Fays Ableitung

In meinem Leben war ich schon in den verschiedensten Bibliotheken. Bibliotheken voller alter Wälzer, voller Taschenbücher oder voller Disketten. Irgendwie, jetzt auf all die Jahre zurückgeblickt erscheint mir 'Jarod's Great Universal State Library' nicht mehr irgendwie erinnerungswert, genausowenig wie das Buch, daß ich damals dort gesucht habe. Eigentlich erinnere ich mich nur an die Kleinigkeiten, an das außerhalb der Folianten, an das Menschliche, das Unmenschliche und das Allzumenschliches. Wie an das, was ich in der 'Jakinski-Bücherei' ganz am Anfang meiner Karriere miterleben mußte.
Die Jakinski Bücherei war schon jeher etwas besonderes: Nicht nur, daß sie Bücher beinhaltete, die es sonst nirgendwo gab oder je geben würde, und diese Bücher von unschätzbarer Qualität waren, nein, seid Jakinski, dem die Welt das gleichnamige Index zur Analyse strategischer Stochastiksituationen verdankt, die Bibliothek vor über 200 Jahren eröffnete, waren die Autoren jeder Zeit genötigt, ihre Werke für die Bücherei währende der normalen Öffnungszeiten im Bibliotheksbetrieb direkt im Lesesaal, umgeben von ihren Lesern zu schreiben. Das war damals und heute wirklich eine Sensation! Natürlich war es den Autoren und auch allen anderen Besuchern strikt untersagt, irgendwelche Schriften mit in die Bibliothek zu bringen: Jakinski wollte keine zwischen Klo und Autoschlüssel entstandene Brotlosigkeiten, er wollte Kunst!
Ich selbst war zu dem Zeitpunkt der Anekdote, die ich so mühsam einzuleiten suche, schon einige Jahre in den edlen Hallen der Bücherei zugange und versuchte Hinweise auf den Verbleib des wichtigsten Buches, daß je den Privatbesitz von Jakinski gekrönt hat, zu finden. Während dieser Zeit, in der ich von sechs Uhr morgens bis spät in die Nacht hinein in zerlesenen, ledergebundenen Büchern mit einer Unzahl von zerfransten Lesezeichen Zitate und Hinweise suchte, bemerkte ich natürlich auch die subtilen sozialen Bindungen, die sich zwischen Autoren, den Lesern und den allgegenwärtigen Wachen abspielten. Am offensichtlichsten war es natürlich zwischen der einen Autorin, ich glaube ihr Name war Fay, und einer der Wachen: Über die Monate hinweg, in denen wir alle drei, sie, die Wache und ich, in Jakinski's Bücherei uns nach Leibeskräften bemühten, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, hatte sich zwischen den beiden eine für den eher spärlichen Betrachter unerkennbaren, aber doch existente grazile Liebe herausgebildet; nicht, daß ich das damals viel überlegt hätte: Es gehörte eben für mich zu jener Bibliothek, wie die drei wurmstichigen Originalausgaben der Werke Jakinskis und die abgelesenen Folianten über militärtaktische Erstschlagsmanöver aus seiner Privatkollektion.
Zwischen den beiden Liebenden schien es mir kein gestern oder morgen zu geben: Ein versteckter Blick von ihr zu ihm, eine im Spaße gestöhnte Klage von ihm zu ihr, wen sie ihn drängte, die Büchereitüren am morgen schon früher zu öffnen, damit sie an ihrem Werke doch wenigstens ein bißchen weiterschreiben könnte, ohne daß ihr tausend Neugierige die Inspiration mit den Augen vom Blatt wegfraßen, kaum, daß sie sie zu Papier gebracht hatte. Natürlich kam er ihrem Wunsch nie nach, schließlich war er eine Wache und sie eine Autorin und all dies passierte nicht irgendwo sondern an diesem Ort. In der Stadt.
Dies alles ging so, bis zu einem meiner letzten Tage in jener Bücherei: Ich war frustriert und vom Staube tausender toter Worte bedeckt, keine Spur von jenem hochgeheiligtem Buch hier. Vielleicht hätte ich ihr Schluchzen nicht bemerkt, wäre ich nicht in der Nähe gewesen. So sah ich aber, wie sie, die Hände an die Seiten ihres hübschen Gesichtes gepreßt stumm weinte, dabei den Kopf nicht vom Papier hebend. Ihr Wächter sah besorgt von seinem Buch von ihr über die Anwendung irgendeines Manövers in irgendwelchen besonderen Situationen auf und zu ihr herüber. So vergingen wieder einige Minuten, ich hinter einem verstaubten, von Spinnweben eingehüllten Portfolio versteckt, dessen Inhalt nach meiner Einschätzung nichts mit meiner Suche zu tun hatte und beobachtete. Schließlich faßte er sich ein Herz und ging zu ihr hinüber, fragte sie was denn los sei. Sie, die inzwischen schon wieder unter Tränen weiterschrieb, antwortete so leise, daß ich es nicht verstanden hätte, wären ihr die Worte nicht so klar und wichtig gelungen, wie in ihren zahlreichen Büchern nur wenige Stellen. Sie sagte nur drei Worte. „Ich bin fertig." Ich teilte ihre Meinung, die Wache war weniger gut von Begriff und fragte wie sie das denn meine. „Am Ende dieser Seite werde ich fertig sein. Fertig mit meinem Gesamtwerk." Die Wache wurde bleich wie Schnee.
Wie gesagt, ich stimmte Fay vollkommen zu, daß sie am Ende ihres Werkes angekommen war. Ich hatte alle herausgegebenen Bände von ihr mit großen Interesse gelesen, in denen es um Rolands Indexdesertation, einer Folgerung aus dem Jakinski-Index, ging, die allerdings seid jeher unbeachtet geblieben war, da sie eine verheerende Definitionslücke aufwies. Buch um Buch führte die Autorin zuerst den geneigten Leser in die Ableitung ein, stellte alle Möglichkeiten da, in denen sie zu nutzen wäre, zeigte, wie die Definitionslücke sie zunichte machte und stellte dann Theorie um Theorie, Beweis um Beweis um diese verdammte Lücke herum auf. Das war die Situation nach 42 Bänden und ungefähr 33.000 engbedruckten Seiten. Jetzt fehlte nur noch das geniale Ende, aus all jenen Einzelsträngen die letzte Schlußfolgerung zu ziehen und aus Rolands fehlerhafter Indexdesertation etwas wohlklingenderes wie Fays Ableitung zu machen. Ich war natürlich kein Experte auf dem Gebiet, aber ich hätte mir ohne weiteres vorstellen können, daß Fay nur diese unbeendete Seite von einem Platz in der Wissenschaftsgeschichte, vergleichbar schon fast mit dem legendären Suzuki, trennte.
Die schneeweiße Wache aber schüttelte nur den Kopf. „Nein." sagte sie fast flehentlich. Fay schrieb immer noch, ihr leises Schluchzen durchdrang den riesigen Saal. Die halbe Seite war schon gefüllt. „Nein" sagte die Wache erneut, diesmal bestimmter. Schon umgriff seine Hand ihren Unterarm, hob ihn weg vom Papier, so daß an schreiben nicht mehr zu denken war. „Tu mir das nicht an. Liebst du mich denn nicht?" Ich schüttelte gut versteckt den Kopf. Sie konnte nicht anders. Sie war am Ende, nach 34.000 engbedruckten Seiten war alles gesagt, was über ihr Thema gesagt werden konnte. Sie versuchte ihm das beizubringen, daß eben ihre Arbeit hier getan seie, daß sie nun nach neuer Arbeit suchen müsse, aus keinem anderen Grund als in Freiheit in der Stadt überleben zu können. „Nein." antwortete er ihr mit fester Stimme. „Du wirst dieses Werk nicht zuendeführen."
Der darauffolgende Effekt war mehr als nur auf eine perverse Art eindrucksvoll. Er brannte sich in mein Gehirn ein und sollte ich auch nochmals zweihundert Jahre leben, ich würde ihn nicht vergessen: Fay wurde nun genauso bleich wie die Wache. Diese ließ ihren Arm los, alle Kraft schien aus ihm von einem Moment auf den anderen zu weichen und er sackte kraftlos zu Boden. Nun schluchzte er, sie saß nur stumm da, so weiß wie Schnee, der Stift fiel ihr aus der Hand, rollte über den Tisch, durch die Stille, die nun herrschte hindurch und fiel unbeachtet von der Welt auf den edlen Elfenbeinboden und blieb liegen.
Ich kann der Wache nur den Vorwurf machen, daß sie ihr den Befehl erteilt hat, nicht für das, was danach passiert, denn, praestare neque servientis neque dominantis licet, auch er und Fay waren nur Sklaven der Moral, die in der Stadt herrschte und der Regeln, die in der Bibliothek regierten. Die erstere gab dem Gesetzeshüter die Vollmacht über das Strafmaß des Gesetzbrüchigen, aber mindestens hatte es die Versklavung zu sein. Die letzteren befahlen den Autoren, mindestens jede volle Stunde eine halbe Seite zu schreiben. Aber erst, als ich jene zwei schneeweißen Gestalten des Jammers sah, wußte ich, was es hieß in der Stadt zu leben.
Es war, wie zu erwarten, für mehrere Herzschläge Stille, dann schlug es die volle Stunde. Die, immer noch bleiche Wache, stand auf, seine feste Stimme ein verzweifeltes Flüstern. Sie solle in zwei Stunden zu ihm herauskommen. Fay nickte nur stumm.
Ich folgte ihr natürlich auf dem Weg zum Verbrennungsofen, wo sie Seite für Seite dem Feuer übergab: Unvollendete Manuskripte waren in Jakinskis Bücherei verboten, genauso wie Müßiggang für den Autor, und die Moral verbot den beiden verdammten Liebenden, seinen Befehl zu vergessen, ganz einfach, als wäre er nie gegeben worden. Sie warf, wie betäubt, Seite für Seite in das ewige Feuer, und mit jedem Blatt verschwand Fay, die Entdeckerin von Fays Ableitung in den Flammen. Seite für Seite. Blatt für Blatt. Wahrscheinlich sah sie es gar nicht, weder als es geschah, noch als sie nach guten eineinhalb Stunden fertig war und ging, um zum letzten mal ihren Platz aufzuräumen, Tintenfaß und Federhalter in den Schrank nahe dem Eingang, zu dem nur die Autoren den Schlüssel haben, leeres Papier in einen der leeren Körbe der Verwaltung. Dann ging sie hinaus zu der Wache, betend auf das beste, wenn es auch nicht im geringsten etwas Gutes war, was er tun konnte.
Ich blieb bei dem Verbrennungsofen zurück und nahm das einzige, was von Fay, der großen Fay noch übrig war: Ein halbes Blatt, verkohlt und von einem Wink des Schicksals und einem kleinem Feuerwirbel in die Ecke des Zimmers gewirbelt und dort unbemerkt geblieben. Ich nickte nur aufs höchste beeindruckt, als ich es durchgelesen hatte und warf es dann auch in das Feuer.
Von außen hörte ich keinen Schuß und es gab keine Todesanzeige für Fay. Seitdem betrat ich nie wieder eines der sklavischen Betriebe der Stadt, tue es auch heute noch nicht, noch nehme ich 'persönliche Diener' als Geschenk an, da ich nach so vielen Jahrzehnten zurückkehrte, denn, obwohl Fay wohl schon längst an ihrem grausamen Schicksal gestorben sein muß, in der Stadt leben Versklavte nie sehr lange, doch will ich nicht ungewollt einer von denen sein, die unwissentlich, oder nur halb wissentlich, dazu beitragen, einem großem Geist, ähnlich Fays der Henker zu sein.


Aus: Vorwort zu Band 43: Widerlegung des Jakinski Index nach Fay
Autor: Pilgrim
erschienen in der Jakinski Bücherei unter Vorbehalt aller Rechte

03-01-99

-Pilgrim

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