf die vierte Karte. Ich versuchte zu erkennen, was zu erkennen war. Legte
sie mit anderen Karten zusammen, versuchte die Geschichte zu ergründen. Hätte ich
gewonnen? Hätte ich verloren? Weiß ich? Weiß jemand? Keiner weiß. Auch nicht die
Agenten, die da stehen. Eine Brünette, schon etwas älter und ein Figur, die mich an
James Bond erinnerte. "Tja", sagte Bond "Da haben wir Sie ja wohl gerettet."
Ich stand wortlos auf, ging zu ihm hin und sah im direkt in die Augen. Ein Schlag.
Meine Hand zeichnete sich rot auf seinem Gesicht ab.
Ich setze mich wieder. Muß mich sammeln. Schiebe die Karte auf dem Tisch hin und
her. Vielleicht hätte ich...würde ich die Möglichkeit gesehen haben? Hätte das da den
Sieg, von mir oder von ihm bedeutet?
Mist!
Ich hätte vielleicht gewinnen können. Ich würde niemals wissen, was auf der vierten
Karte war. Nie.
High Stock Gambling III.5
Als ich damals aus jenem Zimmer stürzte, vernichtet, mit Tränen in den Augen, wußte
ich natürlich nicht, daß damals aus dem Trenchcoat, mir und Mary noch jemand im
Zimmer war. Es war ein Spatz, der von dem vergitterten Kellerfenster auf uns hinabsah
und mit seinen runden, tiefschwarzen Knopfaugen das Spiel neugierig und ganz still
beobachtete.
Als auch die Agenten gegangen waren, flatterte er auf den Kartentisch hinab und
hüpfte zwischen den offenen und verdeckten Karten hin und her und besah sich
sorgfältig die gesamte Situation. So vertieft war er, daß er nicht mal hörte, als die
Holztür mit einem Knarren aufging und der feiste, uralte Manager des Etablisments
hereingewankt kam. "Wie steht das Spiel?" Erst bei diesen Worten flatterte der Spatz
erschreckt auf und kam auf dem Lampenschirm zu Ruhe. Der Manager fragte erneut
mit seinen knarzenden, tiefen Stimme "Wie steht das Spiel?" Erschreckt und vor Furcht
halb erstarrt brabbelte der Spatz "Jakinski-Index 27 zu 39, nein, 38. Suzuki Reizung
konkav 19 gegen 19...das heißt Remulusstellung - nein, nein - Remulusfinte. Und die
Jacobusgleichung ergibt -" Der Alte unterbrach seine Berechnungen, die bei der
Komplexität jenes Spiels vielleicht sogar AlI selbst im Kopf nicht hätte machen können
"Wenn ich das hätte wissen wollen, hätte ich mir einen Taschenrechner geholt. Wie
steht das Spiel? Wer gewinnt? Kommt es auf die vierte Karte an?" Der Spatz flatterte
wieder auf den Tisch hinab und überblickte nochmals schnell die Karten "Nein. Es
kommt nicht auf die vierte Karte an. Der Raptor hätte gewonnen." "Wie wäre es mit
einer Wette? Du hast Recht - du bekommst die Stelle von Trenchcoat. Ich gewinne -
ich bekomme dein Leben."
Der Spatz nahm an und behielt sein Leben. Seine weitere Geschichte zu erzählen
würde einen Roman füllen - und die Legenden, die man sich in der Stadt über ihn
außerdem erzählt einen weiteren. Soviel sei gesagt: Er wurde immer besser, besiegte
viele Gegner und forderte schließlich AlI selbst, der von seinem Wolkenkratzercasino
aus über die Stadt herrscht, heraus und scheiterte und nur ein Wunder rettete ihn vor
dem Untergang.
High Stock Gambling IV
Er mischte die Karten. "Was ist. Raptor, willst du nicht spielen? Der Seraph wartet,
dich siegen zu sehen? Wo ist dein Einsatz? Wo ist der siegessichere Ausdruck in
deinen Augen? Bist du zum Menschen geworden, zuletzt?"
Der Spatz war schon lange weg. AlI herschte wie eh und je als einsamer und
unbesiegbarer Herrscher über der Stadt. Und mir, mir bat er erneut ein Spiel an. "Du
kennst die Regeln noch. AlI's Doomed Seraph. Aids. Wenn du gewinnst, findest du
Liebe. Wenn du verlierst, den Untergang qualvollster Art. Willst du wirklich nicht
spielen? So ists recht! Gib dich dem Lecken alter Wunden hin! Gib dich der
Verantwortung hin - die du tragen müßtest, würdest du verlieren. Was ist? Ist deine
Freude an den hohen Einsätzen und den Sekunden erloschen, in denen das Leben in
deinen Schläfen pocht, wenn noch keiner über Sieg oder Niederlage sichersein kann,
aber wenn jeder Chancen sieht und Verlust fürchtet. Und an den Sekunden, wenn die
4. Karte gegeben wird? Und an den Sekunden, wenn das Paradigma gelöst wird? Alles
für dich Vergangenheit? Ja?" Drei verdeckte Karten liegen vor mir. Mein gemischter
Kartenstapel daneben. Soll ich? "Ein Risiko ist immer dabei.", sagt AlI und das mit
Recht.
High Stock Gambling V
Manche Dinge enden groß, andere klein.
Ich war staubig und müde, als mich mein Weg zurück in jene üble Gegend der Stadt, in
die Spelunke, führte in die Marie mich vor ewigen Zeiten begleitet hatte.
Andeutungen der Blutflecken von damals, die Trenchcoat bei seinem unerwarteten
Ableben hinterlassen hatte, zierten noch immer den Tisch, hinter dem jetzt ein neuer
Mann im Anzug, sein Gesicht nicht von dem Lichtschein der alten Glühbirne erfasst,
saß. Wenn er von mir gehört hatte, so erkannte er mich nicht. "Sie wollen spielen?"
fragte er und nicht so etwas überflüssiges wie woher ich den Weg in diesen geheimen
Raum kannte oder wer ich überhaupt war. Ja, ich wollte spielen.
Schnell waren die Karten gegeben, das Paradigma gesetzt und die Konstrukte bildeten
sich zu ihrer vollen Größe aus. Routiniert legten wir beide Karte an Karte, Stapel auf
Stapel.
Dann die vierte Karte. Das Paradigma blieb gleich und als all der Aufbau darum in sich
zusammen viel und irgendwann war es soweit. Ich sah mit leichtem Unglauben auf den
Tisch, auf dem das Endergebniss zu sehen war. Ich hatte gesiegt.
Kopfschüttelnd zog ich den Gewinn ein. So leicht war es gewesen, was mir vor langer
Zeit einmal so unmöglich schien, nach so vielen Gegnern die schwerer als dieser, oder
wohl auch sein Vorgänger vor ihm gewesen waren, hatte ich den Trenchcoatträger in
einem geheimen Raum in einem der bösen Viertel der Stadt geschlagen.
Ich stand auf und ging meines Weges, um wenig reicher aber vielleicht ein bißchen
weiser, zurück zu anderen Spielen gegen andere Gegner, gegen die es mir so
unmöglich schien zu gewinnen.
Nur kurz gedachte ich dem Spatz und fragte mich, was wohl aus ihm geworden war
und wie die Welt, in die er zurückgekehrt war, als er der Stadt den Rücken kehrte
wohl sein mochte.
1998-2001
-Pilgrim
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