Yeni
(Eine aventurische Geschichte von Dario Abatianni (C)30.08.1996)

Das silbrige Licht des Madamals erhellte schwach die stillen Straßen der Stadt Rommilys. Die Fensterläden der meisten Häuser waren bereits fest verschlossen, nur aus vereinzelten Tavernen und Schankstuben drangen leise Geräusche heraus. Eine Katze, ein großes, schwarzes Tier, überquerte die verlassene Straße, und wenige Augenblicke darauf trat eine Gestalt ins Licht des Madamals. Sie blickte sich um, als wüßte sie nicht genau, welcher Weg der rechte sei, dann bog sie linker Hand in die Hauptstraße der Stadt ein. Leise wanderte sie durch die Dunkelheit, nur ihr langer Wanderstab erzeugte dumpfes Pochen auf dem festgestampften Lehmweg. Mirea war sich nicht sicher, ob sie am Ziel ihrer Reise angekommen war. Das würde sie frühestens bei Sonnenaufgang feststellen können. Also machte sie sich auf den Weg, eine der Herbergen zu erreichen, deren Laute hier verhalten zu vernehmen waren. Sie folgte den Geräuschen. Doch unvermittelt tauchte eine weitere Gestalt aus einer schmalen Seitengasse auf. Sie schien es sehr eilig zu haben, denn sie rannte Mirea beinahe um. »Vorsicht«, mahnte das Mädchen, aber sie war schon wieder allein. Dann stellte sie bestürzt fest, daß ihr Beutel mit den Heilkräutern, den sie immer am Gürtel trug, verschwunden war. Sofort wandte sie sich in die Richtung, in der die fremde Person verschwunden war und nahm die Verfolgung auf. Nur wenige Herzschläge darauf hörte sie aufgeregte Rufe hinter sich. Sie wandte sich im Laufen um und sah zwei Männer in Uniform, die in ihre Richtung gerannt kamen.

»Da rennt sie!« rief einer von ihnen. »Los, Korau! Sie darf uns nicht entkommen!«

Überrascht blieb Mirea stehen. Nur wenig später hatten die Fremden sie eingeholt und verharrten ein Stück vor ihr auf der Straße. Der eine, dessen Stimme sie zuvor gehört hatte, war recht schlank, höchstens eindreiviertel Schritt groß, während der zweite wohl zwei Schritt maß und mindestens einhundertzwanzig Steine wiegen mochte. »Haben wir dich also«, sagte der große Mann, der Korau hieß. »Du wirst uns jetzt sofort das Geld zurückgeben, hörst du?« Er starrte das Mädchen durchdringend an. »Was ist? Sollen wir es uns besser holen?« fragte er, nachdem Mirea sich nicht gerührt hatte.

»Das ist eine Verwechslung«, erklärte die junge Frau. »Ihr habt die falsche erwischt. Eure gesuchte floh gerade eben diese Gasse entlang. Sie hat mir ebenfalls einen meiner Beutel gestohlen.«

»Glaub ihr nicht, Korau. Sie war es, da bin ich mir sicher. Sieh sie dir doch an! Bei Rahja, selbst im Lichte Madas erkenne ich ihren Rotschopf. Und hast du vorhin nicht selbst gesagt, sie sei schön vom Angesicht?«

»Aber Ihr irrt!« Mirea wurde es unbehaglich. »Es ist, wie ich sagte. Ich bin es nicht, die Ihr sucht!«

»Dann erkläre mir, was du hier um diese Zeit machst«, forderte der jüngere sie auf und stemmte dabei die Arme in die Hüften. »Du scheinst mir nicht hierher zu gehören.«

Mirea dachte nach. »Ich suche nur eine Übernachtungsgelegenheit«, sagte sie dann. »Ich bin unterwegs von Wandleth nach Hartsteen. Jedoch muß ich unterwegs die Orientierung verloren haben.«

»In der Tat, wo doch Hartsteen gut sechzig Meilen westlich von hier liegt«, höhnte Korau. »Glaubst du wirklich, das nehmen wir dir ab, Kleine?«

»Aber es ist die Wahrheit«, beteuerte Mirea. »Ich habe Euer Geld nicht. Eure Diebin ist längst über alle Berge.«

»Du bleibst also bei deiner Geschichte?« Als Mirea nickte, fuhr er fort: »Gut. Dann wirst du jetzt im Namen Praios' schwören, daß alles, was du uns sagtest, der Wahrheit entspricht.«

Mirea stutzte. Wie könnte sie? Das wäre wahrlich Ketzerei. Sie fürchtete sich vor dem Zorn des himmlischen Richters, wenn sie diese Gotteslästerung begehen würde. »Ich... Nein, das kann ich nicht.« Niedergeschlagen senkte sie den Blick.

»So, du kannst es nicht, wie? Dann liegt der Fall also klar, nicht wahr, Porc?« Sein jüngerer Begleiter nickte. »Also gut. Jetzt, da du endlich vernünftig geworden bist, gib uns das Geld, dann lassen wir dich noch einmal mit einer Warnung davonkommen.«

Mirea nickte und griff in ihr Wams. Dann plötzlich hielt sie sich ihre Hände vor den Mund und stieß ein Krächzen aus. Die Männer blickten sich einen Moment lang verwundert an, dann schrie Porc vor Schmerz unvermittelt auf. Wie aus heiterem Himmel stürzte ein Schwarm dunkler Vögel auf die beiden Gardisten herab. Sie hackten nach ihren Köpfen, und die Männer versuchten, ihre Gesichter mit den Händen zu schützen. Heisere Schreie hallten durch die ansonsten stille Gasse. Mirea war bereits wieder auf der Flucht. Doch als sie gerade hinter einer Biegung verschwunden war, verzogen sich auch die Vögel, so schnell, als wären sie nie dagewesen.

»Verflucht!« rief Korau. »Diese Kleine ist wohl eine Hexe, bei Praios! Los, wir müssen sie erwischen, bevor sie uns entkommt!«

Trotz der leisen Proteste des anderen nahmen sie schon bald wieder die Verfolgung auf. Sie erblickten das Mädchen, als es gerade in eine weitere Gasse einbog. »Jetzt haben wir sie!« rief Porc triumphierend.

Mirea stellte nur wenig später fest, daß sie in eine Straße ohne Fluchtmöglichkeit geraten war. Nach etwa fünfzig Schritt endete der Weg vor einer Hauswand. Rundherum gab es nur Eingänge zu anderen Häusern, aber keinen Weg weiter voraus. Voller Furcht vor den Verfolgern rannte sie auf die nächstbeste Tür zu und öffnete sie. Erleichtert, daß sie nicht abgesperrt war, schlüpfte sie in den dahinterliegenden Raum und verriegelte den Eingang hinter sich. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Holz und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Währenddessen schickte sie ein Dankesgebet an ihre Göttin. Doch plötzlich flammte eine Fackel in der Mitte des Raumes auf.

»Ich wußte doch, daß ich etwas gehört hatte«, sagte ein junger Mann, der nun vor ihr stand. »Was macht Ihr in meinem Haus, werte Dame?«

»Verzeiht mir, bitte! Ich bin geflohen und sah keinen anderen Ausweg-«

Mit einer kurzen Geste bedeutete er ihr, zu schweigen. »Ich glaube, Eure Verfolger sind bereits hier«, sagte er. »Ich höre sie draußen.«

»Sie werden mich finden!« Mirea lief zu dem kleinen Fenster in einer Wand und blickte auf die Straße hinaus. Furcht schillerte in ihren sonst so friedlichen, hellgrauen Augen – deutlich konnte sie die beiden Männer sehen, die nun an einer Tür nach der anderen klopften, um sie zu finden. »Es wird nicht mehr lange dauern.«

»Ich könnte Euch wohl helfen«, sagte der Mann. »Ich wäre in der Lage, Euch bei mir zu verbergen, damit Ihr nicht gefunden werdet.«

»Würdet Ihr das für mich tun?« Mirea wandte sich mit großen Augen um.

»Unter der Bedingung, daß Ihr mir auch einen kleinen Gefallen tut«, antwortete der Fremde. »Seid Ihr einverstanden?«

»Was für ein Gefallen soll das sein?« fragte Mirea.

Er winkte ungeduldig ab. »Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Entscheidet Euch, schnell. Wenn Ihr wollt, daß ich Euch helfe, dann geht die Treppe hinauf und wartet dort auf mich. Ansonsten steht es Euch frei, mein Haus auf demselben Wege zu verlassen, wie Ihr es betreten habt.«

Mirea brauchte nicht lange zu überlegen. Die beiden Männer würden nicht lange fackeln, sie in irgendein finsteres Verlies zu werfen, während sie mit diesem jungen Kerl vielleicht noch fertig werden könnte. »Also gut, ich nehme Euer Angebot an.« Damit eilte sie an ihm vorbei die schmale Holztreppe hinauf, um sich hinter einer Raumecke zu verstecken.

Korau pochte mittlerweile schon an der achten oder neunten Tür. Hier war hinter einem der Fenster noch leichter Fackelschein zu sehen, also mußten die Bewohner des Hauses noch wach sein. Es dauerte so auch nicht lange, bis jemand den Riegel zurückschob und die Tür öffnete. »Ich wünsche einen guten Abend«, sagte der stämmige Gardist. »Ich bin Korau Gennon, Offizier der Stadtwache.«

»Tharen Rime. Was kann ich für Euch tun?« fragte der junge Mann, der auf der Schwelle stand.

»Nun, Herr. Es ist folgendes: Wir suchen ein Mädchen. Sie ist gerade vor uns geflohen, und hier haben wir sie aus den Augen verloren. Sie wird sich wohl in einem der Häuser versteckt halten. Ihr habt nicht zufällig etwas gehört oder gesehen?«

»Nein, es tut mir leid. Ich war die ganze Zeit über in meiner Schreibstube, um die Abrechnungen meines kleinen Krämerladens auf den neuesten Stand zu bringen. Ich hätte es vernommen, sollte jemand versucht haben, bei mir einzudringen.«

»Dann wollen wir auch nicht weiter stören«, verabschiedete sich der Gardist. »Eine angenehme Nacht noch.«

Tharen schloß die Tür und schob den Riegel wieder an seinen Platz. Dann begab er sich ins obere Stockwerk, um sich das Mädchen genauer anzusehen. Sie mußte wirklich ganz schön verzweifelt sein, wenn sie bereitwillig in irgendein Haus eindrang, um sich zu verbergen. Langsam schritt er die Treppe hinauf. Sie stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt außer Sicht, kam jetzt aber, als sie ihn bemerkte, aus ihrem Versteck heraus. »Sie sind fort«, sagte er. »Ich denke, sie werden Euch hier nicht mehr suchen. Ihr seht, ich habe mich an meinen Teil der Abmachung gehalten. Nun seid Ihr an der Reihe.«

»Was soll ich-« begann Mirea, aber Tharen gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. Dann wies er auf eine der Türen, die von diesem Gang abzweigten. Mirea ging, gefolgt von Tharen, zögernd ein paar Schritte auf den Eingang zu, blieb davor aber wieder stehen. Erst als er ihr ein weiteres Zeichen gab, legte sie ihre Hand auf den Knauf und drehte ihn langsam herum. Mit einem leisen Klicken schnappte die Tür auf, und sie konnte in den Raum dahinter blicken. Das wenige Licht, das in einem unregelmäßigen Fleck am Boden den Raum erhellte, konnte nicht genug enthüllen, um die Einrichtung zu offenbaren. Tharen ging an ihr vorbei, um eine dicke Kerze zu entzünden, die irgendwo an der gegenüberliegenden Wand zu hängen schien. Als sich die Flamme entwickelt hatte, erkannte Mirea, was für einen Raum sie betreten hatte. Wenn Tharen nicht schon wieder hinter sie getreten wäre um die Tür zu schließen, hätte sie sich im selben Augenblick zur Flucht herumgedreht. Die exklusive, fast extravagante Einrichtung konnte das ungute Gefühl, das sie beschlich, nicht dämpfen. In der Mitte des Raumes befand sich ein riesiges, mit verschiedenfarbigen Samttüchern bedecktes Bett. Der Rest des Zimmers bestand aus den typischen Einrichtungen eines Schlafgemachs: ein Kleiderschrank, ein Nachttisch, sowie zwei kleinere Truhen, alles aus edelstem, poliertem Holze gefertigt. Das kleine Fenster, dessen Läden geschlossen waren, versprach auch keinen akzeptablen Fluchtweg. Mirea wurde durch das Geräusch eines sich im Schloß drehenden Schlüssels aus ihren Gedanken gerissen.

Tharen ging an ihr vorbei, zog eine Schublade des Nachtschränkchens auf und legte den Türschlüssel hinein. Dann wandte er sich zu ihr um und blickte sie mit einer beinahe entschuldigenden Miene an. »Habt keine Angst, mein Fräulein. Ich bin ein sehr sanfter Mann, dem nichts mehr zuwider ist, als unnötige Gewalt. Ich verspreche Euch, daß ich, sofern ich nicht dazu gezwungen bin, Euch nichts zuleide tun werde. Wahrscheinlich werdet Ihr mich nun verachten, für das, was ich tue, doch seht auch die Lage, in der ich mich befinde. Mein Geschäft geht gut, doch raubt es mir jede Zeit, mich um eine feste Bindung mit einer Gefährtin zu bemühen. Daher möchte ich Euren Teil unserer Abmachung gerne als eine Art Geschenk sehen, das ich von Euch bekomme.«

»Ihr redet mit glatter Zunge, doch mich könnt Ihr nicht umgarnen! Wenn ich vorher von Eurer Absicht gewußt hätte, wäre es nie zu einer Abmachung gekommen.«

»Und Ihr wäret nun in den Händen der Stadtwache, die Euch wegen eines begangenen oder auch nicht begangenen Unrechts in den Kerker geworfen hätte.«

»Immer noch besser, als sich einem Lüstling wie Euch hinzugeben! Ihr müßt den Verstand verloren haben wenn Ihr glaubt, daß ich-«

»Schreit weiter, und ich werde Euch Euren Wunsch nach einer kalten Zelle auf der Stelle erfüllen. Wären Euch – sagen wir – zweieinhalb Monde bei Wasser und Brot recht? Ich kenne den Hauptmann der Garde recht gut, da ließe sich ziemlich schnell etwas einrichten.« Sein Blick wurde wieder sanfter, als er auf sie zukam. Mirea wich bis an die Tür zurück, die ihr die Flucht versagte. Als sie versuchte, die Kräfte der Natur zur Hilfe zu rufen, spürte sie, daß sie zu weit von Sumus Körper entfernt war, um etwas unternehmen zu können. Tharen stand ihr nun direkt gegenüber und stützte sich mit den Armen rechts und links ihres Kopfes an der Tür ab. »Nun kommt, Mädchen. Seht Ihr denn nicht ein, daß Euch keine Wahl bleibt?«

Mit einer schnellen Bewegung versuchte sie, unter seinen Armen hinwegzutauchen, doch der Mann hatte anscheinend mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet. Er packte sie um die Hüfte und hob sie hoch, ehe sie noch einen Schritt von ihm fort machen konnte. Gegen diese Kraft war sie machtlos. »Also gut, dann werde ich eben etwas rauher werden müssen.« Er trug sein zappelndes Opfer zu dem Bett hinüber und warf es dann in die Kissen. Bevor sie begriff, was geschah, lag er schon auf ihr und hielt ihre Handgelenke fest umklammert. »Bei Rahja«, sagte er mit einer unglaublich sanften Stimme. »Ihr seid selbst im Zorn noch so schön, daß ich keine Worte dafür finde.« Seine Lippen senkten sich auf ihr Gesicht herab, und Mirea wandte den Kopf herum. Sie schloß die Augen und versuchte, sich in den Kissen zu vergraben. Draußen in der Gasse war das jämmerliche Klagen einer Katze zu hören, die um die Häuser strich. Mirea fühlte seinen Atem an ihrer Wange, spürte, wie er ihr Wams öffnete, ohne ihre Arme freizugeben. Sie hätte sich ohnehin kaum noch wehren können, so sehr hatte sie sich verausgabt. Als dann seine Küsse über ihren Körper wanderten, die festen Rundungen ihrer Brüste liebkosten und seine Hände die zarte Haut ihrer Schenkel erforschten, war sie in einen eigenartigen Zustand der Gleichgültigkeit verfallen. Teilnahmslos registrierte sie nur am Rande, wie er ihren Körper benutzte, um seine Lust zu befriedigen. In ihrer Apathie bemerkte sie nicht einmal, wie er erschöpft von ihr herunterglitt und sie liebevoll zudeckte, bevor er sich selbst schlafen legte.

Irgendwann, eine unbekannte Zeit später, kehrte etwas von ihrem Verstand zu ihr zurück. Sie erkannte, wo sie sich befand, konnte sich aber nicht erinnern, was geschehen war. Die Kerze war bereits heruntergebrannt und flackerte nur noch schwach. Mirea schlug die Decke, unter der sie lag, zurück und bemerkte, daß sie unbekleidet war. Ihre Sachen lagen auf einem unordentlichen Haufen neben ihr auf dem Boden. Zu verwirrt, um sich zu wundern, kleidete sie sich an und stand auf. Dann fiel ihr Blick auf die andere Hälfte des Bettes. Der dort schlafende Mann brachte die Erinnerung an die Demütigung zurück, die sie vor wenigen Stunden erfahren hatte. Mit einem Schlag waren all die Gefühle wieder da, die sie in die Lethargie getrieben hatten. Plötzlich fühlte sie sich verletzt und schmutzig, und sie hatte nur den einen Wunsch, sich so schnell wie möglich von diesem verfluchten Ort zu entfernen. Mit einem Ruck zog sie die Schublade des Nachttisches auf und fand dort den Schlüssel. Tränen verschleierten ihre Sicht, als sie versuchte, die Tür zu entriegeln. Laut schluchzend rannte sie die Treppe hinunter, floh wie von Wölfen gehetzt in die morgendlich erhellte Gasse hinaus.

Als sie einen Schrei hinter sich vernahm, wandte sie sich im Laufen um. Die schwarze Katze hielt in vollem Lauf auf sie zu und sprang ihr in die weit geöffneten Arme. Mirea sank auf die Knie, umarmte das Tier, das nun schon seit neun Götterläufen ihr engster Freund war und weinte in sein weiches Fell.

Sie hielt ihre Katze immer noch fest umklammert, als sie nach schier endlosem Umherirren die Stelle erreichte, an der die beiden Gardisten sie aufgehalten hatten. Dort lag im Schatten eines Hauses auch noch ihr Wanderstab, den sie nun aufhob. So schnell sie konnte verließ sie die Stadt Rommilys, mit dem festen Vorsatz, nie mehr im Leben eine Stadt zu betreten.

Bis zur Abenddämmerung wanderte sie ohne anzuhalten immer in eine Richtung. Schließlich stieß sie auf einen schmalen Fluß, der vor ihr im schwindenden Licht der Praiosscheibe glitzerte. An seinem Ufer hielt sie an und streifte sich ihre Kleider vom Leib. Sie stieg in das kalte Wasser und begann sich zu waschen. Immer wieder tauchte sie unter, um die Schande von ihrem besudelten Körper zu schrubben. Doch Wasser schien nicht genug zu sein, um diese Demütigung fortzuspülen. Als sie endlich herauskam brannte ihre Haut wie Feuer, so sehr hatte sie sich mit dem Sand des Flußbettes abgerieben. Der Wind strich unangenehm kalt um ihren entblößten Körper und verursachte ihr eine Gänsehaut. Dennoch stand sie mehrere Minuten lang fröstelnd da und blickte zu den fernen Lichtern der Stadt zurück. Ihr langes, rotes Haar klebte feucht auf ihrer Haut. Schließlich verließ sie ihre Kraft, und sie sank ins Gras. Mit letzter Anstrengung zog sie sich ihren Mantel über, um vor den beißenden Zähnen des Windes geschützt zu sein.

Der nächste Morgen begann für sie mit einer Überraschung. Zwei Rebhühner, die durch Nackenbisse getötet worden waren, lagen vor ihr im Gras. Daneben schlief – zu einer Kugel zusammengerollt – der schwarze Kater. Dankbar bereitete Mirea sich, nachdem sie sich angekleidet hatte, ihr Frühstück und vergaß auch nicht, ihrem Freund seinen Anteil übrigzulassen. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie gewesen war. Irgendwann im Laufe des Vormittags brach sie dann auf, um sich eine neue Heimstatt im nahen Wald zu suchen, der am Fuße der hoch aufragenden Trollzacken wuchs.

*

Schweigend hockte das hübsche, rothaarige Mädchen im Laub und lauschte. Sie hatte einen glatten Holzstab in ihrer rechten Hand, den sie am ausgestreckten Arm hielt. Die Finger der linken waren auf die Erde gestützt, die Kuppen leicht in den weichen Waldboden gegraben. Sie hatte die Augen geschlossen und sich seit mehr als zehn Minuten nicht bewegt. Ihr Gesicht würde einem zufälligen Beobachter konzentriert und angespannt, aber auch gelöst vorkommen. Langsam nahm sie einen tiefen Atemzug nach dem anderen, selbst ganz ein Teil des dichten Waldes, der sie umgab. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, die Sprache der Natur zu verstehen, ihre Schwingungen und das unhörbare Flüstern zu deuten. Im Augenblick störte nichts die Stille. Im Wald herrschte tiefer Frieden.

Zögernd, als fürchte sie, den Kontakt zu schnell abzubrechen, richtete sie sich auf und hob langsam die Lider. Ihre klaren, grünen Augen glitzerten lebenslustig im Licht des frühen Morgens. Nachdem sie sich eine Weile umgesehen hatte, setzte sie ihren Weg durch den Wald fort, der seit sie denken konnte ihre Heimat war. Mirea und sie bewohnten eine einfache Holzhütte, in der Nähe eines plätschernden Baches, der sich in unregelmäßigen Kurven durch das Gehölz schlängelte. Ihr ganzes Leben lang – sie erlebte nun ihren fünfzehnten Sommer – waren diese vier Wände ihr Zuhause gewesen, und immer war Mirea an ihrer Seite gewesen. Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt. Zwar hatte sie ab und an nach ihm gefragt, doch Mirea wurde dann immer sehr schweigsam und abweisend, also hatte sie es schließlich aufgegeben. Wozu brauchte sie auch einen Vater?

Ein Rascheln im Gebüsch erklang, und Yeni war wieder mit allen Sinnen bei der Jagd. Etwa zwanzig Schritt vor ihr waren zwei Rotpüschel in eine Balgerei verwickelt. Lautlos nahm sie ihren kleinen Bogen von der Schulter und legte mit geschickten Bewegungen einen Pfeil auf die Sehne. Eines der Tiere hielt einen Augenblick inne und schnupperte. Yeni hatte sich gegen den Wind gehalten, daher wandte das Tier seine Aufmerksamkeit wieder dem Rivalen zu, der anscheinend so unverschämt gewesen war, sich an sein Weibchen heranzumachen. In den Monden vor der Jahreswende fanden sich viele solcher kleiner Streitereien, angefacht von den starken Gefühlen des Frühlings, die keinen der Waldbewohner verschonten.

Solcherlei Gedanken waren Yeni allerdings im Augenblick völlig fremd. Sie ließ sich Zeit, zielte und ließ den Pfeil fliegen. Wie jedesmal schickte sie auch jetzt ein Stoßgebet an Firun und gleichzeitig eine leise Bitte um Vergebung an Tsa. Dann traf das Geschoß sein Ziel, und ein kurzer, schriller Schrei beendete das Leben eines der Rotpüschel. Das andere floh mit blitzartigen Sprüngen ins Unterholz. Yeni erhob sich, um sich das erlegte Tier zu holen. Sie zog den Pfeil aus dem Körper heraus und wischte ihn im Laub sauber. Glücklicherweise war die Spitze heil geblieben, so mußte sie sich nicht wieder abmühen, die scharfe Metallschneide – die zudem noch sündhaft teuer war – auf dem Schaft zu befestigen. Sie besah sich den Kadaver und beglückwünschte sich in Gedanken. Ein sauberer Schuß, nur wenig des kostbaren Fells war beschädigt. Das würde ihr beim Händler einen stattlichen Preis erbringen. Ihre Mutter mochte noch so sehr auf die Natürlichkeit des Lebens pochen, aber es gab einige Dinge, die sie aus der Welt der Stadtmenschen nicht mehr missen wollte.

Als Yeni zur Hütte zurückkehrte, baumelte ein weiteres Rotpüschel an einer Schnur von ihrem Wanderstab herab. Sie lächelte bei dem Gedanken an ein festliches Abendessen, das sie sich gönnen würden. Sie öffnete die Tür und betrat die Wohnküche. Ein wohliger Duft nach Kräutern und Gewürzen stieg ihr in die Nase. Mirea stand an der Kochstelle und rührte in einem Kessel, der offensichtlich eine Kräutersuppe enthielt, die sie für sich und ihre Tochter zum Frühstück bereitet hatte.

»Yeni, mein Kind. Du bist zurück? Und du bringst Beute mit? Das ist sehr gut, wirklich.« Sie probierte vorsichtig das heiße Gebräu und nickte zufrieden mit dem Kopf. »Gib sie mir, ich werde sie ausweiden. Nimm dir einen Becher Suppe, ich setze mich gleich zu dir.« Yeni reichte ihrer Mutter die erlegten Tiere, die schlaff ihre Löffel hängen ließen. Dann ließ sie sich mit ihrer Suppe am Tisch nieder und aß langsam die dampfend heiße Speise.

Die Praiosscheibe hatte ihre Himmelsfahrt nahezu vollendet, als es einmal kurz an der Tür klopfte. Mirea war gerade damit beschäftigt gewesen, das Fell eines der Rotpüschel abzuschaben. Yeni saß am Tisch und flickte einige Löcher ihres Jagdgewandes. Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß jemand die Tür auf. Draußen stand ein grobschlächtiger Mann Mitte dreißig, der völlig erschöpft zu sein schien. An seiner Seite lehnte ein junger Bursche, der seinen Arm um die Schultern des älteren gelegt hatte. Der andere Arm schlang sich krampfhaft über seinen Bauch, das Gesicht war aschfahl. »Verzeiht, meine Damen. Ich und mein Begleiter brauchen Eure Hilfe. Wir wurden bei der Jagd von einem wütenden Kaiserhirsch angefallen. Elrin hat es schlimm erwischt.«

Yeni war sofort aufgesprungen, als sie den Zustand des Jungen bemerkte, und auch Mirea ließ ihre Arbeit liegen. Die beiden Frauen hatten schon mehr als einmal einem ungeschickten Jäger oder einem verletzten Wanderer geholfen. Ohne es zu wissen, waren sie dabei zu einer Art Mythos in der naheliegenden Stadt geworden, der von zwei Heilerinnen sprach, die jedem gut gesonnen waren, der sie ebenfalls gut behandelte. Sie mischten auch Tränke und tauschten Kräuter gegen Stoffe. Hin und wieder setzten sie auch ihre besonderen Fähigkeiten ein, wenn eine Krankheit oder Verletzung dies erforderte, aber stets so, daß niemand es bemerkte. Yeni hatte von Mirea gelernt, ihre Kräfte richtig anzuwenden, damit sie immer im Sinne von Hesinde und Satuaria handelte. Durch ihre besondere Beziehung zur Natur und deren Gleichgewicht fiel es ihr nicht schwer, die Energie in die erforderlichen Bahnen zu lenken. Und sie verstand nur zu gut, warum sie niemandem ihre wahren Fähigkeiten zeigen durfte.

Kaum hatten Mirea und Yeni die beiden Männer erreicht, als der jüngere plötzlich zusammenbrach und von Yeni aufgefangen wurde. Mirea stützte seinen Begleiter, der selber eher erschöpft als verletzt war. Yeni bettete ihren Patienten auf eine Liege, die in einer Ecke des Wohnraumes stand. Elrin – so hatte der andere den Jungen genannt – hatte anscheinend das Bewußtsein verloren, denn der Arm, der zuvor die Bauchwunde verdeckt hatte, hing nun schlaff herunter. Schnell riß Yeni das ohnehin zerfetzte Hemd vollends auseinander und schätzte das Ausmaß der Verletzung ab. Es war eine schlimme Wunde: Der Hirsch hatte ihn frontal mit dem Geweih erwischt, und eines der Enden war durch die Bauchdecke gedrungen. Es war klar zu sehen, daß der Blutverlust schon sehr hoch war. Mirea, die dem besorgten, älteren Mann einen Becher heißen Kräutertees gegeben hatte, reichte ihrer Tochter die Utensilien, die sie für ihre Arbeit benötigte. Dabei schirmte sie die Blicke des anderen Mannes so geschickt ab, daß er nicht genau erkennen konnte, was Yeni tat.

Das Mädchen erkannte deutlich, daß der Junge kaum eine Überlebenschance hatte, wenn sie nicht zu ihren besonderen Fähigkeiten griff. Nach einem kurzen Seitenblick auf ihre Mutter, die ihr zustimmend zunickte, konzentrierte sie sich. Sie benetzte einen Finger und berührte damit das verletzte Fleisch; dann ließ sie ihre Kraft fließen. Sofort spürte sie, wie ein Schaudern durch den Körper des Verwundeten ging, und sie wußte, daß ihre Behandlung Erfolg haben würde. Sie legte einen Kräuterumschlag auf die Verletzung und wickelte einen Verband darum, damit die Wunde sich nicht entzünden konnte. Schließlich bedeckte sie ihn mit einem Wollumhang und wandte sich ihrer Mutter zu, die mit dem älteren Mann in ein Gespräch vertieft war.

»Wir waren schon einen Tag lang erfolglos unterwegs gewesen«, sagte der Mann namens Helbek gerade. »Firun schien uns nicht wohlgesonnen gewesen zu sein, jedenfalls fanden wir nicht einmal die Spur eines Tieres. Ich sagte noch zu Elrin, daß wir die Jagd besser bleiben lassen sollten, doch er wollte unbedingt noch einen weiteren Tag im Wald bleiben. Er war überzeugt, dann mehr Glück zu haben. Und zuerst sah es auch so aus, als wir diese Rehkuh auf der Lichtung bemerkten. Leider hatten wir nicht damit gerechnet, einen männlichen Vertreter dieser Gattung anzutreffen. Ich sah zu spät, wie er auf uns zugerannt kam. Ich verstehe immer noch nicht, warum er dies tat. Normalerweise hätte er die Flucht ergriffen. Wie dem auch sei, er griff uns eben an und erwischte den armen Elrin mit seinem Geweih, bevor er durch die Büsche verschwand! Ich dachte schon, es wäre um den Jungen geschehen, als er so reglos am Boden lag. Dann aber erinnerte ich mich, daß man sich in der Stadt von zwei Heilerinnen erzählte, die am Bach lebten. So habe ich dann zu Euch gefunden.« Er unterbrach seinen Redefluß, als er bemerkte, daß Yeni sich ebenfalls an den Tisch gesetzt hatte. »Was wird nun aus ihm? Wird er durchkommen?«

»Er hat eine Menge Blut verloren, aber er wird genesen«, erklärte Yeni. »Ihr habt recht daran getan, sofort zu uns zu kommen. Wenig später hätten wir nichts mehr für ihn tun können.«

»Er wird es überstehen? Praios sei gepriesen!« In seinem Eifer bemerkte er nicht, wie die Frauen leicht zusammenzuckten. Die Erwähnung des Sonnengottes, der die Magie verabscheute, bereitete ihnen Unbehagen. »Ich war ja so in Sorge um den armen Elrin. Was hätte ich seinem Vater sagen sollen, wenn...« Mirea gab Yeni durch eine Geste zu verstehen, daß sie ihr ein bestimmtes Fläschchen bringen sollte. Sie goß etwas von seinem Inhalt in Helbeks Becher und bot ihn ihm an. Dankbar nahm er einen langen Zug und setzte dann sein aufgeregtes Geplapper fort. »Der Herr wird glücklich sein, wenn wir erst wieder in Rommilys sind. Er hängt sehr an seinem Sohn, weil er so gescheit ist und all die Dinge lernen will, die ihm sein Vater beibringen kann. Allerdings ist er etwas temperamentvoller.« Für einen Augenblick stockte Helbek, als würde er seine Gedanken ordnen. »Was wollte ich sagen? Da hab' ich doch glatt den Faden verloren.« Noch einmal blickte er verdutzt in die kleine Runde, dann sank sein Kopf auf die Tischplatte.

»Gut so, jetzt wird er erst einmal schlafen«, kommentierte Mirea. »Der hätte sonst absolut keine Ruhe mehr gefunden. Er sorgt sich sehr um seinen Freund.« Sie bedeutete ihrer Tochter, dem Mann ein Lager zu bereiten. Später sah Yeni noch einmal nach Elrin, wechselte den Verband und tupfte ihm mit einem kühlen Lappen die Stirn ab. Dabei fiel ihr das sanfte Gesicht auf, das er besaß. Seine Augen waren geschlossen, und Yeni hätte in diesem Moment eine Menge dafür gegeben, sie offen zu sehen.

Am nächsten Morgen erwachte Yeni noch vor ihrer Mutter. Sie richtete sich in ihrem Bett auf und spähte in die Dunkelheit. Ein schmaler Spalt dunkelblauen Lichtes am Fenster verriet ihr, daß es bereits zu dämmern begann. Es kam nicht oft vor, daß Mirea länger schlief als ihre Tochter; meist arbeitete sie schon im Garten oder bereitete Tränke und Mixturen zu. Leise stand Yeni auf und zog sich an. Dann öffnete sie die Tür und ging in den Wohnraum, wo sie das gleichmäßige Atmen der beiden Schläfer hörte. Sie entzündete eine Kerze und ließ sich neben Elrins Lager nieder, um zu sehen, wie es ihm ginge. Er hatte immer noch leichtes Fieber, aber auf seinem Gesicht lag nicht mehr die Anspannung, die gestern noch sichtbar gewesen war. Im Licht der kleinen Flamme haftete ihm etwas Besonderes an; ohne daß Yeni einen Grund dafür finden konnte, fühlte sie, wie eine Anziehungskraft von ihm ausging. Behutsam hob Yeni ihre Hand, um eine lange, dunkelblonde Strähne aus seinem Gesicht zu streifen. Im selben Moment öffnete er die Augen.

Es durchfuhr sie wie ein Blitz. Der Blick des Mannes zog sie an, er saugte sie ein, umhüllte sie. Wie ein grauer Teich in der Morgensonne schimmerte die Iris, in der Yeni langsam versank. Zuerst suchte sie verzweifelt Halt, doch dann ließ sie es geschehen. Unbeschreibliches Wohlbefinden breitete sich um sie herum aus, bis sie völlig wehrlos in seinen Augen gefangen war. Es war, als würde sein Blick sie fesseln, sie spürte förmlich, wie er sie ansah.

Das Erlebnis dauerte nur wenige Sekunden, doch Yeni hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit lang in diese Augen zu starren. Dann bemerkte sie, wie Elrin ihre Hand berührte. Erschrocken sprang sie auf, wirbelte herum und stürzte aus dem Haus.

Die morgendliche Luft duftete nach frischem Tau und letztjährigem Laub. Die Strahlen der gerade aufgegangenen Praiosscheibe fielen durch das Blätterdach des Waldes, und man konnte ihren Weg im feinen Dunst genau verfolgen, bis sie den Waldboden als helle Lichtflecke erreichten. Yeni lief einige Minuten lang einfach nur geradeaus, bevor sie stehenblieb und nachzudenken begann. Was hatte der junge Mann mit ihr angestellt? Es war schon früher vorgekommen, daß Mirea und sie Patienten in Yenis Alter behandelt hatten, doch nie zuvor war etwas Vergleichbares geschehen. Selbst jetzt noch, da sie eine ganze Strecke von der Hütte entfernt war, spürte sie immer noch die beinahe faßbaren Blicke der Augen des Mannes. Sie war so verwirrt, daß sie vergaß, nach Kräutern oder Wurzeln Ausschau zu halten. Als sie sich dann wieder an ihre morgendliche Aufgabe erinnerte, konnte sie sich nur sehr schwer darauf konzentrieren. Schließlich kehrte sie – nicht ohne ein flaues Gefühl im Magen – zur Hütte zurück.

Als sie den Wohnraum betrat, war Mirea ebenfalls aufgestanden. Sie hatte das Feuer wieder angefacht und einen kleinen Kessel voller Wasser darübergehängt. Sie ließ noch ein paar Kräuter aus einem irdenen Gefäß hineinfallen, dann wandte sie sich zu ihrer Tochter um. »Guten Morgen, Kleines. Wie ich sehe, warst du bereits im Wald. Was hast du mitgebracht?«

»Kräuter, Mutter. Wurzeln und ein paar Pilze. Ich dachte mir, wir könnten eine kräftigende Suppe für unseren Patienten daraus kochen.«

»Ich fühle mich aber auch jetzt schon viel kräftiger«, ließ sich eine männliche Stimme vernehmen. »Wie Ihr das auch immer gemacht habt, Ihr habt es gut gemacht.« Elrin hatte sich halb erhoben und blickte die beiden Frauen an.

Erschrocken fuhr Yeni herum. »Ich hatte Euch nicht gesagt, daß Ihr euch aufrichten dürft!«

»Schon, aber seht Euch meine Wunde an! Selbst jetzt, da der Verband noch da ist, sehe ich, daß die Blutung gestillt ist. Außerdem halten sich die Schmerzen mittlerweile in Grenzen. Alles, was mir im Moment Kummer bereitet, ist mein Magen: Er knurrt besorgniserregend.«

Mirea lachte. »Ich denke, von dieser Krankheit können wir Euch wohl sehr schnell kurieren.« Sie ging zu dem dampfenden Kessel und füllte etwas von seinem Inhalt mit einem Schöpflöffel in einen Becher. »Doch zuvor solltet Ihr dies trinken. Es ist ein Kräutertee, der Eure Sinne beleben wird.« Sie schenkte sich und ihrer Tochter ebenfalls einen Becher ein, und gemeinsam nahmen sie einen Schluck. Sofort breitete sich in ihnen ein Gefühl der Befreiung aus. Ihre Lungen schienen auf die doppelte Größe anzuwachsen, bis sie alle frei durchatmen konnten. Helbek erwachte nun ebenfalls und bekam gleich darauf von Yeni einen Becher Tee. Danach machte sie sich daran, in einem größeren Kessel ihre gesammelten Kräuter zusammen mit den Pilzen zu einer kräftigen Suppe zu kochen. Als zusätzliche Einlage tat sie noch etwas Rotpüschelfleisch dazu, das sie vom gestrigen Tag übrigbehalten hatten.

Beim Essen vermied es Yeni, in Elrins Richtung zu blicken. Sie befürchtete, daß etwas Ähnliches wie vorhin geschehen würde. Es war zwar nicht wirklich schlimm gewesen – im Gegenteil – aber Yeni hatte Angst, ihre Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Bisher war sie immer Herr ihrer Sinne gewesen, sie glaubte, nichts könne sie aus der Fassung bringen. Der Kontakt am Morgen aber hatte sie eines Besseren belehrt. Er war attraktiv, etwa so alt wie sie selbst. Der schlanke Körperbau konnte nicht über die Kraft hinwegtäuschen, die in ihm stecken mußte. Seine Muskeln waren gut trainiert, auch wenn sie nicht so übertrieben wirkten, wie die einiger anderer Männer, die sie schon gesehen hatte. Das dunkelblonde Haar, das ihm gestern noch unordentlich im Gesicht gehangen hatte, war nun mit einem schmalen Stoffstreifen gebändigt worden. Seine Kleidung und auch seine Aussprache ließen erkennen, daß er nicht von einem Hof oder aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Vielmehr verhielt er sich gemäß den Regeln der Gastfreundschaft und Etikette, was in ihrem bescheidenen Heim recht ungewöhnlich wirkte. Helbek dagegen war rustikaler, wenn auch nicht unfreundlich. Er strahlte – jetzt, da er seinen Freund wohlauf wußte – eine einfache Heiterkeit aus, die man nur selten fand. Außerdem plapperte er fast ununterbrochen. Begeistert nahm er Mireas Vorschlag auf, etwas von den Ländern außerhalb des Waldes zu erzählen, da sie sonst nicht viele Nachrichten erreichten. Er berichtete von den letzten Ereignissen, den Festen und auch den weniger angenehmen Sachen, die der Stadtbevölkerung bekannt waren. Yeni hörte aufmerksam zu. Anders als ihre Mutter hatte sie diese fremde Welt nie selbst kennengelernt; sie war neugierig, wie es dort wohl zugehen mochte. Aber aus Treue zu ihrer Mutter (und auch aus Furcht vor dem Unbekannten) war sie nie weiter fortgegangen, als bis zum nächsten Dorf.

Die Gespräche und Erzählungen währten bis zum späten Abend. Elrin war zwischenzeitlich zweimal eingeschlafen, anscheinend war er noch nicht so kräftig, wie er angenommen hatte. Dennoch bestand Helbek darauf, daß er und sein Freund am nächsten Morgen in die Stadt zurückkehren würden. Yeni sollte sie, so weit es erforderlich war, begleiten. »Der Herr wird sich Sorgen machen«, erklärte der Mann. »Und ich glaube, wir haben Eure Heilkunst und Gastfreundschaft nun schon weit über Gebühr strapaziert.« Selbst als Mirea und Yeni entschieden protestierten, blieb Helbek bei seiner Entscheidung. Yeni fühlte sich etwas unbehaglich, sagte aber nichts.

Als sie aufbrachen war der Tau von den Blättern bereits verschwunden. Abwechselnd stützten Yeni und Helbek den verletzten Jungen, während sie den Wald in Richtung der Stadt durchquerten. Es war ein anstrengender Weg, daher sprachen sie nur wenig. Yeni half Elrin so gut sie konnte, doch sie vermied es weiterhin, ihm in die Augen zu blicken. Statt dessen versuchte sie, Kräuter, Wurzeln oder Beeren zu erspähen, die sie bei ihrer Rückkehr zur Hütte einsammeln konnte. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht ganz von ihm abwenden. Sicher, er war sehr charmant und wußte seine Worte wohl zu wählen, doch das allein konnte nicht der Grund dafür sein, daß er sie so in seinen Bann gezogen hatte. Sie kannte dieses Gefühl, aber bisher hatte sie es nur einem Menschen gegenüber empfunden: ihrer Mutter. Diese Erkenntnis erschreckte sie so sehr, daß sie einen Augenblick stehenblieb und ihre Gedanken ordnen mußte.

»Was ist mit Euch?« fragte Helbek. »Habt Ihr etwas gesehen?«

»Nein«, sagte Yeni nach kurzem Zögern. »Ich habe nur so ein Gefühl...« Und das war noch nicht einmal gelogen.

»Dann laßt uns keine Zeit verlieren«, sagte Elrin atemlos. »Wenn eine Frau der Wälder sich unwohl fühlt, ist Gefahr nicht weit.«

Yeni beschloß, nichts weiter zu sagen.

Die Praiosscheibe hatte sich bereits dem westlichen Himmel zugeneigt, als der Waldrand in Sicht kam. Yeni war bisher immer nur in dem angrenzenden Dorf gewesen, aber so weit hatte sie sich noch nie von ihrer Hütte entfernt. Wenn sie die Stadt nicht bald erreichten, würde sie im Dunklen nach Hause gehen müssen. Zu ihrer Erleichterung wies Helbek zum Horizont, wo sie nun einige Steinbauten erkennen konnte.

»Dort liegt Rommilys, wertes Fräulein«, sagte er. »In weniger als zwei Stunden werden wir da sein.«

»Dann werde ich mich jetzt auf den Rückweg machen«, sagte Yeni. »Es wird dunkel, und ich möchte nicht zu spät zu Hause sein.«

»Ihr wollt zurück? Aber ich dachte-«

»Ihr werdet auch ohne mich Eure Stadt erreichen«, entgegnete sie. »Ich selbst gehöre hierher. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich in den nächsten Tagen wieder aufsuchen; dann werde ich mir die Wunde noch einmal ansehen, obwohl ich sicher bin, daß sie gut verheilen wird. Bitte versucht mich nicht zu überreden, mit Euch zu kommen. Ich darf Mutter nicht zu lange warten lassen, sie wird sich sonst fragen, wo ich bleibe.«

»Wenn dies Euer Wille ist, kann ich nichts dagegen sagen. Aber es wäre mir wohler, wenn ich Euch bei mir hätte.« Helbek verbeugte sich. »Lebt wohl, Heilerin des Waldes. Es hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen.«

Yeni lächelte und wandte sich zum Gehen. Sie zwang sich, nicht zurückzublicken, damit sie es sich nicht doch noch anders überlegte. Erst als sie den vertrauten Schatten des Waldes betreten hatte, wich das Verlangen, die weiten Lande mit eigenen Augen zu sehen, von ihr. Sie blieb stehen und atmete die frische Abendluft ein.

Nur wenige Sekunden später hörte sie Elrins Stöhnen und Helbeks Ruf: »Kleine Herrin! Kommt zurück, bitte!« Sofort wandte sie sich um und eilte aus dem Schutz der Bäume heraus auf die Wiese. Helbek kniete am Boden neben Elrin, der schwer atmend im Gras lag; seine Stirn war schweißbedeckt. »Er ist plötzlich zusammengebrochen«, sagte Helbek besorgt. »Und dabei ging es ihm gerade eben noch so gut.« Yeni konnte sich die Situation ebenfalls nicht erklären. Sollte ihre Kraft versagt haben? Sie war sicher, die Heilung gespürt zu haben, außerdem war sie selbst jetzt noch immer nicht im Vollbesitz ihrer astralen Kräfte. Warum also dieser Schwindelanfall?

»Helft mir«, stöhnte Elrin. »Bitte, nehmt die Kälte von mir. Gebt mir meine Kraft zurück.«

Yeni ließ sich neben ihm nieder, doch bevor sie etwas unternehmen konnte, hatte Helbek seinen Freund bereits hochgehoben. »Wir sollten uns so schnell wie möglich in die Stadt begeben«, beschloß er. »In seiner Kammer könnt Ihr ihn dann untersuchen.«

Yeni wollte protestieren, aber Helbek stapfte schon davon. »Wie soll ich dann nach Hause kommen?« fragte sie, während sie mit dem großen Mann Schritt zu halten versuchte. »Mutter wird sich sorgen.«

»Der Herr wird Euch mit Sicherheit ein Nachtlager zur Verfügung stellen. Eure Mutter wird schon wissen, was geschehen ist. Jetzt geht es erst einmal um Elrins Leben.«

Unglücklich folgte sie ihrem Begleiter. Es war richtig, daß sie Elrin helfen mußte. Wahrscheinlich stimmte seine Behauptung, sein Herr würde für sie sorgen, ebenfalls. Aber Mirea war nicht so unbekümmert wie Helbek. Sie hatte schon immer besonders auf Yeni achtgegeben. Aus irgendeinem Grund hatte sie Angst – so schien es Yeni zumindest – daß ihr etwas zustoßen könnte. Immer, wenn sie von der Kräutersuche etwas später heimkam, fand sie ihre Mutter ungeduldig am Tisch sitzend vor, obwohl sie normalerweise längst zu Bett gegangen wäre. Jedoch war es nie zuvor geschehen, daß Yeni über Nacht gar nicht nach Hause gekommen war. Mirea würde furchtbar besorgt sein. Wenn sie Helbek vielleicht... Nein, sie wußte ja nicht, wo Elrin lebte, und sie konnte ihn gewiß nicht bis dorthin tragen. Zu allem Unglück hatte sie auch noch ihren Stab zu Hause vergessen. Mit ihm wäre es ein Leichtes gewesen, schnell zur Hütte zu eilen und ihre Mutter zu informieren. So aber blieb ihr nichts anderes übrig, als Helbek zu folgen und zu hoffen, daß sich ihre Mutter nicht zu düstere Gedanken machte. Wenigstens hatte sie ihre kleinen Beutel nicht vom Gürtel genommen.

Die Tore der Stadt Rommilys waren verschlossen, aber auf ein Wort von Helbek hin öffnete einer der Wachposten eine kleine Tür, die sich innerhalb des großen, rechten Torflügels befand und ließ sie hinein. Beinahe sofort überkam Yeni ein Gefühl, als würde sie eingesperrt. Die Mauern ragten links und rechts hinter ihr auf und versperrten ihr die Sicht auf die Landschaft. Vor sich sah sie nichts als Häuser aus Stein und Holz, die sich dicht aneinanderdrängten, als suchten sie ängstlich beieinander Schutz vor der Dunkelheit. Und dunkel war es in der Tat. Das Madamal hatte sich hinter dicken Wolken versteckt, die Regen, wenn nicht gar ein Gewitter versprachen. Am liebsten wäre Yeni angesichts dieser abstoßenden Umgebung sofort umgekehrt. Selbst das kleine Dorf, das sie sonst gelegentlich besucht hatte, kam ihr schon eng und wie eine Falle vor, dabei hatte es nicht einmal Mauern. Elrin zuliebe beherrschte sie sich, holte ein paarmal tief Luft und folgte Helbek, der sich zielsicher durch die vielen verschlungenen Straßen bewegte. Das Mädchen hatte längst alle Orientierung verloren.

Sie hatte keine Ahnung, wie Helbek sich hier, wo eine Straße der anderen glich, überhaupt zurechtfand, doch dann blieb er stehen und klopfte an die Tür eines steinernen Wohnhauses. Es verging nur wenig Zeit, bis drinnen eine Fackel oder Lampe entzündet wurde und die Tür sich öffnete. Auf der Schwelle stand ein etwa vierzig Götterläufe zählender Mann, der ein Talglicht hielt. Der Zustand seiner Kleidung und sein Gesichtsausdruck zeigten, daß er wohl geschlafen hatte. »Helbek!« rief er erstaunt aus. »Was ist geschehen? Warum seid ihr erst jetzt zurück?« Dann fiel sein Blick auf den reglosen Körper in Helbeks Armen. »Großer Praios! Elrin!«

Yeni wich bei der Erwähnung des Sonnengottes einen Schritt zurück. Mirea hatte ihr alles über die Götter erzählt, wie sie die Geschicke der Welt Dere von ihrem Sitz in Alveran lenkten. Daher wußte Yeni, wie sehr Praios die Magie verabscheute. Erst als Helbek und der andere Mann Elrin schließlich hineintrugen, fand sie den Mut, das Haus zu betreten. Sie bückte sich, um das Talglicht aufzuheben und schloß dann die Tür hinter sich.

Helbek und der Hausherr betteten den Kranken auf das weiche Sofa, das zusammen mit mehreren anderen Möbelstücken in dem gut eingerichteten Zimmer stand. Dann breitete Helbek eine Decke über ihn aus. Währenddessen war Yeni völlig unbeachtet geblieben. Sie hatte den älteren Mann beobachtet, hatte gesehen, mit wieviel Liebe und Zuneigung er Elrin ansah. Sie forschte in seinem Gesicht nach Ähnlichkeiten, aber es gab so gut wie keine. Tharen war recht klein, dunkelhaarig und besaß scharfkantige Gesichtszüge. Elrin war beinahe das genaue Gegenteil. Seine dunkelblonden Haare harmonierten mit einem ebenmäßigen Antlitz, dessen sanfte Ausstrahlung sie nun schon so oft beeindruckt hatte. Sein Vater hatte solche Gefühle nicht in ihr geweckt. Eine merkwürdige Ausstrahlung ging von Tharen aus, doch sie konnte nicht bestimmen, worauf sich dieser Eindruck gründete. Dann wandte er sich von seinem Schützling ab und sah Yeni direkt an. »Helbek, wer ist deine Begleiterin?«

»Tharen, das ist Yeni, die Tochter der Waldheilerin.« Er sagte das so selbstverständlich, als würde man sie hier landauf, landab, kennen.

Doch anscheinend traf dies nicht zu. »Welcher Heilerin?«

»Nun sag bloß, du warst in deine Geschäfte so versunken, daß du nichts von ihr gehört hast? Sie lebt schon eine geraume Zeit in dem Wald, vier Wegstunden von hier entfernt. Sie und ihre Tochter helfen Menschen, die in Not geraten sind oder sich eine Wunde zugezogen haben. Nach diesem schrecklichen Vorfall mit dem Hirsch bin ich gleich zu ihnen gegangen, und sie haben sich seiner angenommen.«

»Ach so, dann verdanke ich Euch also das Leben meines Sohnes?« Er verbeugte sich vor Yeni. »Ich möchte mich für Eure Mühe bedanken. Ich weiß nicht, was ich anfangen sollte, wäre er gestorben. Mein Name ist Tharen Rime. Ich besitze hier in der Stadt ein kleines Geschäft, mit dem ich mir meinen Lebensunterhalt verdiene.« Mit einer Hand bot er ihr einen Platz an seinem Tisch an. »Ich weiß nicht, warum. Aber irgendwie kommt Ihr mir bekannt vor, junges Fräulein. Ihr erinnert mich an jemanden, den ich vor zehn, vielleicht fünfzehn Götterläufen kurzzeitig gekannt habe.«

»Herr, vor so langer Zeit war ich nicht mehr als ein kleines Kind am Busen meiner Mutter. Ihr müßt mich mit jemanden verwechseln.« Doch auch sie konnte sich eines ähnlichen Gefühles immer noch nicht erwehren.

»Das denke ich auch. Es ist nur diese faszinierende Ähnlichkeit, die mich auf solche Gedanken kommen läßt.« Abrupt wechselte er das Thema. »Was ist mit Elrin? Welches Siechtum plagt ihn?«

»Wundfieber«, antwortete Yeni. »Das, oder er hat sich etwas schlimmeres zugezogen, das ich allerdings noch nicht bestimmen kann. Ich werde ihm gleich einen kalten Kräuterwickel machen, der dann alle zwei Stunden gewechselt werden muß.«

»Ich möchte Euch darum bitten, daß Ihr Euch um ihn kümmert. Euer Wissen übersteigt das meine wahrscheinlich um ein Vielfaches. Helbek wird Euch hier ein Lager bereiten, wenn Ihr einverstanden seid.« Wenig später hatten die beiden Männer ihr eine Liege und warme Decken besorgt, dazu eine Menge Tücher und einen Zuber mit klarem Wasser. Schließlich entschuldigten sie sich, um endlich ihren Schlaf zu bekommen. Ein weiteres Talglicht stand auf dem Tisch und erleuchtete einen geringen Teil des Raumes. Yeni setzte sich auf einem Stuhl neben dem Lager hin.

»Bei Phex, ich dachte schon, die würden nie verschwinden.« Yeni erschrak, als sie plötzlich die Stimme des jungen Mannes vernahm. Er schlug die Augen auf und blickte sie an. »Beinahe hätte ich es nicht mehr ausgehalten.«

»Ihr wart gar nicht ohnmächtig?« Yenis überraschter Gesichtsausdruck wandelte sich in Skepsis.

»Oh, ich bin schon kurzzeitig nicht bei mir gewesen. Aber ich vermute, das liegt an dem hohen Blutverlust. Ich wollte einfach nicht, daß Ihr alleine zurück durch den Wald laufen müßt. Wir haben hier genug Platz, warum solltet Ihr also des nachts herumgeistern?«

»Ihr habt mich belogen, mir etwas vorgespielt.« Entrüstet verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Eigentlich sollte ich Euch jetzt böse sein.«

»Böse ist nur, was so gemeint«, erwiderte Elrin. »Ich hatte dabei keinerlei üble Absicht. Ich wollte einfach nur in Eurer Nähe sein.«

»Und dazu bringt Ihr mich meilenweit von meinem Zuhause fort, wo sich meine Mutter nun wohl schon die schlimmsten Gedanken macht?«

Elrin grinste. »So manche List muß ein Mann auf seinem Weg zum angestrebten Ziel anwenden.«

»Und was ist Euer Ziel?«

»Zuerst einmal, daß ich die Schmerzen loswerde, die mich seit heute mittag plagen.« Er schob die Decke zurück und entblößte seinen Bauch. Die deutlich sichtbare Narbe hatte sich an einigen Stellen entzündet, was wohl für die beschriebenen Leiden verantwortlich war.

Yeni legte einen Finger auf das heilende Gewebe und befühlte die rauhe Oberfläche. Dann legte sie ihre ganze Handfläche darauf und spürte das Pulsieren des heißen Blutes unter der Haut. Langsam fuhr sie mit ihrer Hand an der Narbe entlang, bis sie etwa zwei Fingerbreit unter seiner Brust angelangt war. Er nahm ihre Hand in seine und blickte ihr fest in die Augen. Wie schon am Tag zuvor fühlte sie eine eigenartige Tiefe, die in seinem Blick war, so als gäbe es dahinter riesige Hallen, angefüllt mit Dingen, die es zu entdecken galt. Sie sah genauer hin und konzentrierte sich. Doch keine Veränderung zeigte sich in seinem Blick, an der sie ihn als jemanden ihres Standes erkannt hätte. Es lag also nur an ihr, daß sie sich von ihm so angezogen fühlte.

»Herrin, Ihr seid gewiß eine schöne Frau. Und ich sehe, daß nicht nur ich jemanden gefunden habe, dem ich mein Herz anvertrauen möchte. Eure Hände sind sanft wie Eure Stimme. Ich wünschte, ich könnte Eure Umarmung spüren.«

»Ihr schmeichelt mir schon wieder«, erwiderte Yeni mit einem Lächeln. »Aber es ist noch nicht an der Zeit, daß wir uns so nahe kommen. Ihr müßt erst wieder gesund werden. Euer Vater und Helbek sind sehr besorgt.«

Elrin seufzte und legte sich in die Kissen zurück. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt wieder genesen will.«

Yeni war überrascht. »Wie meint Ihr das? Ihr wollt doch bestimmt nicht tagelang hier herumliegen, ohne etwas tun zu können, oder?«

»Warum nicht? Ich wäre dann in der glücklichen Lage, mein Leben lang von Euch gepflegt zu werden.«

»Ach, hört doch auf damit«, sagte Yeni und stand auf. »Ihr schafft es noch, daß ich gar nicht mehr klar denken kann. Da Ihr ja offensichtlich nur noch unbedeutende Beschwerden habt – nein, laßt mich ausreden – werde ich Euch etwas gegen die Schmerzen geben und mich dann meinerseits ausruhen. Ob Ihr es glaubt oder nicht, auch eine Heilerin braucht Ruhe.« Sie nahm einen der Beutel von ihrem Gürtel und streute etwas von seinem Inhalt in ein Schälchen. Dann fügte sie etwas Salbenfett hinzu und verrührte die Masse, bis sie sich leicht verstreichen ließ. Schließlich reichte sie Elrin den Tiegel. »Diese Salbe wird Eure Schmerzen lindern und das vernarbte Gewebe wieder geschmeidig werden lassen. Ihr braucht Euch nur damit einzureiben.«

»Ich glaube nicht, daß ich dazu in der Lage bin«, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, der schwere Qual verhieß. »Wenn Ihr vielleicht so freundlich sein könntet...«

»Ihr seid unverbesserlich«, lachte Yeni. Sie nahm die Salbe und begann, sie mit gleichmäßigen Bewegungen in das Gewebe einzumassieren. Eigentlich hätte sie ihn für seine Frechheit nicht so sanft behandeln sollen, aber sie konnte nicht anders. Nachdem sie mit der Behandlung fertig war, reinigte sie ihre Hände, trocknete sie mit einem Tuch und ließ sich auf der Kante ihrer Liege nieder. Die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut. Nur wenig später schlief sie tief und fest.

Elrin atmete noch ruhig und beständig, als sie erwachte. Das wenige Licht, das durch die angelehnten Fensterläden hereinsickerte sagte ihr, daß es noch sehr früh war. Im Wald wäre es jetzt Zeit, sich auf die Suche zu machen, hier war dies nicht nötig. Dennoch konnte sie nicht gegen ihre Gewohnheit an, den Morgen zu begrüßen. Sie kleidete sich an und öffnete die Haustür. Ein ungewöhnliches Bild offenbarte sich ihr. Statt der gewohnten Bäume und Büsche fand sie hier Hauswände und Fenster, die von den noch schwachen Lichtstrahlen aus dem Osten des Landes erhellt wurden und feucht vom nächtlichen Regen glitzerten. Langsam trat sie hinaus und blickte umher. Die Straße führte eine weite Strecke zwischen den Gebäuden hindurch. In der Entfernung waren hier und da einmal Menschen zu sehen, die irgendwelchen Geschäften nachgingen. Hier war es dagegen noch absolut leer. Mehr noch als die völlig veränderte Umgebung fiel ihr das Fehlen der Stimmen des Waldes auf. Nur ab und an hörte sie einen einsamen Vogel singen, kein Rascheln eines Tieres im Unterholz durchbrach die Stille. Insgesamt herrschte eine für sie solch feindselige Atmosphäre, daß sie fröstelnd ihre Arme um sich schlang.

»Beunruhigt Euch die Stadt?« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Erschreckt wandte sie sich um und blickte in das Gesicht des Mannes, der sich Tharen Rime genannt hatte. »Sie ist nicht so kalt und abweisend, wie sie Euch im Augenblick erscheinen mag.«

»Sie ist still, ohne Leben, wenn nicht die Menschen dort sind, um sie zu bevölkern. Der Wald schweigt nie.«

»Ich habe Helbek gebeten, Euch heute mit dem Wagen nach Hause zu bringen, wenn es Elrin besser geht. Ihr habt wirklich ein Wunder vollbracht.«

Yeni kehrte der Straße den Rücken und ging in das Haus zurück. »Es wird ihm besser gehen. In weniger als drei Tagen wird er aufstehen können. Aber ein Wunder, wie Ihr es nennt, war es nicht. Euer Sohn ist nur zur rechten Zeit zu meiner Mutter gebracht worden.«

Tharen schloß leise die Tür und betrachtete den schlafenden Elrin. »Die Hauptsache ist, er wird genesen. Ich liebe ihn von ganzem Herzen. Nur wenige Menschen habe ich zuvor so sehr in mein Herz geschlossen. Wie ich Euch gestern schon sagte, traf ich vor vielen Jahren eine Frau. Sie war ebenso hübsch wie Ihr es seid, auch das Haar war von feuerroter Farbe, die ich bei Euch wiedererkenne. Und auch sie habe ich geliebt, doch es war uns nicht vergönnt, länger miteinander zu leben. Wahrscheinlich war es mein Fehler gewesen, daß sie nicht bei mir blieb. Entschuldigt, ich wollte Euch nicht mit Geschichten aus meinem Leben langweilen. Ich werde Helbek holen und ihm sagen, daß er Euch zurückbringen soll. Aber Ihr müßt mir versprechen, daß Ihr zurückkommt, um nach Elrin zu sehen.«

Während ihrer Fahrt sprachen sie nur wenig. Helbek war mit seinen Gedanken anscheinend weit fort, und Yeni war froh, daß sie endlich zurück zu ihrer Mutter kam. Die eisenbeschlagenen Räder des Wagens holperten über die unebene, mit Pfützen bedeckte Stadtstraße, die aus dem Tor hinaus in das offene Land führte. Sofort fühlte sie sich wieder besser, sie atmete einige Male so gierig durch, daß Helbek sich besorgt zu ihr umwandte. Ihr Lächeln aber zeigte ihm, daß ihr nichts fehlte. Sie verfolgte jeden Vogel mit ihrem Blick; mit allen Sinnen genoß sie die Rückkehr in die Natur. Als Helbek den Wagen nach einer halben Stunde schließlich stoppte, war sie nur noch wenige hundert Schritte vom Rande des Waldes entfernt.

Nach einem kurzen Abschied wanderte sie fröhlich über die Wiese. Ein Glücksgefühl überkam sie, als die Bäume sie in ihre Mitte aufnahmen. Lachend lief sie los, drehte sich im Kreis und sog die würzige Waldluft ein. Sie fühlte sich, als wäre sie aus einem langen Schlaf erwacht.

Erst vor der kleinen Holzhütte blieb sie atemlos stehen. Der Gedanke an ihre Mutter dämpfte die ausgelassene Stimmung, in der sie sich gerade befand. Sie hatte sich bestimmt große Sorgen gemacht, und wahrscheinlich würde Yeni das auch zu sehen bekommen. Langsam öffnete sie die Tür. Der Wohnraum war leer, nur ein kleines Feuer brannte im Herd, das einen Kessel voller Wasser langsam erhitzte. Yeni erinnerte sich, daß es ja immerhin noch sehr früh am Morgen war, also würde Mirea auf Kräutersuche sein. Sie packte ein paar Holzscheite zusammen und fachte das Feuer wieder richtig an. Dann räumte sie den Tisch ab und stellte Geschirr für sich und ihre Mutter darauf.

Nervös rutschte Yeni auf ihrem Stuhl hin und her, bis sich endlich die Haustüre öffnete. Mirea kam herein; sie trug ein Bündel über der Schulter, das sie allerdings fallen ließ, als sie Yeni erblickte. »Kind! Was um alles in der Welt ist geschehen, daß du in der Nacht nicht zu Hause warst?« Sie lief zu ihr und nahm ihre Hände. »Ich hatte solche Angst um dich.«

»Es tut mir leid, Mutter. Ich wollte nicht, daß du dich sorgst. Aber Elrin ging es plötzlich wieder schlechter, da bin ich mit ihm in die Stadt gegangen.«

»Was hat ihn denn so unvermittelt befallen? Ich dachte, du hättest ihn geheilt?«

Yenis Gesichtsausdruck wurde etwas entspannter. »Ein Schwächeanfall, weiter nichts. Als ich an seinem Lager saß offenbarte er mir, daß er seine Krankheit absichtlich schlimmer gespielt hatte, als sie war, um mich länger sehen zu können. Er ist wirklich sehr nett. Oh, Mutter! Du solltest ihn reden hören. Er wählt seine Worte wie ein hoher Herr.«

»Und du fällst darauf herein?« Mirea kehrte zu ihrem fallengelassenen Bündel zurück, hob es auf und brachte es in die Kochnische. »Glaub mir, Kind. Das alles hat nichts zu bedeuten.«

»Doch, das hat es«, erwiderte Yeni. »Er sagte, er wolle mir sein Herz anvertrauen. Ich kann gar nicht verstehen, wie ein Mensch wie er in einer engen, toten Stadt überhaupt leben kann.« Während sie ihre Mutter beobachtete, die am Feuer stand und etwas zubereitete, kam ihr die Beschreibung in den Sinn, die Elrins Vater ihr gegeben hatte. Es war unglaublich, und doch... Aber wie konnte das sein? Wenn es überhaupt stimmte. Yeni beschloß, dies herauszufinden. »Sag mal, Mutter, kennst du einen Mann namens Tharen Rime?«

Mirea versteifte sich. »Was weißt du über ihn?«

»Du kennst ihn also?«

Die Stimme der älteren Frau wurde härter. »Was weißt du über ihn?«

Yeni wurde es plötzlich unbehaglich. »Er ist sein Vater, ein bemerkenswerter Mann. Er unterhielt sich mit mir und sagte, daß ich ihn an jemanden erinnern würde. An eine Frau, die er vor vielen Götterläufen kennengelernt hatte. Sie war ebenfalls rothaarig und... Ich dachte...«

»Sprich nicht weiter.« Mirea hatte sich wieder in der Gewalt. »Ja, ich kannte Tharen Rime. Doch diese Begegnung habe ich längst aus meinem Gedächtnis gestrichen. Es ist das beste, wenn du ebenfalls nicht mehr an ihn denkst.«

»Aber ich muß noch einmal zurück«, erwiderte Yeni. »Ich habe es ihm versprochen.«

»Du wirst nicht zurückgehen«, befahl Mirea. »Und ich werde nicht dulden, daß du dich mit Tharen Rimes Sohn näher einläßt. Glaube mir, es würde nichts als Unheil bringen.«

»Aber wieso, Mutter? Was ist geschehen, daß du so verbittert bist? Und was hat Elrin damit zu tun?«

Mirea schwieg eine Weile, während sie mit einem langstieligen Löffel das Gebräu im Kessel umrührte. »Es ist nicht von Belang, was ich erlebt habe«, sagte sie dann. »Es zählt einzig und allein, daß du nicht in dein Unglück rennst.«

»Aber ich muß ihn wiedersehen. In jedem Augenblick denke ich an ihn, ich sehne mich nach unserer nächsten Begegnung. Das darfst du mir nicht verbieten.«

»Kind, bitte glaube mir, wenn ich dir sage, daß ich guten Grund habe, dich vor Tharen Rime und seiner Familie zu warnen. Ich will dir nicht weh tun-«

»Das hast du aber bereits!« Yeni sprang auf, wirbelte herum und flüchtete ins Schlafzimmer.

Nur wenige Momente später öffnete sich die Tür und Mirea stand auf der Schwelle. »Also gut. Du sollst die Wahrheit erfahren, auch wenn es mir schwer fällt, dich mit solchen Dingen zu belasten. Es ist ohnehin schon für mich schwer genug, überhaupt daran zu denken. Ich traf Tharen Rime vor vielen Läufen, als ich auf der Flucht vor Gardisten war, die mich fälschlicherweise für eine Diebin hielten. Damals war ich etwa in deinem Alter. Er gewährte mir Schutz in seinem Haus, doch er verlangte einen hohen Preis. Du bist das Produkt dieser Nacht.« Sie wandte sich um und schlug die Tür zu.

Yeni war wie gelähmt. Tharen Rime war ihr Vater? Sie hatte lange nicht mehr darüber nachgedacht, wer ihr Vater sein mochte, aber jetzt, da sie es wußte, jagte es ihr einen Schauer über den Rücken. Wenn er also wirklich ihr Vater war, dann war Elrin... ihr Halbbruder. Diese Erkenntnis versetzte sie in einen schockähnlichen Zustand, aus dem sie sich bis zum nächsten Morgen nicht mehr zu lösen vermochte.

Über eine Woche hinweg ging das Leben der beiden Frauen so weiter, wie es in den Jahren zuvor auch gewesen war, mit dem Unterschied, daß nur sehr wenig gesprochen wurde. Mirea versuchte, die unangenehm plötzlich wachgerüttelten Erinnerungen zu verdrängen, während Yeni alle Anstrengungen unternahm, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie nahm sich vor, möglichst wenig an Elrin und seinen Vater zu denken, sie möglichst zu vergessen. Doch diese Art der Erinnerung ließ sich nicht leicht aus dem Kopf verbannen. Vielmehr drängte sie die Bilder beiseite, doch sie kamen zurück, um sich erneut vor ihr geistiges Auge zu schieben. Am liebsten würde sie sein Gesicht wie eine Kohlezeichnung auf Papier nehmen und zerknüllen, auf daß sie es nie mehr sehen mußte.

Nachdenklich saß Yeni an einem klaren Morgen am Tisch und trank mit langsamen Schlucken Tee. Der Duft der Kräuter belebte sie, und ihre Laune besserte sich ein wenig. Unvermittelt wurde sie aus ihrer Ruhe gerissen, als es zaghaft an der Tür klopfte. Sie erhob sich und ging durch den Raum, um zu öffnen. »Ja? Was kann ich...« Dann verschlug es ihr die Sprache.

»Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Fräulein Yeni«, sagte der gutgekleidete junge Mann, der vor ihr stand. »Ich hatte mich gefragt, warum Ihr nicht zurückgekommen seid, da bin ich hergeritten, um zu sehen, ob Euch etwas zugestoßen ist.«

»Ihr müßt entschuldigen, das habe ich völlig vergessen.« Sie trat einen Schritt ins Haus zurück. »Bitte, Elrin. Es tut mir leid, aber Ihr müßt wieder heimkehren.«

»Aber wieso? Ich hatte eigentlich vor, Euch zu einem Ritt über das Land einzuladen. Ich bin sogar mit zwei Pferden hergekommen.« Er wies auf die beiden Reittiere, die weiter im Wald angebunden waren. »Was ist denn mit Euch, daß Ihr mich nicht mehr bei Euch haben wollt? Habe ich Euch irgendwie verletzt?«

»Das ist es nicht. Es ist nicht Eure Schuld. Aber bitte, geht jetzt. Ich kann nicht länger mit Euch zusammen sein. Es wäre nicht recht.«

Elrin machte einen Schritt auf sie zu, doch sie wich nur weiter zurück. »Aber was ist daran denn falsch? Ein Mann und eine Frau mögen sich, ich kann sogar sagen, daß er sie liebt. Warum sollten sie es dann nicht wagen dürfen, sich zu vereinen?« Mittlerweile war Yeni bis in die Hütte hineingegangen und wandte sich nun um. »So seht mich doch an, Yeni. Was macht Euch angst?«

»Ich kann doch nicht meinen Bruder begehren«, schluchzte sie.

Nun war es Elrin, der sprachlos wurde. »Was meint Ihr damit? Wieso solltet Ihr Euren Bruder...? Habt Ihr überhaupt Geschwister?«

»Ihr seid mein Halbbruder.« Yeni wandte sich ihm wieder zu. »Euer Vater hat meine Mutter vor vielen Jahren bereits einmal getroffen, und aus dieser Begegnung bin ich hervorgegangen. Und Ihr seid das Kind einer anderen Frau, die Euer Vater-«

»Das ist unfaßbar!« Elrin begann zu lachen. »Diese Ironie ist nicht zu glauben.«

Yeni blickte Elrin erstaunt an. »Ich verstehe nicht, wie Ihr darüber lachen könnt. Habt Ihr denn nicht verstanden-«

»Ich habe sehr wohl verstanden«, unterbrach er sie. »Aber wenn Ihr wüßtet, was ich weiß, dann wäret Ihr ebenfalls amüsiert.« Er ging zum Tisch und ließ sich auf einem der Stühle nieder. »Es ist wohl wahr: Tharen Rime ist kein Mann von Traurigkeit. Es müssen inzwischen eine ganze Menge seiner unbekannten Nachkommen in Rommilys und Umgebung herumlaufen. Was mich betrifft, so bin ich nur ein Pflegekind, das im zarten Alter von vierzehn Monden zu ihm gebracht wurde, damit er sich um mich kümmerte. Er nahm die Pflicht gerne auf sich, da er nie eine Frau geheiratet hatte und so auch nie ein wirklich eigenes Kind bekommen konnte. Er zog mich auf wie seinen Sohn, und ich nannte ihn auch meinen Vater, denn er war alles, was ich von einem Vater erwartete. Er brachte mir alles bei, was er wußte, lehrte mich das Lesen und Schreiben, und er nahm mich immer auf seine Handelsreisen mit. Seht Ihr jetzt, was ich meine? Ich bin nicht der Sohn Tharen Rimes, und daher gibt es auch keine Blutsbande, die uns beide halten.«

Es dauerte eine Weile, bis Yeni den vollen Umfang seiner Worte begriff, und als sie endlich verstand, wandte sie sich ab, da sich ihre Augen mit Tränen füllten.

»Warum verbergt Ihr Euch vor mir? War die Nachricht nicht fröhlich genug?«

»Ich möchte nicht, daß Ihr mich weinen seht«, antwortete Yeni mit belegter Stimme. Dann fühlte sie eine Bewegung hinter sich. Sie drehte sich um und schlang ihre Arme um seine Brust. Sie spürte, wie er sie an sich zog und ihr Haar streichelte. »Elrin, ich bin so froh, daß du da bist.«

»Arme Yeni. Da machst du dir Sorgen und das ganz ohne Grund. Wenn ich nur die richtigen Worte finden würde um dir zu sagen, was du mir bedeutest.« Er löste sich aus ihrer Umarmung und hielt sie auf Armeslänge von sich. Mit einem Finger strich er über ihr Gesicht, um die Tränenspuren fortzuwischen. »Was meinst du? Würde dir ein Ausritt Spaß machen?«

»Ich kann es kaum erwarten. Es ist schon so lange her, seit ich das letzte Mal auf einem Pferd gesessen habe.« Die Traurigkeit der letzten Minuten war verflogen, jetzt war sie wieder das fröhliche, vor Lebenslust sprühende Mädchen, das ihn so faszinierte. Lachend rannte sie aus dem Haus und wartete auf ihn, bis er bei den Tieren angekommen war. Leichtfüßig schwang sie sich auf den Rücken des Shadifs, um schließlich stolz herabzublicken. Er brauchte etwas länger, anscheinend hatte er doch noch ein paar Schwierigkeiten mit der Wunde. Das würde sie sich bei Gelegenheit noch einmal ansehen.

Gemütlich ließen sie die Pferde über den schmalen Trampelpfad laufen, der sich mit vielen Windungen durch den Wald schlängelte. Yeni fühlte sich fast wie eine Königin. Sie hatte von ihrer Mutter das Reiten gelernt, doch seit ihr altes Pferd eines Tages gestorben war, nie wieder Gelegenheit dazu gehabt. Es war ein gewöhnliches Ackertier gewesen, aber dies hier war von edlem Geblüt. Shadifs wurden zu solch hohen Preisen gehandelt, daß sie nie auch nur davon geträumt hatte, je auf einem zu reiten, geschweige denn eines zu besitzen. Außerdem folgte es den Signalen der Zügel und der Fersen exakt und präzise, wie es das nur ein gut ausgebildetes Roß kann. Kaum hatte sie den Wald verlassen, gab sie dem Hengst die Zügel frei und ließ ihn über die Ebene jagen. Elrin hielt mit, sein Pferd paßte sich instinktiv dem Tempo des anderen Tieres an. Der Ritt war stürmisch, aber Yenis Reitkunst, die zwar lange geschlafen, doch nicht gelitten hatte, versetzte sie in die Lage, das Ereignis genießen zu können. Eine Viertelmeile weiter zügelte sie ihr Tier und ließ es am Ufer eines Baches entlangtrotten. Elrin war bald schon neben ihr. »Ein wunderbares Pferd ist das«, bemerkte sie und tätschelte ihm den Hals. »Wie ist sein Name?«

»Kiasso. Und meines nennen wir Thiomë. Beide stammen aus dem Stall meines Vaters. Seine Geschäfte gehen seit einigen Jahren so gut, daß er sich den Traum von einem eigenen Reitstall endlich hatte erfüllen können.«

Yeni stieg ab und ließ Kiasso grasen. Sie selbst setzte sich am Bach auf die Wiese und blickte auf die Berge, die sie im Süden erkennen konnte. »Du hast mir heute einen der wunderbarsten Tage meines Lebens geschenkt.« Sie wartete, bis er sich neben ihr bequem gemacht hatte. »Noch heute morgen wäre ich vor Kummer fast gestorben, aber du hast mir den Mut zurückgegeben.«

»Ich muß zugeben, anfangs hast du mich ganz schön erschreckt, als du mich fortschicken wolltest. Was ein Gerücht alles bewirken kann, wenn man nicht die Wahrheit kennt. Ich frage mich, was mein...« Er machte eine kurze Pause, sprach dann aber weiter: »- was mein Ziehvater dazu sagen würde, wenn er wüßte, wessen Tochter du bist.«

»Sag es ihm nicht! Er würde bestimmt versuchen, Mutter zu sehen, und das würde sie nicht ertragen.«

»Wenn dies dein Wunsch ist, wird er es nicht erfahren, zumindest nicht aus meinem Munde.« Etwas Schelmisches blitzte in seinen Augen auf. »Obwohl ich zu gern sein Gesicht sehen würde. Er hat gar keine Ahnung, welch eine wunderschöne Tochter er hat.« Langsam näherte er sich dem Gesicht Yenis. »Doch ich bin sehr froh darüber, daß ich dich kennenlernen durfte.«

»Oh nein! So leicht bekommst du mich nicht!« Yeni sprang auf und lief den Bach entlang, als Elrin seine Lippen auf ihre legen wollte. »Du sollst sehen, daß du nicht alles nur durch süße Worte gewinnen kannst.« Laut lachend floh sie am Ufer entlang, während Elrin die Verfolgung aufnahm. Sie lief leichtfüßig und schnell, doch Elrin war ausdauernder. Als sie atemlos langsamer wurde, holte er sie ein, umfaßte ihre Taille und hielt sie fest. Dabei gerieten sie ins Stolpern und fielen auf die Wiese. Yeni wollte sich von ihm wegrollen, aber er war schon über ihr. Er drückte ihre Hände zu Boden und küßte sie, bis sie ihren gespielten Widerstand aufgab und seine Zärtlichkeiten erwiderte.

Yeni trieb Kiasso an, der das hohe Tempo bereitwillig aufnahm. Elrin folgte auf Thiomë dichtauf. Die Energie, die Elrins sanfte Art in ihr freigesetzt hatte, brauchte ein Ventil. Mit lautem Geschrei feuerte sie ihr Reittier an, sie genoß den Wind, der ihr ins Gesicht wehte und das lange, rote Haar wie eine Standarte flattern ließ. Vergessen war die düstere Stimmung des Morgens, vergessen der Schock, unter dem sie gestanden hatte – aber vergessen waren auch Mirea und ihre Warnungen. Jetzt gab es nur noch sie beide und die Pferde, die sie trugen.

Gegen Abend kehrten sie zur Hütte zurück. Elrin gab ihr einen Abschiedskuß und ritt mit den beiden Tieren davon. Yeni blickte ihm noch nach, bis er im Dickicht des Waldes verschwunden war. Dann erst betrat sie das Holzhaus.

»Wo bist du gewesen?« fragte Mirea sofort, jedoch ohne sich umzudrehen. Sie saß mit dem Rücken zur Tür am Tisch band verschiedenfarbige Schnüre zu hübschen Gürteln zusammen.

Yeni wußte im ersten Augenblick nicht, was sie sagen sollte. Ihre Mutter wußte ja nichts von den veränderten Umständen, die Elrin und sie betrafen. Bevor sie nicht sicher war, daß Mirea Elrin gut gesinnt war, wollte sie nichts von ihm erzählen. »Ich war im Wald«, antwortete sie also. »Eigentlich wollte ich Kräuter suchen, aber ich fand einen Jungen, der meine Hilfe brauchte.« Es fiel ihr schwer, ihre Mutter anzulügen, daher brach sie ab.

»Wer war es?«

»Jemand aus dem Dorf«, sagte Yeni schnell. »Er hatte sich zwischen den Bäumen verlaufen, und ich habe ihn zum Waldrand geführt.« Sie bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, damit Mirea nicht mißtrauisch wurde. Aber warum sollte sie? Bisher hatte sie ihre Mutter niemals angelogen. Bisher. Yeni fühlte sich plötzlich elend.

»Dann hättest du aber wenigstens auf dem Rückweg etwas suchen können. Diese Dorfmenschen! Sie werden es nie verstehen, ihre Kinder richtig zu erziehen. Kaum haben sie ein paar Bäume um sich, geraten sie in Panik.«

»Ja, Mutter.« Yeni verließ das Zimmer und ging ins Schlafgemach, wo sie sich müde auf ihr Lager sinken ließ. Wenn sie sich noch öfter mit Elrin treffen wollte, mußte sie vorher ihre Pflichten erledigen. Sie befürchtete nur, daß dann zu wenig Zeit übrigblieb.

In den folgenden Wochen arbeitete Yeni doppelt so hart und schnell, wie sonst. Die so gewonnene Zeit verbrachte sie mit Elrin, der sie an jedem Tag besuchen kam. Dann ritten sie über die Wiesen und Felder der Umgebung, und Yeni lernte weite Gebiete des noch unbekannten Landes kennen. Und immer war sie rechtzeitig zurück, damit ihre Mutter nichts von den Ausflügen erfuhr. Elrin gab sich sehr verständnisvoll, auch er wollte nicht riskieren, daß sie sich nicht mehr treffen konnten. Er hatte seinem Vater nichts von Yenis wahrer Herkunft erzählt. Er war der Meinung, daß es keinen Unterschied machte, ob Tharen wußte, wer sie in Wirklichkeit war. Zumindest duldete er die Verbindung zwischen seinem Pflegesohn und der jungen Heilerin des Waldes. Sie entsprach zwar nicht dem hohen Stand, in dem er lebte, doch sein Vater schien sich nicht daran zu stören, daß die übrigen Menschen der Oberschicht schon langsam zu reden begannen. Er sagte ihnen, daß Elrin das Recht habe, sich seine Bekanntschaften selbst auszusuchen. Elrin hegte den Verdacht, Tharen sähe außerdem in Yeni seine verlorene Liebe, von der er gelegentlich sprach, wenn sie abends in der Schreibstube beieinander saßen und die Bücher des Geschäftes vervollständigten. »Warum lädst du sie nicht einmal wieder zu uns ein?« pflegte er dann zu fragen. »Sie ist ein so charmantes Kind, und ihr beide paßt hervorragend zusammen.«

»Sie hat so viel zu tun, Vater«, war dann Elrins Antwort. »Die Pflichten einer Heilerin gehen weit über das normale Tagesgeschäft hinaus, so wie auch die unseren. Es ist nicht einfach, Tag um Tag für die Menschen da zu sein.«

Rondra zog vorüber und überließ Efferd die Herrschaft über das Land unter Alveran. Die sommerliche Hitze wich dem Herbst, der leichte Winde und laue Nächte brachte. Immer noch war es sehr warm, doch man konnte schon sehen, wie sich einige der Blätter an den Bäumen verfärbten. Schon in weniger als einem Mond würde der Wald in einem neuen, goldenen Kleid erstrahlen, wie ein Feuer, das in Travias Herd entfacht wurde, um Gäste bei sich aufzunehmen. Doch noch überwog das satte Grün des Hochsommers.

Yeni saß mit Elrin an ihrem Lieblingsplatz, einer Lichtung im Wald, die der schmale Bach in einem Gewirr aus kleinen Verästelungen überquerte. Kiasso und Thiomë rupften gemütlich das frische Gras am Ufer des Wassers, während sie sich nach dem Ritt ausruhten. Das Mädchen hatte ihren Kopf an Elrins Schulter gelegt und die Augen geschlossen. Sie sehnte sich danach, endlich ohne diese Heimlichkeit mit ihm zusammen sein zu können. Mirea hatte, seit sie sich mit Elrin traf, keinen Verdacht geschöpft. Immer war sie zum rechten Zeitpunkt zurück bei der Hütte, und wenn sie einmal später kam, so hatte sie auch mehr als gewöhnlich gesammelt. Das Vertrauen, das ihre Mutter zu ihr hatte, trug noch mehr dazu bei, daß Yeni sich zunehmend schlechter fühlte. Sie scheute sich aber, mit Elrin darüber zu sprechen, denn er würde sie nicht verstehen. Sie hatte Angst, daß er Mirea als herzlos und egoistisch sehen würde. Dabei sorgte sie sich nur um ihre Tochter, das hatte Yeni mittlerweile begriffen. Elrins Vater – Pflegevater, verbesserte sie sich – war in dieser Beziehung weniger vorsichtig. Im Gegenteil: Er war sogar begeistert, daß sein Sohn eine Freundin gefunden hatte. Nur daß er sie bisher nur sehr selten zu Gesicht bekam, wollte er nicht hinnehmen. Immer wieder drängte er Elrin, sie zu sich nach Hause zu holen. Irgendwann mußte dieses Leben ein Ende haben. Sie wußte nur nicht, wie dies geschehen könnte.

Unvermittelt stand Elrin auf. Yeni blickte ihm überrascht nach, als er sich seinen Weg zwischen den dünnen Wasserläufen hindurch zur anderen Seite der Lichtung suchte. »Wohin gehst du?«

Elrin blieb stehen und wandte sich um. »Du weißt, daß ich dich liebe«, sagte er. »Seit dem ersten Tag, an dem wir uns gesehen hatten wußte ich: Wir sind füreinander bestimmt, egal, was auch immer geschehen mag.« Er blickte hinauf zum Himmel. »Die Götter haben uns auserwählt, gemeinsam unter ihren Augen auf Dere zu wandeln. Und dies möchte ich auch tun. Deswegen möchte ich dich etwas fragen.« Mit zwei langen Schritten kehrte er zu ihr zurück, ließ sich auf ein Knie nieder und nahm ihre Hand in seine. Etwas fiel auf ihre Handfläche, doch er ließ sie noch nicht los. »Yeni, du schönste aller Blumen im Garten der Tsa: Willst du meine Frau werden?« Er ließ ihre Hand frei, in der nun ein schmaler, goldener Ring mit einem, in lebhaftem Blau funkelnden, Stein lag.

Für einen Moment fehlten Yeni die Worte. Als sie dann sprach, war ihre Kehle wie zugeschnürt. »Elrin, du weißt, wie sehr ich dich mag, aber wie sollen wir... Mutter würde nie zustimmen, das weißt du!« In ihren Augen sammelten sich Tränen aus Freude und Verzweiflung. »Meine Liebe gilt dir, ich würde so gerne mein restliches Leben mit dir teilen. Doch genausowenig wie dich möchte ich meine Mutter verlassen; denn das müßte ich tun, da sie dies niemals dulden würde.«

»Warum sprichst du nicht mit ihr? Sage ihr, wieviel du mir bedeutest, daß ich alles für dich tun würde. Ich kann dir ein Leben bieten, das sicherer und angenehmer ist, als hier im Wald-«

»Sprich nicht weiter. Der Wald ist meine Heimat. Hier allein finde ich die Ruhe und Kraft für meine Aufgaben. Mutter wird nie verstehen, daß jemand in einer Stadt glücklich werden könnte. Auch ich habe dabei meine Zweifel, wenn ich ehrlich bin. Damals, als ich bei euch war, da hatte ich das Gefühl, etwas würde mich erdrücken.« Nachdenklich betrachtete sie den Ring in ihrer Hand. »Aber ich finde es dennoch sehr lieb von dir, mich das zu fragen. Wer weiß...« Sie nahm das Schmuckstück auf und hielt es hoch. »Steckst du ihn mir an?«

Er lächelte und nahm ihre Hand. Der schmale Reif glitt leicht auf den Ringfinger ihrer rechten Hand. Dann hob er sie an seinen Mund und küßte sie sanft. Der Ausdruck in seinen Augen berührte sie so sehr, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Als sie sich dann küßten, tat ihr Herz einen Sprung; sie wollte plötzlich mehr, als nur seine flüchtigen Berührungen. Sie wollte ihn ganz für sich, für immer.

»Du bist heute aber recht spät«, bemerkte Mirea, als sich die Tür öffnete. »Ich habe mich schon gefragt, ob ich ohne dich essen sollte.«

»Ich habe einen großen Fleck Wirselkraut entdeckt, sieh her!« Yeni hielt ein großes Büschel grün-weißer Blätter in die Höhe. »Das wird uns im Dorf eine Menge einbringen.«

»Bei Satuaria! In der Tat.« Mirea ging zu ihrer Tochter und betrachtete die Pflanzen. »Und noch dazu solch prächtige Exemplare. Harkum wird sich freuen. Dafür werden wir so manchen Ballen Stoff bekommen.« Sie nahm die Kräuter an sich und stutzte. Dann legte sie die Blätter beiseite und ergriff Yenis Hand, die diese gerade zurückziehen wollte. »Woher hast du das?«

Yeni schluckte schwer. Eigentlich wollte sie ihrer Mutter noch nichts sagen. Aber wie sollte sie jetzt noch verheimlichen, wer ihr diesen Schmuck geschenkt hatte? Sie selbst besaß nichts dergleichen, genausowenig wie Mirea. Yeni vermied es, ihrer Mutter in die Augen zu sehen.

Mirea hatte allerdings längst erraten, was vorgefallen war. »Du hast dich wieder mit diesem Jungen getroffen, nicht wahr? Ich habe dir doch verboten, ihn je wiederzusehen!«

»Mutter, ich-«

»Sei still!« In den Augen der älteren Frau blitzte Zorn. »Habe ich dir nicht klar genug gesagt, wer er ist? Wie kannst du es wagen, dich immer noch mit ihm zu treffen? Wie lange geht das schon so?« Sie packte ihre Tochter an den Schultern und schüttelte sie, als sie nicht antwortete. »Wie lange, Yeni?«

»Seit jenem Abend, als ich dir von dem verirrten Jungen erzählte.« Yeni brach in Tränen aus. »Mutter, es tut mir leid!«

»Es tut dir leid? Kind, weißt du denn nicht, was alles geschehen kann? Sprich! Was habt ihr getan?«

»Wir haben gar nichts getan! Wir sind über die Wiesen geritten und haben uns unterhalten. Wenn du mir zuhören würdest, dann könnte ich dir alles erklären, wie es wirklich ist.«

Mirea schob Yeni zum Tisch hin und drückte sie auf einen der Stühle. Dann nahm sie sich selbst einen Hocker und setzte sich ihr gegenüber hin. »Also gut. Erzähle. Aber wehe, du lügst mich an.«

»Elrin hat mir gesagt, daß er nur ein Pflegesohn von – von ihm ist. Er hat ihn bei sich aufgenommen, da er keinen leiblichen Sohn hatte. Verstehst du? Er ist nicht mein Bruder!« Yeni sah den unnachgiebigen Blick in den Augen ihrer Mutter und ihre Hoffnung sank. »Er ist wirklich sehr nett zu mir.«

»Es ist mir egal, ob er sein Pflegesohn ist, oder nicht! Aus seiner Familie kann nichts Gutes kommen. Seit er hier ist, bist du nicht mehr bei der Sache. Du vernachlässigst deine Pflichten und, was noch schlimmer ist, du belügst mich. Er hat einen sehr schlechten Einfluß auf dich, junge Dame.«

»Es liegt doch nicht an ihm«, verteidigte Yeni ihren Freund. »Er kann doch nichts dafür, daß du die Wahrheit nicht kanntest.«

»Es ist völlig unerheblich, ob deine Geschichte stimmt oder nicht. Er stammt aus dem Hause des Mannes, der die Ehre einer Frau nicht zu respektieren weiß. Ob er nun sein leiblicher Sohn ist oder nicht, er wird nicht besser sein. Bei einem solchen Vorbild ist nichts anderes zu erwarten. Sieh doch, niemals hast du mich belogen. Kaum ist er in dein Leben getreten, birgst du Geheimnisse vor deiner eigenen Mutter.«

»Hätte ich es nicht getan, so hättest du ihn längst vertrieben.« Yeni wurde lauter. »Du fragst doch nicht danach, wie ich mich fühle!«

»Nun aber mal langsam, Fräulein! Du scheinst nicht zu begreifen, daß ich nur das Beste für dich will. Es ist undankbar von dir zu behaupten, ich würde mich nicht um deine Gefühle sorgen. Ich will nur, daß du sie nicht an den falschen verschwendest.«

»Es ist meine Sache, für wen ich meine Gefühle hege, und nicht deine! Ich werde nicht zulassen, daß du unser Glück zerstörst!« Yeni sprang auf, Tränen rollten über ihre Wangen.

»Yeni! Zügle deinen Zorn!«

»Das habe ich schon viel zu lange getan!« Sie wandte sich um und rannte aus dem Haus in den Wald hinein. Mirea rief ihr etwas hinterher, doch sie konnte es nicht verstehen – sie wollte es auch gar nicht. Es wäre ohnehin nur eine weitere Kränkung gegen Elrin, die sie nur noch wütender gemacht hätte. Sie haßte es, ihre Mutter als gemeine, eifersüchtige Frau zu sehen, doch dieses Bild ließ sich nicht so einfach vertreiben. Durch die Tränen in ihren Augen erkannte sie nur schemenhaft, wohin sie lief. Mehr als einmal stieß sie mit dem Fuß gegen eine Wurzel oder stolperte über Ranken der Beerengewächse, die es hier zuhauf gab. Doch sie lief weiter, ohne ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen. Sie rannte so lange, bis ihr Körper vor Erschöpfung schmerzte. Dann erkannte sie, wohin sie gelaufen war. Es war der Platz, an dem Elrin sie verlassen hatte. Schluchzend ließ sie sich auf die Erde fallen, grub die Finger in den weichen Boden und weinte ihre Wut aus sich heraus.

So fand Elrin sie, als er am nächsten Morgen wie üblich an die Wasserstelle kam. Er ritt auf Thiomë und führte Kiasso am Zügel. Erschrocken sprang er aus dem Sattel und eilte zu der reglos im Laub liegenden Gestalt hin. »Yeni! Bei den Zwölfen! Was ist mit dir? Wach auf, bitte!« Er berührte sie an der Schulter und sie erwachte. »Den guten Mächten sei Dank! Was ist geschehen?«

Yeni brauchte eine Zeit um zu erkennen, was um sie herum vor sich ging. Dann setzte sie sich auf. Ihre Kleider waren feucht und klamm vom Tau, und sie fror trotz der angenehmen Wärme des Morgens. »Ich bin fortgelaufen. Mutter hat herausgefunden, daß wir uns sehen. Ich wollte ihr alles erklären, doch sie hörte nicht zu. Wir haben uns gestritten, Elrin! Das erste Mal, seit ich denken kann, haben wir uns im Zorn getrennt!«

Er zog seine leichte Lederjacke aus und legte sie um die Schultern des Mädchens, das erbärmlich zitterte. »Wir werden schon einen Weg finden, sie zu beruhigen«, sagte er leise.

»Das glaube ich nicht. Sie ist so voller Haß auf deinen Vater, daß sie nicht glauben wird, daß du nicht so bist, wie er. Niemals wird sie es akzeptieren. Wir werden nie zusammenbleiben können, sie wird es niemals zulassen.«

»Ich denke nicht, daß wir ihre Zustimmung brauchen. Was einzig und alleine zählt ist das, was du willst. Du kannst doch nicht dein ganzes Leben lang nach dem Willen deiner Mutter leben!«

Dieser Gedanke erschreckte Yeni so sehr, daß sie wieder zu zittern begann. Ihr ganzes Leben lang hatte sie auf Mirea gehört, hatte immer gesehen, wie recht sie mit allem hatte. Elrins Worte kamen ihr wie ein Verrat vor, doch auf der anderen Seite begriff sie, was er sagen wollte. Solange sie sich an ihre Mutter klammerte, würde ihr das Glück verwehrt bleiben. Doch das bedeutete, daß sie sich von Mirea trennen und ihren eigenen Weg gehen mußte. Sie wußte nicht, ob sie dies durchhalten konnte.

»Ihr Götter! Yeni, da bist du ja!« Die Stimme einer Frau drang aus den Bäumen zu den beiden jungen Menschen heraus. »Ich habe dich lange gesucht!« Mirea trat auf die Lichtung und erstarrte, als sie Elrin sah, der neben ihrer Tochter kniete. Sofort stieg unbändiger Zorn in ihr auf. »Geh weg von ihr, du Sohn eines Hundes. Du verdienst es nicht, sie zu berühren. Verflucht sollst du sein, der du mir das Herz meiner Tochter entrissen hast. Ab heute sollst du niemals wieder ihr Antlitz sehen, bis sie freiwillig zu mir zurückkehrt und sich von dir lossagt. Blindheit überkomme dich, sobald sie deine Blicke kreuzt. Schwarze Nacht verdunkle deine Sinne, ihre Gestalt soll dir auf ewig verborgen bleiben!« Die letzten Worte waren ein einziger hysterischer Schrei. Dann brach sie zusammen.

Elrin schrie auf und hielt sich die Hände vor die Augen. Von einer Sekunde zur nächsten war es dunkel um ihn geworden, er war blind.

Yeni erkannte, was ihre Mutter ihrem Geliebten angetan hatte. Voller Wut rannte sie zu dem reglosen Körper der Frau hin und schüttelte sie. »Warum hast du das getan? Nimm den Fluch von ihm, Mutter! Du darfst nicht alles zerstören!«

Doch Mirea lächelte nur. »Dies soll eure Strafe sein, bis du ihn verläßt. Ich werde ihn nicht eher freigeben. Denke an meine Worte, Tochter Satuarias. Er wird nichts als Unglück über dich bringen.«

»Nein, Mutter. Du bist zu weit gegangen. Ich werde ihn nicht verlassen. Deine Tochter ist erwachsen geworden. Es tut mir leid, doch du trägst die Schuld allein. Ich werde mit ihm fortgehen.«

Mirea versuchte sie festzuhalten, doch ihre Kräfte waren erschöpft. »Dann geh, du Uneinsichtige! Finde heraus, was es bedeutet, eine solche Bürde zu tragen, wie sie jetzt auf deinen Schultern lastet. Wisse, daß du ihm die Dunkelheit bringst, und wisse, daß dies auf immer so sein wird.« Mirea schloß die Augen und sank im Laub zusammen.

Einige Herzschläge lang blickte Yeni auf die Frau herab, die einmal ihre Mutter gewesen war. Dann hörte sie Elrins leises Schluchzen und eilte zu ihm. Sie stützte ihn als er aufstand und führte ihn zu seinem Pferd. Nachdem er im Sattel saß, schwang sie sich auf Thiomës Rücken und ergriff Kiassos Zügel. Langsam, ohne sich noch einmal umzublicken, ritt sie davon, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Erst als sie den Wald verließen, begann sie zu weinen. Ihr gesamtes Leben, das bisher so ruhig und friedvoll gewesen war, lag nun wie ein zerbrochener Spiegel vor ihr. Jede seiner Scherben war messerscharf und ritzte den Finger wenn man versuchte, sie aufzuheben. Welches Ausmaß mußte der Haß in Mirea haben, daß sie zu einer solchen Tat fähig wurde! Niemals hatten sie zuvor auch nur im Zorn miteinander gesprochen. Nicht einmal als Kind konnte sie sich daran erinnern, von ihr beschimpft worden zu sein. Sie war immer voller Verständnis für Fehler, streng, aber dennoch gütig. Yeni hatte sehr viel von ihr gelernt, doch eine solche Wut kannte sie nicht. Was konnte es sein, das sie dazu brachte, alle Gefühle den anderen Menschen gegenüber zu vergessen, um jemanden so zu strafen?

Fast wie um ihre Gedanken noch zu unterstützen begann sich der Himmel mit dichten Wolken zu bedecken. Yeni entschied, daß es besser wäre, sich in einem kleineren Baumbestand während des Regens unterzustellen. Sie führte die Tiere bis an eine Stelle, die ihr geeignet erschien und saß ab. Dann half sie Elrin vom Pferd und begann, einen provisorischen Unterschlupf zu bauen, dessen Dach aus Zweigen dichter Nadelgewächse bestand. Noch bevor die ersten Tropfen den Boden erreichten, war sie fertig.

Lange Zeit saßen sie schweigend unter den Bäumen und lauschten dem stetig fallenden Regen. Leichter Wind war aufgekommen und trieb die kleineren Tropfen in ihren Unterstand hinein. Yeni zog sich ein wenig zurück. Regen war willkommen, doch naß werden wollte sie nicht unbedingt. Im Sommer machte ihr das nichts aus, doch herbstliche Stürme und plötzliche Kälteeinbrüche hatten schon so manchem unvorsichtigen Wanderer eine Blaue Keuche eingebracht. Yeni und ihre – und Mirea hatten mehrere solcher Fälle gehabt und behandelt. Einmal kam selbst ihre Hilfe zu spät. Seltsam, wie sie an ihr Zuhause zurückdachte und ihre Mutter nicht mehr als solche, sondern nur noch als Mirea, die Heilerin, kannte. Vielleicht war dies die Art ihres Verstandes, mit dem Verlust fertig zu werden. So wie Tharen die Lücke ihres Vaters ausfüllte, so war nun eine neue entstanden, in die Mirea allerdings nicht zu passen schien.

»Wohin wirst du nun gehen?« fragte sie und wandte sich zu Elrin um. »Dein Vater braucht ja nichts zu erfahren. Ich werde mich schon durchschlagen.«

»Wovon sprichst du? Warum sollte ich von dir fortgehen? Ich liebe dich, Yeni. Und dieser Fluch, der auf uns lastet, vermag meine Gefühle für dich nicht zu ändern. Wir werden eine Möglichkeit finden, ich schwöre es dir. Auch wenn du für mich Blindheit bedeutest, wird das unser Band nur noch festigen.« Er streckte seine Hand nach ihr aus, und Yeni ergriff sie. »Im Augenblick ist es mir genug, dich bei mir zu haben. Wenn wir erst in der Stadt sind, werde ich meinem Vater alles erzählen. Er ist reich und kennt viele Leute. Vielleicht auch jemanden, der uns beiden helfen kann.«

»Nein!« Yeni legte ihm einen Finger auf die Lippen. Wenn Tharen tatsächlich so viele Bekanntschaften pflegte, würde es sicherlich nicht lange dauern, bis das Geheimnis um ihre und Mireas Magie gelüftet worden wäre. Ganz sicher bedeutete dies das Ende der Heilerinnen als Flüchtlinge vor der verruchten Macht der Inquisition. »Es gibt sicher noch einen anderen Weg. Du solltest deinen Vater nicht unnötig beunruhigen.«

»Beunruhigen? Im Gegenteil! Er wäre viel mehr beunruhigt, wenn er nicht wüßte, was vor sich geht. Stell dir nur vor, wir gehen zu ihm, und er stellt fest, daß ich blind bin. Wäre er da nicht viel besorgter, wenn er nicht wüßte, warum dies geschehen ist? So können wir wenigstens gemeinsam eine Lösung finden.«

»Ich möchte aber nicht, daß du ihm davon erzählst. Was, wenn er einen Rachefeldzug gegen meine Mutter plant? Er wird sie kaum schonen wollen, nach dem, was sie dir angetan hat. Wenn wir beide aber etwas finden, wodurch wir diesem Spuk ein Ende bereiten können, dann wäre ihr kein Leid geschehen.«

Elrin schwieg einen Augenblick lang. »Du liebst sie sehr, nicht wahr?«

»Ja.« Sie schlang ihre Arme um ihn. »Sie ist eine wirklich gütige Frau. Ihre Angst, daß sie mich verlieren könnte, hat sie verrückt gemacht. Wir müssen selbst einen Weg finden, dann können wir ihr beweisen, daß ich sie nicht verlassen wollte. Vielleicht können wir sie sogar davon überzeugen, daß dein Vater-«

»Tharen Rime ist, wie er ist. Und es ist überall bekannt, daß er keine günstige Gelegenheit ausließ, um seinen Spaß zu haben. Wir brauchen ihn in den Augen deiner Mutter nicht reinzuwaschen. Ich bin zwar unter seinem Dach aufgewachsen, und er war tatsächlich etwas wie ein Vater für mich, doch ich wußte immer, daß er nicht mein leiblicher Vater war. Er war mehr ein Lehrer in Dingen des Lebens, und dieser Aufgabe ist er voll gerecht geworden. Ich selbst halte es immer noch für einen guten Vorschlag, ihm von unserer Lage zu berichten. Doch wenn du es nicht möchtest, wollen wir versuchen, selbst eine Lösung zu finden.«

Der Regen fiel ohne Unterlaß, und die Wolken deuteten an, daß es auch noch eine Weile so bleiben würde. Yeni nahm ein kleines Vorratspäckchen aus Thiomës Satteltaschen, das Elrin wie immer mitgebracht hatte. Es war nicht besonders viel, aber bis zum nächsten Morgen würde es ausreichen. Sie streckte sich bequem neben ihrem Gefährten aus und summte ein ruhiges Lied vor sich hin, das sie vor langer Zeit einmal von Mirea gelernt hatte. Dabei schloß sie die Augen, um sich besser von der Melodie treiben lassen zu können. Sie bemerkte gar nicht, daß sich ihre Fingerkuppen leicht in den Waldboden eingegraben hatten. Endlich spürte sie etwas Ruhe in sich aufsteigen, die letzten Wochen der Ungewißheit und des Versteckspielens hatten sie mehr in Atem gehalten, als sie geglaubt hatte. Es war wirklich ein Fehler gewesen, Mirea anzulügen. Sie hätte ihr von Anfang an sagen müssen, wie es um sie und Elrin stand. Mireas Reaktion wäre zwar nicht anders ausgefallen, aber dann hätte sie früher bemerkt, wie ernst es ihr war. Sie hätte schon viel eher das Haus im Wald verlassen sollen, dann wäre Elrin niemals...

Ach, komm, wies sie sich in Gedanken zurecht. Du weißt ganz genau, daß du Mirea niemals freiwillig verlassen hättest. Selbst um Elrins Willen nicht. Außerdem konntest du diesen Ausgang nicht vorausahnen. Unwillkürlich tastete sie mit der anderen Hand nach Elrin, der ihre Berührung erwiderte und ihr stumm Trost spendete. Sie spürte die Tropfen, die über ihre Wangen liefen, ihre Stimme wurde rauh und schwankte. Sie behielt die Augen geschlossen, als sie spürte, daß er seine Arme um sie legte. Sanft küßte er ihre Tränen fort, die wohltuende Wärme seiner Umarmung beruhigte sie, und sie schmiegte sich an ihn. Behutsam, fast ohne sie zu berühren, öffnete er ihre Lippen mit seinen, ihre Hände wanderten über seinen Rücken; einen Augenblick später, als hätten sie beide auf ein unsichtbares Zeichen gewartet, gaben sie sich ihrem gegenseitigen Verlangen hin.

Der nächste Morgen bot sich ihnen so, wie der Abend aufgehört hatte. Immer noch fielen die Regentropfen auf Dere hinab, als wollten sie die Erde ertränken. Dazu war ein leichter Wind aufgekommen, der über das Land hinwegstrich. Elrin und Yeni waren zu dem Entschluß gekommen, trotz des Regens loszureiten, damit sie möglichst viele Meilen zwischen sich und den Wäldern der Umgebung legen konnten. »Wir sollten unsere Suche in der nächstgrößeren Stadt beginnen«, hatte Elrin vorgeschlagen. »Weiter im Süden werden wir auf den Fluß Darpat stoßen, der uns in weniger als fünf Tagen nach Perricum führen wird. Dort gibt es ganz sicher jemanden, der weiß, was wir tun können.«

»Ja, das wird das beste sein«, hatte Yeni geantwortet, doch ihr Herz sprach eine andere Sprache. Sie wußte, wenn jemand diesen Fluch brechen konnte, so mußte er wissen, welche Art Magie ihn an Elrin gebunden hatte. Und das bedeutete unweigerlich, daß Mirea nicht mehr sicher war. Sie wußte genau, daß die Menschen nicht besonders gut auf Hexen zu sprechen waren. Wenn sie vertrieben wurden, so waren sie noch glimpflich davongekommen. Mirea wußte Geschichten von anderen Schwestern zu erzählen, die schlimmere Schicksale erlitten hatten. Doch vorerst wollte sie Elrin nicht widersprechen. Er war es schließlich, der die größere Bürde dieses Fluches trug.

Schließlich waren sie unterwegs. Sie duckten sich unter dem Regen, während sie langsam nach Süden ritten. Wäre ihnen jemand begegnet, so hätte er festgestellt, daß sie zwar beide auf nahezu einer Höhe ritten, das Mädchen jedoch immer etwa einen halben Schritt zurückblieb. Sie sprachen nicht viel, die Tatsache, daß sie sich nicht in die Augen sehen konnten, vernichtete jede Lust an einer Unterhaltung. Statt dessen betrachtete Yeni die unbekannte Landschaft um sich herum und versuchte, sich an der neuen Umgebung ein wenig aufzuheitern. Ihr ganzes Leben hatte sie immer denselben Wald, dieselben Bäume und Büsche gesehen; doch jetzt, da sie Gelegenheit hatte, etwas völlig Neues kennenzulernen, konnte sie sich nicht wirklich daran erfreuen. Sie war wütend auf Mirea, die ihr einen fröhlicheren Anfang ihres zweiten Lebens verwehrte.

Am späten Nachmittag erreichten sie den Fluß. Fast zum selben Zeitpunkt ließ auch der Regen nach, und sie konnten sich endlich wieder in den Sätteln aufrichten. Am Ufer saßen sie ab, ließen die Pferde trinken und machten sich auf die Suche nach jagbarem Wild. Elrin hatte sich mit seiner Schleuder in den Wald geschlagen, während sie sich einen Stock anspitzte und damit, im Fluß auf einem Stein stehend, auf Fische wartete. Bis zum Abend hatten sie genug Nahrung für zwei Mahlzeiten zusammen, und Yeni entfachte an einer regengeschützten Stelle im Wald ein kleines Feuer, über dem sie das Fleisch brieten. Während sie das Essen zubereitete, bemerkte sie, wie sich Elrins Kopf immer wieder in ihre Richtung drehte, um sich dann plötzlich abzuwenden, als habe er in ein grelles Feuer geblickt.

»Yeni, was hat deine Mutter mit uns angestellt?« Sie hatten ihr Mahl vor einer Stunde beendet und saßen nun schon eine Zeitlang schweigend mit dem Rücken an einen großen Baum gelehnt. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Fluch nur das Produkt des Hasses einer Frau sein kann. Sie beherrscht Magie, habe ich recht?«

»Elrin, ich möchte nicht darüber reden, nicht über Mirea. Es tut mir weh, daß sie unser Glück so zunichte machen mußte. Doch immer noch liebe ich sie, deshalb möchte ich nicht darüber nachdenken. Ich möchte diese Gefühle für sie nicht verlieren.«

»Es ist erstaunlich, wie sehr du sie liebst. Dennoch bleibt die Frage, was sie wirklich getan hat. Aber wenn du nicht darüber sprechen willst, so brauchst du es auch nicht. Es macht ohnehin keinen Unterschied. Jemand, der sich mit solchen Dingen beschäftigt, wird schon wissen, was er zu tun hat. In Perricum werden wir zuerst in den Praios-Tempel gehen. Dort wird man uns gewiß weiterhelfen können.«

Yeni wollte auffahren, hielt sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. In den Praios-Tempel? Bei der Erdmutter! Wie sollte sie ein solches Haus auch nur betreten? Aber bestimmt war dies nur eine von vielen Möglichkeiten, die sich in der nächsten Zeit noch bieten würden. »Wir werden es schon schaffen«, sagte sie deshalb und versuchte, ihre Stimme so unbekümmert wie möglich klingen zu lassen.

»Wir müssen«, sagte Elrin. Seine Stimme war plötzlich heftig geworden. »Es würde für mich den Tod bedeuten, wenn nicht. Ich bin nur noch ein Nervenbündel, auch wenn man es mir nicht sofort ansieht. Ich muß dich endlich wieder sehen können, sonst ist mein Leben nichts mehr wert.«

Wisse, daß du ihm die Dunkelheit bringst! Mireas Worte knallten wie ein Peitschenhieb auf sie herab. Schluchzend schlang sie ihre Arme um Elrin und wußte nicht, daß sie es damit nur noch schlimmer für ihn machte.

Der Himmel präsentierte sich so strahlend klar, daß man gar nicht glauben wollte, welch ein Unwetter gestern noch geherrscht hatte. Die Vögel hatten ihren Lebensmut wiedergewonnen und flogen fröhlich zwitschernd umher, trafen sich hier und dort zu kleinen Gruppen zusammen, um dann wieder aufzusteigen. Die Stimmen des Waldes fanden wieder zu voller Stärke, das Gras und Laub trocknete in den willkommenen Sonnenstrahlen. Kiasso und Thiomë trabten leichtfüßig nebeneinander her, sie teilten die Freude der Natur an der freundlichen Witterung und ließen ab und an ein wohliges Schnauben hören. Ihre Reiter vermochten die Rückkehr des Sommers nicht so ausgiebig zu genießen, dazu waren ihre Gedanken zu sehr von traurigen Gefühlen überschattet. Seite an Seite folgten sie dem Flußlauf, der sich durch dichtes Waldgebiet schlängelte. Doch mit der Zeit stieg das Gelände immer weiter an, während das Ufer immer steiler wurde. Bald schon befanden sie sich nahezu fünfzig Schritt weit oberhalb des blauen Wassers. Auf dieser Seite fiel das Land über eine schroffe Klippe bis zum Fluß hin ab, während das gegenüberliegende Ufer auf einer Höhe mit der Umgebung war und in dichten Wald führte.

»Laß uns hier rasten«, sagte Elrin nach einiger Zeit. »Ich werde uns etwas zu essen besorgen.«

Sie zügelten ihre Pferde und saßen ab. Yeni begann, das Lager vorzubereiten, während ihr Gefährte seine Schleuder nahm und ein Stück den Hang hinabging, um im Wald nach Beute Ausschau zu halten.

Als er fort war, wandte sie sich der Klippe zu. Sie stellte sich an den Rand und blickte über das Gebiet, das sich zu ihren Füßen erstreckte. Überall war nichts als Wald, hier und da ein paar Felsen; weit dahinter ragte das Massiv des Raschtulswalles in den Himmel auf. Dieses Gebirge war mindestens genauso schwer zu bezwingen, wie Mireas im Zorn gesprochener Bann. Es gab nur eine Möglichkeit, wie sie und Elrin dem Fluch entrinnen konnten. Sie hockte sich am Rand der Klippe hin und betrachtete die Finger ihrer rechten Hand. Der Ring funkelte golden im Sonnenlicht, während der blaue Stein die Strahlen vielfach brach und lebhaft glitzerte. Sie zog ihn ab und legte ihn behutsam auf den Boden. Danach schlüpfte sie aus ihren Schuhen und richtete sich wieder auf. Mit leichtem Schwung warf sie die beiden kleinen Bündel die Klippe hinab. Dann betrachtete sie den Fluß, der weit unter ihr entlangfloß. Sie stellte sich vor, wie sie die Arme spreizte, wie sie das Gesicht zum Himmel erhob und die Augen schloß. Der Wind umspielte ihren schlanken Körper, während sie reglos dastand, um für sich und Elrin Frieden zu finden. Sie spürte, wie sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte. Verzeih, mein Liebster, aber ich will nicht länger eine Qual für dich sein. Wenn ich fort bin, wirst du dein Leben wieder für dich selbst bestimmen können. Verzeih, Mirea, aber du hast ihr weh getan. Warte nicht auf deine Tochter, denn sie wird nicht zurückkehren. Langsam neigte sich ihr Körper nach vorne, streifte die Fesseln der Schwere ab, um einem sturmbrausenden Flug Platz zu machen, der Elrin und ihr endlich Frieden bringen würde.

Als der junge Mann den Lagerplatz erreichte, war er verlassen. Er legte den Rotpüschel, den er bei den Ohren hielt, beiseite und sah sich um. Die Pferde waren beide noch da, also konnte sie nicht weit fort sein. Schulterzuckend machte er sich daran, ein Feuer zu entfachen. Als er aber zwanzig Minuten später immer noch allein war, begann er sich zu sorgen. Er ging zum Waldrand zurück und spähte durch die Äste. »Yeni?« rief er, bekam jedoch keine Antwort. Er kehrte zum Lager zurück und rief erneut, wieder ohne Erfolg. Unschlüssig wanderte er herum und suchte nach seiner Begleiterin. Immer wieder rief er ihren Namen, ohne eine Reaktion zu bekommen. Doch plötzlich sah er etwas direkt am Abhang glitzern. Er ging zu der Stelle hinüber und entdeckte den Ring.

»Nein«, flüsterte er und hob das Schmuckstück auf. »Das kannst du nicht getan haben.« Damit wandte er sich wieder der Klippe zu und spähte hinab. »Yeni!« rief er wieder, doch immer noch blieb es still. Der Abhang fiel steil bis zum Fluß hin ab, es gab keine Möglichkeit, gefahrlos hinabzuklettern. Doch Elrin war außer sich vor Furcht. Was, wenn sie es doch getan hatte? Wie sollte er dann weiterleben? Panisch lief er zu Thiomë, sprang auf den Rücken der Stute und preschte in gestrecktem Galopp den Hang hinab. Wenig später hatte er die Stelle erreicht, wo das Land eben war. Ohne anzuhalten lenkte er sein Tier in den Fluß, das bereitwillig hineinwatete. Dann ritt er wieder flußabwärts, das Wasser spritzte von Thiomës Hufen auf, als sie das Flußbett entlanglief. Es dauerte einige Minuten, bis er die Stelle erreicht hatte, die er von oben gesehen hatte. Hier zügelte er die Stute und sprang ab. Sofort begann er, die Felsen in der Umgebung nach Hinweisen abzusuchen.

Er brauchte lange, bis er endlich etwas gefunden hatte. Ein Stoffknäuel lag vor ihm auf einem Felsen. Er tastete sich heran und erkannte, daß es einer der Schuhe war, die Yeni getragen hatte. Ein kleines Stück weiter lag der andere. Eine grenzenlose Leere begann sich in seinem Innern auszubreiten, als er den Schuh aufhob. Der Ring, den er sich in seine Wamstasche gesteckt hatte, schien auf einmal viele Steine zu wiegen. Er holte ihn heraus und starrte das blau funkelnde Juwel an. Es war ein gut geschliffener Saphir, der Stein der Liebenden, auf dem die silberne Gravur einer Gans angebracht war. Warum hatte sie das getan? »WARUM HAST DU DAS GETAN?« schrie er und warf den Ring von sich, der daraufhin mit einem leisen Platschen im Darpat versank.

Viele Stunden später saß Elrin immer noch oben an der Klippe und blickte hinab in das mittlerweile dunkle Land. Er verstand nichts mehr. Sie hätten bestimmt eine Lösung gefunden! In Perricum gab es ganz sicher jemanden, der ihren Bann hätte brechen können. Selbst wenn Mirea die Zauberei beherrschte – so mächtig konnte sie nicht sein, daß ein Hochgeweihter des Praios nicht hätte siegen können. Warum hatte das Weib ihnen das Glück auch so mißgönnt? Sie allein trug die Schuld an dem, was geschehen war. Wenn sie nicht gewesen wäre, könnten er und Yeni...

Die Nacht brach an, und Elrins Zorn verdichtete sich. Er war mittlerweile zu dem Schluß gekommen, daß er ohne Yeni nicht weiterleben wollte. Aber bevor er ihr folgte, wollte er noch eine Sache erledigen. Mirea sollte ihre Ränke nicht umsonst geschmiedet haben. Sie sollte erfahren, was geschehen war und wer die Schuld daran trug. Die Strafe würde man den Praiosdienern von Rommilys überlassen, denn sicherlich ging es hier um irgendeine Art eines dunklen Zaubers, der nicht nach Dere gehörte. Am nächsten Morgen wollte er losreiten, um seine letzte Aufgabe auszuführen.

Während er Kiasso zu höchster Eile antrieb, verlebte er in Gedanken noch einmal die Zeit, die er mit Yeni verlebt hatte. Sie hatten nur eine einzige Liebesnacht miteinander verbringen können, doch schien sie ihm so nahe zu sein, wie es noch kein Mensch zuvor gewesen war. Dicke Tränen verschleierten seine Sicht, doch er wischte sie nicht fort. Er sah wieder die Bilder seines letzten Traumes vor sich; Yeni stand mit weit abgespreizten Armen am Rande der Schlucht und sprang dann hinab. Wie ein Pfeil stürzte ihr Körper in die Tiefe, um auf den Felsen aufzuschlagen und schließlich vom Fluß davongetragen zu werden. Wenig später stand er selbst an der Klippe und spreizte die Arme.

Genau so soll es sein, dachte er grimmig. Ich werde dir folgen, wenn ich zurückkomme. Dann wird uns keine Macht unter dem Angesicht der Götter mehr trennen können. Mit einem lauten Schrei der Verzweiflung trieb er Kiasso nochmals an und preschte so schnell über die Felder, daß Thiomë kaum mithalten konnte.

*

Tharen Rime saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch. Unter seinem Kopf lagen einige Pergamente, die mit Reihen voller Zahlen und Buchstaben beschrieben waren. Das Talglicht daneben war schon zu drei Vierteln heruntergebrannt, die Feder steckte im offenen Tintenfaß. Das Gesicht des Mannes, das im Augenblick entspannt und ruhig wirkte, war in der letzten Zeit immer stärker gealtert. Elrin war nun schon seit vier Tagen verschwunden. Er wollte eigentlich nur zu seinem Mädchen, der kleinen Heilerin, doch bis heute war er nicht zurückgekehrt. Dabei hatte er sogar einen Hochzeitsring bei sich gehabt. Zu der Sorge um seinen Pflegesohn gesellten sich die Probleme, die er mit seinem Geschäft hatte. Jetzt, da er alle Pflichten allein übernehmen mußte, kam er seltenst vor Mittnacht ins Bett und mußte doch beim ersten Hahnenschrei wieder aufstehen, um seine Kunden zu bedienen. Die beiden prachtvollen Pferde, die er verloren hatte, waren dagegen nur ein kleineres Übel, das im Gesamtbild nicht mehr viel zu bedeuten hatte.

Der ältere Mann schreckte aus seinem Halbschlaf hoch und rieb sich den steifen Nacken. Er blickte auf die Notizen, doch die Schrift verwischte vor seinen Augen. Er gähnte einmal kräftig und stand auf, um sich ins Schlafzimmer zu begeben. Doch plötzlich hörte er Geräusche in der Gasse. Ein Pferd – nein, zwei Pferde kamen langsamen Schrittes näher. Tharen griff sich das Talglicht und ging zur Tür. Er öffnete sie und blickte auf die Straße hinaus. Tatsächlich, es waren zwei Pferde, eines ohne Reiter, und auf dem anderen kauerte eine zusammengefallene Gestalt.

Tharen Rime kannte seine Pferde gut genug, um zu wissen, wer dies sein mußte. Sofort eilte er zu dem Reiter hin und half ihm aus dem Sattel. Elrin sah völlig erschöpft aus, er konnte noch nicht einmal mehr stehen. Also stützte sein Pflegevater ihn, bis er auf einem weichen Sofa im Wohnraum gebettet war. Dann kümmerte Tharen sich um die beiden Tiere, die ebenfalls völlig ausgelaugt schnauften und deren Fell vor Schweiß glänzte. Was immer geschehen war, er konnte alles am nächsten Morgen erfahren, oder am Mittag, wenn es die Zeit nicht anders erlaubte.

Als Tharen kurz nach Sonnenaufgang aus seinem Fenster sah, lag dichter Nebel über der Stadt. Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren hinter einem sanften Schleier aus feiner Seide verborgen, der sich im Wind blähte. Bevor es nicht aufklarte würde es sich kaum lohnen, das Geschäft zu eröffnen. So begab er sich in aller Ruhe nach unten, um seine gestern unterbrochene Arbeit fortzusetzen. Die Papiere lagen noch immer verstreut auf dem Schreibtisch herum, die Feder steckte allerdings wieder in der Halterung. Elrin schlief immer noch in dem Sofa und atmete ruhig vor sich hin. Tharen beschloß, ihn nicht zu stören und setzte sich an den Tisch.

Er hatte endlich seine Aufzeichnungen fertig und war gerade dabei, sie noch einmal durchzusehen, als Elrin erwachte. Tharen wandte sich um, als er hörte, wie sein Sohn sich regte. »Guten Morgen, Elrin.«

»Vater?« Elrin öffnete die Augen und blickte im Zimmer umher, bis er die vertraute Gestalt Tharen Rimes entdeckte. »Wie komme ich hierher?«

»Das würde ich gerne von dir wissen.« Der ältere Mann stand auf und ging zu Elrin hinüber. »Du bist gestern nach Mittnacht völlig erschöpft angekommen. Kiasso und Thiomë sahen aus, als hättest du sie den ganzen Tag umhergehetzt.«

»Ich fürchte sogar, das habe ich.« Elrin setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Vater, ich brauche deinen Rat.«

»Geht es um das Mädchen? Die junge, hübsche Heilerin, die du heiraten wolltest?«

»Und um ihre Mutter.« Elrins Züge verhärteten sich, als er an die Frau dachte, die ihm solches Leid gebracht hatte. »Vater, dein Sohn ist verflucht.«

»Habt ihr euch zerstritten? Machst du dir deswegen Vorwürfe?«

Elrin schüttelte den Kopf. »Es ist, wie ich sagte. Mirea hat mich verflucht, weil sie ihre Tochter nicht an den Sohn von Tharen Rime freigeben wollte.« Langsam erzählte Elrin davon, wer Mirea wirklich war, von den Geschehnissen am Bach und von seiner tragischen Entdeckung am Darpat. Tharen unterbrach ihn nicht, obwohl er das eine oder andere Mal die Stirn runzelte. Schließlich war Elrin am Ende seiner Erzählung angekommen und trocknete seine Tränen, die durch die Erinnerungen hervorgerufen wurden.

»Ich hatte gleich das Gefühl, die junge Dame zu kennen. Also war sie meine Tochter. Und Mirea... Nun, ich kann verstehen, daß sie mich nicht sonderlich mag, doch ihre Verbitterung durfte sie nicht an dir und ihrer Tochter auslassen. Noch dazu auf solch heimtückische Weise. Ich frage mich nur, wie sie zu solch einer Tat überhaupt fähig ist. Aber sag, Elrin: Hast du irgendwelche Spuren von Yeni gefunden?«

»Nur ein paar Kleidungsstücke. Sie sind in Kiassos Satteltaschen.«

»Dann zieh dich an, und nimm sie mit. Wir werden der Sache auf den Grund gehen.« Tharen wandte sich um und ging die Treppe hinauf.

»Wir werden was?« fragte Elrin verwirrt, aber Tharen war schon außer Sicht. Grübelnd stand er auf und schlüpfte in seine Sachen. Im Stall suchte er den Sattel und nahm die Stoffschuhe heraus. Gewaltsam unterdrückte er die Gefühle, die sich seiner Seele bemächtigen wollten und kehrte ins Haus zurück.

Tharen war schon im Studierzimmer und verpackte gerade etwas in einigen Stofflappen. Als er Elrin bemerkte, schnürte er noch das letzte Band zu und richtete sich dann auf. »Du bist soweit? Das ist gut. Wir sollten keine Zeit verlieren. Wenn sich der Nebel verzogen hat, will ich zurück sein.«

Mit einer Handbewegung bedeutete er seinem Pflegesohn ihm zu folgen, als er den Raum verließ und auf die Straße trat. Der milchige Nebel lag dick und schwer in der Luft. Der Vorhang teilte sich dort, wo die beiden Männer entlanggingen. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sich ein feuchter Film auf der Kleidung, der Haut und den Haaren gebildet. Tharen ging voran, das Bündel über seine Schulter geworfen.

»Wohin gehen wir?« fragte Elrin.

»Ich werde dir zeigen, was noch niemand von mir weiß. Es ist nämlich kein Zufall, daß meine Geschäfte so gut laufen. Es ist nicht leicht, den geschwätzigen Klatschmäulern etwas zu verheimlichen, doch mein Rezept haben sie – Phex sei Dank – noch nicht herausgefunden.«

»Und was ist es?«

Tharen grinste ihn über die Schulter an. »Nicht hier, mein Sohn... Die Straße hat ihre eigenen Ohren, auch wenn man sie nicht sehen kann.« Leise kichernd ging er weiter.

Elrin hatte seinen Vater noch nie so geheimnisvoll erlebt. Normalerweise war er ein offener und – wenn es um persönliche Dinge ging – ehrlicher Mensch. Elrin hatte seinen Erfolg immer dem enormen Instinkt eines erfahrenen Händlers zugeschrieben. Was also war es, das Tharen benutzte, um seinen Konkurrenten voraus zu sein?

Der Weg, den Tharen benutzte, führte sie immer weiter ins Innere der Stadt. Nach einiger Zeit verließen sie die breite Hauptstraße, um kleinere Gassen zu nutzen, die dunkel und schmutzig zwischen den Häusern lagen. In diesen schmalen Wegen verlor sich der Geruch nach frischem Brot und Kräutern schnell, der sonst überall gegenwärtig war. Hier und da schlief jemand auf harten Steinstufen oder dem sandigen Boden, nur unzureichend gegen die Kälte und Nässe geschützt. Bettler, oder Vagabunden, so nannte man sie, doch Elrin taten sie im Augenblick nur sehr leid.

Er war so in seine Gedanken versunken, daß er gerade noch bemerkte, daß Tharen vor ihm stehengeblieben war. Seine Gestalt war in der Dunkelheit und dem Nebel nur schwach zu erkennen. Er klopfte an die Holztür eines verfallenen Hauses und lauschte. Dies alles hatte etwas so Geheimnisvolles an sich, daß Elrin kurzzeitig nicht zu atmen wagte. Einige Augenblicke später hörte er ein Flüstern, das sein Vater in einer ihm unbekannten Sprache beantwortete. Nur einen Moment später wurde ein Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet.

Tharen winkte Elrin und ging dann hinein. Elrin folgte ihm und betrat den dunklen Raum. Hinter ihm schloß sich die Tür und eine Fackel flammte auf. Ein alter Mann ging an den beiden vorbei und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Seinem Aussehen nach zu schließen, mußte er schon mindestens siebzig Sommer erlebt haben, sein Rücken war stark gekrümmt, das Gesicht voller Falten und Runzeln. Eines seiner Augen war durch eine Binde verdeckt, das andere blickte trübe. Die Finger der Hand, welche die Fackel trug, muteten eher wie morsche Zweige als wie menschliche Gliedmaßen an. Der Alte brachte sie zu einer weiteren Tür, die er öffnete und sie hineinbat. Der Raum dahinter war recht groß, die gegenüberliegende Wand bildete ein Vorhang, der schmucklos von der Decke herabhing. Die Luft war erfüllt vom Geruch verbrannter Kräuter und Pflanzen. »Warte hier, Elrin«, sagte Tharen und folgte dem Buckligen, der den Vorhang in der Mitte teilte, um den Gast Einlaß zu gewähren. Sein Sohn blieb allein zurück.

Elrin staunte nicht schlecht, als er Tharen aus dem verdeckten Raum kommen sah. Er trug eine Kette aus funkelnden Plättchen um den Hals und merkwürdige Zeichen auf der Stirn, die wie eine unbekannte Schrift aussahen. Sein Gesicht war erfüllt von Fröhlichkeit, und er grinste Elrin begeistert an. »Komm mit, Gion will dich sehen.« Er legte dem Jungen seinen Arm um die Schultern und führte ihn zu dem Vorhang, der auf Elrin nun wie ein Tor in eine andere Welt wirkte. Tharen schob den schweren Stoff zur Seite und ging hinein.

Das erste, was Elrin bemerkte, war der starke Geruch nach Kräutern, den er schon zuvor wahrgenommen hatte, nur viel intensiver. Dieser Teil des Raumes war in düsteres Licht getaucht, das von einer Vielzahl an kleinen Kerzen und Lämpchen herrührte, die mit bunten Glasplättchen verziert waren. An den Wänden hingen Talismane und Artefakte jeder Art, der Boden war bedeckt mit Blütenblättern, und überall fanden sich mystische Symbole, die mit verschiedenfarbiger Kreide aufgemalt worden waren. In der Mitte des Zimmers saß ein Mann im Schneidersitz auf dem Boden, dessen Kleidung sich auf einen Lendenschurz beschränkte. Er hatte die Augen geschlossen und seine Hände auf die Knie gelegt. Tharen bedeutete seinem Sohn, sich hinzusetzen. Elrin nahm auf einem der bereitgelegten Kissen Platz; sein Vater ließ sich neben ihm nieder.

Gion griff zu einer Kette, die vor ihm lag und reichte sie Elrin, ohne die Augen zu öffnen. Nachdem Tharen ihm aufmunternd zugenickt hatte, legte er sie sich um den Hals. Dann nahm der Schamane einen kleinen Tiegel und tauchte seinen Finger in die darin befindliche Flüssigkeit. Seine Augen blieben geschlossen, während er zielsicher ein paar Zeichen auf Elrins Stirn anbrachte. Er sank zurück in seine Hockstellung, atmete tief durch und sagte einige Worte, die Elrin allerdings nicht verstand. Tharen antwortete in derselben Sprache. »Er meint, er weiß, daß du vertrauenswürdig bist. Ich werde draußen warten. Gion hält seine Sitzungen grundsätzlich nur mit einer Person ab. Hab keine Angst, er ist begeistert, dich kennenzulernen.« Tharen stand auf und verließ den Raum durch den Vorhang.

Elrin fragte sich, wie man in diesem Gesicht Begeisterung erkennen sollte. Gion war hager, vollbärtig und hatte eine Glatze. Seine Haut war etwas dunkler als die der übrigen Stadtbewohner, und auch seine Lippen wirkten voller als üblich. Er mußte einen gehörigen Schuß Mohablut in den Adern haben. Seine Bewegungen wirkten schlangengleich; exakt und präzise, aber dennoch anmutig.

»Du bist Elrin«, sagte Gion schließlich und öffnete die Augen. Wider Erwarten strahlten sie in einem hellen Blau. »Du bist gekommen, um etwas über deine Liebe zu erfahren, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, weshalb ich hier bin«, gestand er freimütig. »Mein Vater hat mich hierher gebracht, nachdem ich ihm erzählt habe-«

»Ich weiß, was du ihm gesagt hast. Ich weiß, was geschehen ist, und ich fühle deinen Schmerz, deinen Haß. Aber ich spüre noch etwas an dir. Etwas, das nicht zu dem paßt, das ich von deinem Vater gehört habe.« Er beugte sich zu ihm vor und blickte ihm geradewegs in die Augen. »Du liebst dieses Mädchen, mehr als dein Leben. Und du hast vor, eben dieses aufzugeben, nicht wahr? Das ist es, was du deinem Vater verschwiegen hast.«

»Ja, ich konnte es ihm nicht sagen. Er hat auch so schon genug Sorgen.« Die Stimme des Mannes verleitete ihn dazu, mehr zu sagen, als er eigentlich wollte, doch er konnte sich nicht dagegen wehren.

Gion lehnte sich wieder zurück und rieb seine Handflächen aneinander. Ein leises Knistern war zu hören, als er sie wieder voneinander löste. »Gib mir die Schuhe deines Mädchens.«

Zögernd griff Elrin in seine Umhängetasche und holte die Bündel heraus. Vorsichtig legte er sie in die erwartungsvoll offen stehenden Hände des Schamanen. Gion nahm sie an sich und legte sie in seinen Schoß. Dann griff er hinter sich und zog einen flachen, rosig glänzenden Stein hervor, der wie ein flacher Teller geformt war und einen Durchmesser von fast einem Spann hatte. Er legte ihn auf das Bündel und starrte darauf. Elrin versuchte etwas zu erkennen, sah jedoch nichts außer dem, was darunter lag. Gions Gesicht dagegen zeigte äußerste Anspannung, als betrachte er etwas höchst Interessantes. Ab und an murmelte er unverständliche Worte, um gleich darauf wieder zu schweigen.

»Dein Mädchen ist äußerst bemerkenswert«, sagte Gion so plötzlich, daß Elrin erschreckt aufblickte. »Genau wie ihre Mutter. Sie beide sind sich sehr ähnlich.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß-«

»Nicht in dieser Weise, Elrin. Mirea ist eine verbitterte Frau, der das Leben übel mitgespielt hat. Diese Erfahrungen sind Yeni fremd, und daher ist sie so, wie es ihre Mutter einst war: gutmütig, hilfsbereit und allem Neuen aufgeschlossen. Auch sie liebt dich von Herzen, und deshalb hat sie dich verlassen. Sie leidet große Qual und Kummer wegen ihrer Mutter und dem, was sie euch angetan hat.«

»Aber wie kann sie jetzt noch leiden? Boron hat sie sicherlich schon in seine Hallen eingeladen, um sie zu Peraine zu bringen.«

»Mitnichten, mein lieber Elrin. Noch dazu wäre sie bei Peraine am falschen Ort. Sie lebt, Junge. Sie wollte dich nur glauben machen, daß sie nicht mehr unter uns weilt, damit du sie nicht suchst und wieder leiden mußt.«

Elrin war wie versteinert. Woher wollte er dies wissen? Yeni würde nie... Oder vielleicht hatte der komische Kauz ja recht. Möglicherweise wollte sie ihm tatsächlich die Qual ersparen, die der Fluch für ihn bedeutete. Aber wenn sie noch lebte, konnte er sie finden und endlich jemanden suchen, der ihnen helfen konnte.

»Nein, Elrin. Sie wird nicht wollen, daß du sie suchst.« Gion hatte sich wieder vorgebeugt und starrte in seine Augen. »Sie weiß genausowenig wie du, was dieser Fluch wirklich bedeutet. Ja, Mirea ist eine Hexe, doch weißt du, wie mächtig sie wirklich ist?«

»Ich weiß es nicht, aber keine Hexe kann so mächtig sein, daß ein Praios-Geweihter nicht den Fluch brechen könnte.«

»Und du glaubst also, jeder Praiosdiener hätte nichts Besseres zu tun, als euren kleinen Fluch zu brechen, der vielleicht viel mächtiger ist, als ihr beide es erahnt?«

»Wenn es Praios dienlich ist-«

»Woher weißt du, daß es das ist? Vielleicht will er gar nicht, daß dieser Fluch zurückgenommen wird? Vielleicht mißfällt ihm ja auch eure Verbindung. Weißt du eigentlich, was Yeni ist?«

»Eine Heilerin, sonst nichts.«

Gion brach in schallendes Gelächter aus. Er lachte so sehr, daß er nach hinten überkippte und auf dem Rücken liegenblieb. Seine dröhnende Stimme schien den gesamten Raum auszufüllen und sich in den Ohren festzusetzen. Er lachte immer weiter und rief irgendwelche Worte, die Elrin nicht verstehen konnte. Langsam wurde ihm die Situation unheimlich. Elrin stand auf und wandte sich plötzlich fluchtartig um, stieß den Vorhang zur Seite und hätte um ein Haar seinen Vater umgerannt, der auf der anderen Seite gewartet hatte. Panisch lief er – verfolgt von dem noch immer anhaltenden Gelächter des Schamanen – durch den Raum, stieß die Tür auf, stolperte durch den dunklen Korridor und landete schließlich in der Gasse, die sie hierhergeführt hatte. Dort blieb er stehen und zwang sich, ruhiger zu atmen. Der Nebel hatte sich verzogen, und klares Licht durchflutete den schmalen Weg. Vor seinem geistigen Auge sah er Yeni, die irgendwo auf ihn wartete, ohne selbst davon zu wissen.

*

Erschöpft lag sie bäuchlings im Laub, und irgend etwas krabbelte über ihr Gesicht. Sie widerstand dem Drang, die Berührung fortzuwischen, blieb statt dessen still liegen und ließ keine Gedanken in ihr Bewußtsein kommen. Die Bilder, die sich einstellten, konnte sie jedoch nicht so einfach ausschließen. Sie stellte sich ihren Körper vor, zerschlagen und tot, als wäre sie tatsächlich von der Klippe gesprungen. Elrin kam ins Bild, entdeckte sie, wie sie still am felsigen Ufer lag und hob sie auf. Er trug sie in den Wald, der seit jeher ihre Heimat war, um sie dort zur letzten Ruhe zu betten. Yeni hoffte, er würde über den Schock hinwegkommen. Sie wünschte sich, daß zumindest er ohne Kummer und Schmerz weiterleben konnte, wenn sie schon mit dem Erbe ihrer Mutter geschlagen war. Sie wußte eines ganz genau: Niemals wieder würde sie sich verlieben können, denn damit kämen all ihre Sorgen und der Kummer, den sie nun zu verdrängen begann, zurück, um sich erneut ihres Geistes zu bemächtigen. Erschrocken stellte sie fest, daß sie trotz aller Anstrengung wieder an Elrin und Mirea zu denken begann. Brüsk schüttelte sie den Kopf und richtete sich auf.

In diesem Augenblick hörte sie, wie etwas laut raschelnd hinter ihr im Gebüsch verschwand. Schnell wandte sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches oder Bedrohliches ausmachen. Vorsichtig stand sie auf und strich sich das Laub aus den Haaren. Ihre Fußsohlen schmerzten ein wenig. Kein Wunder, sie war ja auch quer durch einen Fluß gewatet und danach eine weite Strecke mitten durchs Unterholz gelaufen, ohne Schuhe zu tragen. Sie sah sich um und entdeckte nach wenigen Augenblicken einen umgestürzten Baum, auf dem sie sich niederließ. Sie feuchtete einen Finger an und berührte damit ihre Fußsohlen, während sie sich auf den Heilzauber konzentrierte. Sie atmete erleichtert auf und dankte Satuaria, als das Brennen endlich nachließ.

Wieder hörte sie etwas, das hinter ihrem Kopf zu sein schien. Es klang wie ein geflüsterter Ausruf, doch als sie sich abermals umblickte, war wieder nichts zu sehen. Unruhig wandte sie mehrmals den Kopf hin und her, ohne jedoch Anzeichen eines Lebewesens entdecken zu können. Behutsam machte sie ein paar Schritte von dem Stamm fort und beobachtete ihre Umgebung. Sie beschloß, diese Lichtung zu verlassen, um weiter innerhalb des Waldes nach Schutz und Zuflucht zu suchen.

Der Wald schloß sich wie die Umarmung eines liebenden Menschen um sie, als Yeni aufbrach. Sie genoß das Gefühl der Geborgenheit, das ihr die Bäume vermittelten; die Beeren, die sie hier und da pflückte, schmeichelten ihrer Zunge, als wären sie edelste Speisen, nur dazu da, um sie glücklich zu machen. Das Auge des himmlischen Richters blickte getrübt durch die Baumkronen, als es seinen täglichen Rundgang begann. Auch vor ihm war sie hier sicher, hier konnte sie endlich sie selbst sein. Die Tatsache, daß es gerade Morgen war, ließ sie erkennen, wie lange sie auf der Lichtung gelegen haben mußte. Sie schickte abermals ein Dankesgebet an Satuaria, daß sie nicht in der Zeit das Opfer eines hungrigen Waldwesens geworden war.

Sie wanderte bis zum späten Nachmittag umher, ernährte sich von Beeren, Kräutern und Wurzeln, stillte ihren Durst an einem schmalen Waldbach und ruhte sich schließlich auf einem kleinen Felsen aus, der stark von Moos überwuchert war.

Langsam begann sie darüber nachzusinnen, wie sie die kommende Nacht verbringen wollte. Sie würde einen Unterstand brauchen, ein kleines Feuer vielleicht. Aber ohne Feuerstein oder ein Zunderkästchen würde das eine mühselige Arbeit werden. Sie zuckte mit den Schultern, erholte sich noch einige Zeit und begann dann, in der näheren Umgebung nach trockenem Holz zu suchen, das sie an der windgeschützten Seite des Felsens aufhäufte. Einige Steine begrenzten die Feuerstelle, und trockenes Gras diente als Zunder. Wie es ihr jemand vor langer Zeit beigebracht hatte, suchte sie sich ein gerades Stück Holz, schälte die Rinde ab und begann, es auf einem anderen Holzstück schnell hin und her zu drehen. Schon wenige Augenblicke später stand ihr der Schweiß auf der Stirn, während sie weiter versuchte, ein Feuer zu entzünden. Eine Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ sie innehalten. Links von ihr, etwa einen halben Schritt entfernt, flackerte ein kleines Flämmchen etwa einen Spann – wie es schien – über dem Boden. Ungläubig und fasziniert zugleich starrte sie das kleine Licht an, das sich langsam hüpfend in ihre Richtung bewegte. Vorsichtig rutschte sie ein Stück von der Flamme weg und sah, wie sie auf das Holzhäufchen zusteuerte, begleitet von einem hohen Summen, ähnlich einer Kinderstimme, die ein Lied singt. Mit einem leisen Quieken schnellte das Flämmchen ein paar Finger weit in die Luft und fiel dann in das Brennholz, das sofort zu knistern begann. Yeni schüttelte den Kopf, doch das Feuer blieb. Auch die Stimme war weiterhin zu hören, jetzt allerdings etwas leiser und dunkler als gerade noch. Doch langsam wurde das Summen immer leiser, es schien sich zu ihrer Linken hin zu entfernen, bis es schließlich gar nicht mehr wahrzunehmen war.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Yeni den Mut dazu aufbrachte, näher an das fröhlich flackernde Feuer heranzugehen. Sie streckte eine Hand aus und fühlte die Wärme des Feuers. Es schien also Wirklichkeit zu sein. Auch ein Stock, den sie probehalber in die Flammen hielt, brannte nach kurzer Zeit an der Spitze, und sie warf ihn auf das restliche Holz. Unsicher blickte sie sich um. »Danke«, sagte sie; ihre Stimme klang rauh und belegt, da sie lange Zeit kein Wort gesprochen hatte. »Wer du auch bist«, murmelte sie, da sie keine Antwort bekam. Wenig später hatte sie sich soweit wieder unter Kontrolle, daß sie damit begann, ein paar starke Äste zu einem primitiven Unterstand zusammenzubauen. Einige Nadelbäume steuerten mit ihren Zweigen zu dem Dach bei, so daß sie auch bei Regen nicht fürchten mußte, naß zu werden. Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, setzte sie sich ans Feuer und dachte über ihre momentane Situation nach.

Wer auch immer dieses Feuer angezündet hatte, war schon länger in ihrer Nähe. Sie erinnerte sich an die unterdrückte Stimme, als sie auf dem Baumstamm gesessen hatte, und an das unerklärliche Rascheln im Laub, das sie aufgeschreckt hatte. Doch warum war er – oder es – so an ihr interessiert? Warum zeigte es sich nicht einfach, statt verborgen zu bleiben? Yeni beschloß, gleich am nächsten Morgen der Sache auf den Grund zu gehen.

Alles in allem ähnelte ihre jetzige Lage sehr stark dem Tag, an dem sie von zu Hause fortgegangen war – außer, daß sie heute nacht alleine sein würde. Plötzlich kam ihr Elrins Gesicht ins Gedächtnis, sanft und doch kraftvoll. Mit einem Schlag wallten all die aufgestauten Gefühle in ihr hoch, die sie so sehr zu verdrängen gesucht hatte. Sie spürte ihre Tränen und ihr krampfhaftes Schluchzen nicht, als sie völlig geistesabwesend ins Feuer starrte.

Als sie wieder klar denken konnte, war sie umzingelt. Etwa dreißig kleine, pelzige Wesen hatten sich um das kleine Lagerfeuer versammelt und gaben schnelle, piepsende Laute von sich, als unterhielten sie sich in einer fremden Sprache. Hier und da verschwand eines von ihnen spurlos, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Sie waren von annähernd kugelförmiger Gestalt, besaßen schwarze, runde Augen, die tief im Pelz vergraben waren, zwei recht große Füße und zwei dünne Ärmchen, die in händeähnlichen Gliedmaßen endeten. Wenn sie sich bewegten, taten sie dies mit kleinen Hopsern oder watschelten auf ihren viel zu großen Füßen umher. Eines der Wesen kam näher an Yeni heran und studierte sie eingehend.

Das Mädchen wagte kaum zu atmen – einerseits wollte sie die kleinen Kerle nicht erschrecken, andererseits konnte sie nicht wissen, was es für Wesen waren. Sie wußte, daß man niemals nach dem Aussehen den Charakter beurteilen durfte, sofern diese Wesen einen solchen besaßen.

Immer noch beobachtete sie der kleine Wicht eingehend. »Was machst du da?« fragte er plötzlich mit hoher Fistelstimme und fuhr mit der Hand von seinem Auge abwärts über sein Gesicht. Dabei legte er den Kopf schief und betrachtete Yeni, die völlig verwirrt war.

Überrascht bemerkte sie ihre Tränen und wischte sie fort. »Ich weine«, sagte sie nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Aber es geht schon wieder.«

»Was ist das, weinen?« Das Pelzknäuel kam näher herangehüpft.

Yeni hob die Augenbrauen. »Das machen wir, wenn wir traurig sind.« Sie deutete auf die Flammen. »Habt ihr das Feuer angezündet?«

»Ja, haben wir.« Er hob seine Hand, streckte einen kleinen Finger in die Luft, auf dem einen Moment später ein Flämmchen erschien. »Das ist gut, schützt uns vor großen Tieren.«

Bewundernd nickte Yeni. »Ich danke euch. Ich hätte es wahrscheinlich mit meinen Stöckchen nie geschafft.«

»Was bist du?«

Yeni war über diese Frage so verblüfft, daß sie zuerst gar nicht wußte, was sie sagen sollte. Dann fiel ihr ein, daß sie den Pelzwesen mindestens genauso fremd sein mußte, wie diese ihr. »Ich bin ein Mensch«, erklärte sie. Und nach einem kurzen Zögern: »Eine Tochter Satuarias.«

»Seid ihr alle so groß?« Mittlerweile hatte sich eine ganze Meute versammelt, die sich aneinanderdrängte, um den Besucher neugierig zu betrachten.

»Ich gelte bei meinem Volk eigentlich als recht klein«, sagte sie, woraufhin ein leises Murmeln durch die Menge ging. »Aber keine Angst, wir sind friedlich.« Sie hoffte, daß keines dieser Wesen eine gegenteilige Erfahrung machen würde.

»Ist Satuaria auch größer als du?«

»Na, ja... Das weiß ich nicht, aber ich denke schon. Sie ist die Herrscherin über die Zauberkraft der Natur, und ich gehorche ihr.« Sie begann, von Sumu zu erzählen, der Erdmutter, auf deren Leib sich alles Leben entwickelt hatte, von ihrer einzigen Tochter Satuaria, die aus einem Ei geschlüpft war und die Naturliebenden der Menschen zu sich holte, um sie zu unterrichten. Gespannt folgten die Augen der kleinen Wesen ihrer Hand, als sie etwas Erde aufhob, die Sumus Leib darstellte. »Und ihr? Wer – ich meine – was seid ihr? Sprecht ihr alle meine Sprache?«

»Wir sind die Vrasin. Wir leben schon immer hier. Wir haben dein Volk schon lange beobachtet und eure Sprache gelernt, weil sie so viele verschiedene Dinge kennt, die unsere Sprache nicht besitzt. Schon vor vielen Leben haben Vrasin sie ihren Nachkommen beigebracht. Nur wenige von uns entsinnen sich noch der Alten Sprache.« Er schwieg einen Augenblick. »Hast du Hunger?« fragte er dann.

Yeni nickte. »Ich habe nur ein paar Beeren gefunden, das reicht für einen Riesen wie mich nicht.«

»Dann komm, Mensch.« Er winkte mit seiner Hand. »Wir bringen dich zum Platz. Dort wird es genug Essen für uns alle geben.«

»Ich heiße Yeni«, sagte das Mädchen und erstickte das Feuer mit ein paar Handvoll Sand.

Das Pelzwesen wandte sich um, legte erneut den Kopf schief und blicke sie an. »Mein Volk nennt mich Fenri.« Damit hüpfte er voraus, und Yeni folgte ihm amüsiert. Ihre Traurigkeit war vergessen.

Der Platz war eine große Lichtung am Rande einer Felswand. In der Mitte der Fläche lag ein Findling von doppelter Mannshöhe, dessen Oberfläche rissig und von Flechten bewachsen war. In der Felswand klaffte ein Riß, der anscheinend häufig von den Pelzwesen als Durchgang benutzt wurde. Vermutlich lagen dahinter die Schlaf- oder Wohnhöhlen der Vrasin. Im Augenblick aber befanden sich eine Menge des kleinen Volkes auf der Lichtung. Sie hüpften ausgelassen umher, plapperten und tanzten zu den leisen Rhythmen und Melodien, die von einer kleinen Gruppe auf primitiven Instrumenten gespielt wurden. Der eine oder andere hatte sein Flämmchen angezündet, was die Stimmung nur noch weiter hob.

»Komm, Yeni«, sagte Fenri und hüpfte über den Platz. »Wenn du hungrig bist, wollen wir dich nicht zu lange warten lassen.« Er führte sie über die Lichtung, zwischen den neugierig blickenden Vrasin hindurch, bis zur Felsspalte. Der Durchgang war eng, aber Yeni paßte gerade noch hinein. Im Innern des Felsens war es völlig dunkel, doch Fenri machte Licht, damit sie nicht völlig orientierungslos waren. Die Höhle war eine geräumige, fast kreisrunde Kammer mit einer Unzahl kleinerer Öffnungen und Gänge, die sich hier trafen. In der Mitte der Kaverne türmte sich ein großer Haufen verschiedenster Beeren und Wurzeln auf. »Das ist unser Vorratsplatz«, erklärte ihr kleiner Begleiter. Wir haben alle unseren Hunger gestillt, du darfst dich bedienen. Mach dir keine Sorgen, wir können uns gut ernähren.«

»Ich weiß nicht, wie ich euch für eure Gastfreundschaft danken kann.« Yeni ließ sich auf dem Felsboden nieder und pickte schüchtern eine Beere aus dem Haufen heraus. »Ihr seid alle so fröhlich und freundlich.«

»Nicht so wichtig«, meinte Fenri. »Hauptsache, du fühlst dich wohl bei uns. Wir wollten schon lange mehr über die Menschen erfahren, aber wir haben uns nie richtig getraut, euch aufzusuchen. Kannst du uns von euch erzählen?«

Yeni wollte gerade erwidern, daß sie selbst nicht viele Menschen kannte, überlegte es sich aber doch anders. »Ich werde euch von den Töchtern Satuarias erzählen«, sagte sie. »Von den Menschen, die die Welt so verstehen, wie sie ist und die Natur schätzen und lieben.«

Diese Worte schienen dem kleinen Vrasin zu gefallen. Er nickte eifrig und begann, aufgeregt umherzuhüpfen. »Weißt du auch ein paar Lieder? Wir lieben eure Musik und bekommen doch nur sehr wenig davon zu hören.«

Später, es war schon beinahe Mittnacht, saß Yeni umringt von einer Schar neugieriger Perlenaugen auf der Lichtung und erzählte Geschichten über die Hexen und ihre Art zu leben. Zum Abschluß sang sie ein Lied, das sie vor langer Zeit von einem Menschen gelernt hatte, der ihr einst sehr nahe gestanden hatte, allerdings nicht mehr lebte:

Die Welt war eins vor langer Zeit
Ein Paradies des Lichts
Unglaublich groß, unendlich weit
Zu Fürchten gab es nichts

Als Elf noch neben Zwerg gelebt
Und Wolf gleich neben Schaf
Hat jeder nur das Glück erstrebt
Schlief unbeschwerten Schlaf

Doch Sumu starb, der Mensch erschien
Der Friede war gestört
Die Tiere vor den Jägern flieh'n
Das Gold den Sinn betört

Wolf frißt Schafe, Mensch jagt Wolf
Kriege überall
Vom Süden bis zum Eismeer-Golf
Die Welt vor dem Verfall

So strebt man seither unverwandt
Nach jener alten Zeit
Ein Ziel, so fern und doch bekannt
In der Vergangenheit

*

Thiomës Satteltaschen waren prall gefüllt, als Elrin mit seinem Vater und Helbek vor dem Stall stand. Während der letzten Monde hatte sich Elrin immer wieder vor die Wahl gestellt gefühlt, Yeni zu suchen, oder zu versuchen, sie zu vergessen. Letzteres war schlicht unmöglich, doch er war sich nicht schlüssig, ob es eine gute Entscheidung wäre, sie zu suchen. Schließlich hatte sie ihn verlassen, um ihm den Fluch zu nehmen. Wenn er sie dann tatsächlich wieder traf, würde alles von neuem beginnen. Doch irgendwie hielt sich in ihm die Hoffnung, diese Bürde irgendwann besiegen zu können, und dann wollte er nicht mehr auf Yeni verzichten müssen. Elrin hatte sich die Entscheidung wahrlich nicht leicht gemacht: Tharen würde erneut alleine das Geschäft führen, oder einen Arbeiter einstellen müssen. Doch auch er war überzeugt, daß Elrin niemals seine Ruhe finden würde, wenn er sich nicht augenblicklich auf die Suche begab. So hatte er seine Zustimmung gegeben und ihm Thiomë überlassen. Jetzt standen sie sich gegenüber, beide mit Gedanken an die folgende Zeit erfüllt.

»Ich wünschte, es gäbe einen Weg, daß du hier bleiben könntest«, sagte Tharen. »Du wirst mir sehr fehlen.«

Elrin nickte. »Mir geht es genauso. Ihr werdet mir auch sehr fehlen. Aber ich muß sie finden, koste es, was es wolle. Ich weiß, daß wir eines Tages all dies vergessen können. Mirea hat im Augenblick ihren Willen bekommen, doch sie wird feststellen, daß ich mindestens ebenso hartnäckig sein kann, wie sie es ist.«

»Sieh zu, daß du dich nicht unnötig in Gefahr begibst, mein Sohn. Mit einer Hexe soll man nicht spaßen. Wir werden in der Zeit Ausschau halten und gelegentlich jemanden zur Hütte hinausschicken. Sollte Yeni zu ihrer Mutter zurückkehren, so werden wir davon erfahren.«

»Und du willst wirklich alleine losziehen?« Helbek stellte diese Frage nun schon zum dritten Male. »Ich würde gern mit dir kommen. Wer weiß, was dich da so alles erwartet.«

»Du weißt, daß das nicht möglich ist, mein Freund. Vater braucht dich im Gestüt. Außerdem ist dies meine Reise, nicht die deine. Ich würde mich nicht wohl fühlen wenn ich wüßte, daß jemand für mich seinen Kopf hinhält.«

»Wie du willst. Aber paß auf, daß du dich nicht in irgendwelche Schwierigkeiten bringst.«

Elrin lächelte und reichte den beiden Männern die Hand zum Abschied. »Möge Phex seine schützende Hand über dich und Helbek halten, Vater. Ich melde mich, sobald ich Neuigkeiten für euch habe.«

»Viel Glück, Elrin. Hesinde möge dich begleiten und dir Weisheit in der Not geben.« Sie umarmten sich kurz und herzlich, bevor sich der junge Mann auf sein Pferd schwang und den Hof in Richtung der Hauptstraße verließ. Tharen sah ihm mit Bedauern nach, und auch Helbek konnte nicht verhindern, daß ihm die Augen feucht wurden.

Elrin hielt seinen Blick starr nach vorne gerichtet, nachdem er das Stadttor passiert hatte. Der kalte Wind blies ihm ins Gesicht, den Hesinde über das Land sandte. Innerlich glaubte er, daß er nicht ganz bei Sinnen sein konnte, sich im beginnenden Winter auf die Suche nach einem Mädchen zu begeben. Doch was sollte er gegen seine Gefühle machen, die ihm in den letzten Monden unmißverständlich vermittelt hatten, daß er sie brauchte? Kein Schmerz konnte so groß sein, daß er jenen überwog, der im Augenblick in seinem Herzen wohnte. Grimmig biß er die Zähne zusammen und ließ sein Pferd die Straße nach Süden entlangtraben. Er beabsichtigte, zuerst die Stelle aufzusuchen, an der er Yeni zuletzt gesehen hatte, um von dort aus seine Reise zu beginnen.

Der Darpat floß während der nächsten drei Tage friedlich zu seiner Rechten dahin. Elrin ritt gemütlich, um Thiomë nicht zu überanstrengen, legte ausreichende Pausen ein und ernährte sich von seinen Vorräten und dem Wasser des Flusses. Schließlich erreichte er den steil bergan führenden Pfad, an dessen Scheitelpunkt Yeni sich von ihm getrennt hatte. Elrin stoppte und lenkte Thiomë durch den Fluß an das andere Ufer. Er vermutete, daß sie an dieser Stelle in den Wald gegangen war. Natürlich wußte er, daß es aussichtslos war, sie in den ausgedehnten Forsten suchen zu wollen. Daher ließ er sein Pferd weiter den ebenen Weg am Darpat entlangtraben, während das Ufer auf der anderen Seite steil anstieg und sich in eine Klippe verwandelte. Dieses Bild der Landschaft begleitete ihn weitere drei Tage, bis er in der Ferne die Umrisse der Stadt ausmachen konnte, die er erreichen wollte.

Gegen Abend durchquerte er die Tore von Perricum. Diese Stadt der Rondra und des Efferd blühte selbst in den späten Stunden voller Leben. Überall waren Menschen, viele Händler und Bauern, die ihre Ware auf dem Markt verkauften und andere, die sich an den Ständen aufhielten, um sich die Angebote anzusehen. Elrin suchte sich einen gut aussehenden Mietstall, gab dem darin arbeitenden Stallburschen einen Dukaten, damit dieser besonders auf sein treues Pferd achtgebe, und kehrte dann in der danebenliegenden Schänke ein, um sich den Staub der Wanderung aus der Kehle zu spülen.

Der Hufnagel war ein sauber anmutendes Wirtshaus, in dem ein fröhlich dreinblickender Wirt seine Gäste nach bestem Können bewirtete. Elrin suchte sich einen Platz an einem Tisch und wartete, bis die Schankmagd ihn bemerkte. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf, während sie sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch zu ihm bahnte.

»Was darf ich Euch bringen, Herr?« fragte sie mit süßer Stimme und zwinkerte ihm so auffällig zu, daß Elrin zu glauben begann, sie habe etwas ins Auge bekommen.

»Ich glaube, ein Becher leichten Weines und ein großer Teller Eintopf könnten mich zufriedenstellen.«

»Seid ihr sicher, daß dies alles ist, was euch Freude bereiten könnte?« Sie drehte sich halb um, damit sie ihm über ihre Schulter hinweg einen Blick zuwerfen konnte.

»Das ist alles. Ansonsten brauche ich nichts. Und damit Ihr mich versteht: Ich bin nicht an Euren hübschen Augen interessiert.«

»Glaubt Ihr ich an Euren?« fragte das Mädchen beleidigt und stolzierte davon. Dabei schwang sie so aufreizend ihre Hüften und verteilte ihre Blicke, daß mehrere der Gäste laut zu johlen begannen.

Einige Minuten später kam der Wirt zu Elrin an den Tisch, beladen mit Wein und Eintopf. »Ich bin beeindruckt, mein junger Freund. Nich' viele können Haika widerstehen. Seht Euch nur diese Bande Bauernlümmel an. Sie alle würd'n auf der Stelle ihren Geldbeutel fallenlassen, wenn sie sich ihnen an 'n Hals werfen würde. Ihr scheint nich' von jenem Schlage zu sein. Das wird ihren Stolz 'n wenig dämpfen.« Er stellte die beiden Gefäße auf den Tisch und setzte sich Elrin gegenüber auf einen Stuhl. »Sagt, Ihr seid nich' von hier, hab' ich recht?«

»So ist es. Ich komme aus Rommilys.«

Der Wirt lehnte sich zurück. »Das hab' ich mir gleich gedacht. Hab' 'n Blick für so was. Mein Name is' Iaros. Bin eigentlich Schmied von Beruf, aber, wie das so is', hab' mir auf die Hand geklopft, und das war's dann. Bin deswegen hier Wirt geword'n. Is' aber auch kein' schlechter Beruf, denk' ich.« Iaros beugte sich ein wenig vor. »Hört mal: Wegen Haika muß ich Euch sagen, sie wird nich' so schnell lockerlassen, glaubt mir. Es gibt nich' viele, die bei ihr nich' schwach wer'n wür'n.«

»Ich glaube nicht, daß das ein Problem sein wird«, sagte Elrin und begann zu essen.

»Ich sag's ja nur. Werd' mich dann mal wieder hinter die Theke schwingen. Die Leut' sind heute besonders durstig, scheint's.«

»Wartet noch einen Moment. Ich habe eine Frage an Euch und hoffe, Ihr könnt sie mir beantworten.«

»Immer raus damit.«

Elrin zögerte einen Moment, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen. »Ich habe da ein gewisses Problem. Es gibt da jemanden in meinem Bekanntenkreis, der einen Disput mit einem Magus hat. Nun ja, es scheint, als wäre er unter seiner Kontrolle, Ihr versteht, was ich meine. Ich suche nun jemanden, der in solchen Dingen Erfahrung hat und mir vielleicht weiterhelfen könnte.«

»So, habt Ihr eine Spektabilität verärgert, was? Nu' da seid Ihr in Perricum genau richtig. Wir haben nämlich die angesehenste Gilde der Magier überhaupt, wenn's um solche Dinge geht. Sie nennen sich Schule der Austreibung oder so ähnlich. Toller Name, hat aber wohl nich' so viel zu bedeuten. Jedenfalls könnt' Ihr da ja mal nachfragen. Möglicherweise könn' die Eurem Freund helfen.«

»Ich danke Euch für die Auskunft. Was kostet das Essen?«

»Sechs Heller, wenn's recht is'.« Iaros stand auf und war von einem Moment zum nächsten wieder der geschäftstüchtige Gastwirt.

Elrin gab ihm einen Silbertaler, aß zuende und machte sich daraufhin auf die Suche nach einem Nachtquartier.

Gleich nach Aufgang der Praiosscheibe machte Elrin sich auf den Weg zur Akademie. Sie lag außerhalb der Stadt auf einer Klippe, ein aus schwarzem Stein bestehendes Gebäude, das eher einer Burg als einer Schule ähnelte. Ehrfürchtig betrachtete Elrin das imposante Bauwerk und stieg von Thiomë. Die letzten Schritte führte er das Pferd am Zügel, bis er an den Eingang der Akademie kam. Dort durchschritt er das Tor, das zum Innenhof des Gebäudes führte, und blickte sich um. Der Anblick, der sich ihm bot, war nicht ganz der, den er erwartet hatte. Statt einer Menge buntgewandeter Magier mit hohen, verzierten Hüten und Stäben sah er auf den ersten Blick nur zwei Menschen, die zwar gut, aber dennoch schlicht gekleidet waren. Einer von ihnen hatte Elrin bemerkt und kam nun auf ihn zu. Elrin blieb stehen und erwartete den anderen höflich.

»Im Namen Hesindes heiße ich Euch in der Schule der Austreibung willkommen. Mein Name ist Saino vom Kuppenfels, erster finanzieller Verwalter der Akademie. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Ich bin Elrin Rime, Händler aus Rommilys. Hesinde zum Gruße.« Er verbeugte sich leicht. »Ich komme in einer Angelegenheit arkaner Natur und würde gerne mit einer Eurer Spektabilitäten sprechen, wenn es die Zeit erlaubt.«

»Ich werde mit Olorand sprechen. Wenn Ihr mir folgen wollt?« Er winkte einem Diener, der Thiomë in einen Stall bringen sollte, dann ging er über den Hof voraus auf eines der kleineren Gebäude zu. Elrin wurde durch mehrere Gänge geführt und betrat schließlich einen komfortabel eingerichteten Empfangsraum, in dessen Mitte ein Schreibtisch aus dunklem Holz stand. Auf beiden Seiten dieses Möbels warteten weiche Sessel auf ihre Benutzung. »Nehmt einstweilen Platz, Herr. Ich werde nachsehen, ob Olorand etwas Zeit für Euch erübrigen kann.«

Elrin setzte sich, während der Verwalter den Raum verließ. In der Tat, er hatte sich eine Magierakademie völlig anders vorgestellt. Bisher war ihm nicht ein einziges Mal die Präsenz einer übernatürlichen Macht aufgefallen, nicht einmal einen Magier hatte er zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich war dies mit allem so, das man nur vom Hörensagen kannte; man hat keine rechte Vorstellung davon, und doch erwartet man, daß gewisse Dinge geschehen.

Zumindest in einem Punkt wurden seine Erwartungen dann doch noch erfüllt, als sich die zweite Tür des Raumes öffnete und ein Mann eintrat. Er war in eine tiefblaue Robe gekleidet, die mit verschiedenen Symbolen bestickt war. Auf seinem Kopf trug er einen schwarzen Hut mit breiter Krempe, den ebenfalls arkane Zeichen zierten. Das Gesicht des Mannes war das eines Fünfzigjährigen, doch seine Augen strahlten in einem jugendlichen Feuer, als er auf seinen Besucher zukam. Elrin erhob sich und trat einen Schritt vor.

»Ihr seid also Elrin Rime. Hesinde sei mit Euch. Mein Name ist Olorand von Gareth-Rothenfels«

»Hesinde zum Dank, Eure Spektabilität.« Elrin verbeugte sich tief.

»Man sagte mir, Ihr habt ein Problem, das sich mit Magie beschäftigt?« Er wies Elrin an, wieder Platz zu nehmen und ließ sich selbst auf dem anderen Sessel nieder. »Worum handelt es sich genau?«

»Ich glaube, man könnte es als einen Fluch bezeichnen, der auf mir und meiner Verlobten lastet.« Olorand zog die Augenbrauen hoch, aber er sagte nichts. Also fuhr Elrin fort: »Ich habe mich vor einigen Monden in ein Mädchen verliebt, das außerhalb von Rommilys in einem Wald bei der Mutter lebte. Diese Frau hatte einst von meinem Pflegevater Böses erfahren und wollte nun verhindern, daß Yeni und ich ein Paar werden. Als sie dann bemerkte, daß wir uns heimlich trafen, belegte sie mich mit einem Fluch, der mich blind werden läßt, sobald ich Yeni erblicke. Deshalb hat sich meine Verlobte von mir getrennt, um mich nicht zu quälen. Doch ohne sie will ich nicht weiterleben. Ich brauche Eure Hilfe, Meister. Wenn Ihr oder einer Eurer Standesgenossen fähig ist, mir den Fluch zu nehmen, so werde ich all meinen Besitz dafür geben.«

»Immer mit der Ruhe, mein lieber Elrin«, sagte Olorand. »Verkauft nicht Eure Ware, bevor Ihr sie im Lager habt. Eure Geschichte klingt ganz nach einer klassischen, satuarischen Racheaktion. Eine höchst wirksame und ebenso undurchschaubare Vergeltungsmaßnahme. Aber wir werden sehen, was wir für Euch tun können. Zuerst laßt mich feststellen, ob dieser Fluch noch wirksam ist.« Er machte eine Geste, und Elrin erhob sich. »Folgt mir bitte. Ich geleite Euch in unser Studierzimmer.«

Auf dem Weg dorthin bekam Elrin nun mehrfach die Gelegenheit, einen Magus zu sehen. Einige davon waren noch sehr jung, andere offensichtlich die Lehrer. Olorand blieb vor einer der zahlreichen Türen stehen, öffnete sie und bat Elrin hinein. Dieser Raum war nicht so gemütlich, wie es das Empfangszimmer gewesen war. Hier standen mehrere einfache Holzstühle, ein Schreibtisch, einige Regale mit unzähligen Büchern, und außerdem war ein rotes Pentagramm auf den Boden gemalt worden. »Stellt Euch bitte hierhin« – er deutete auf die Mitte des Zaubersymbols – »und wartet einen Augenblick, bis ich zurückkomme.«

Elrin folgte den Anweisungen des Magus und wartete gehorsam. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Olorand zu ihm zurückkehrte. Er trug nun eine rote, reich bestickte Robe, die mit einem gleichfarbigen Band zusammengehalten wurde. Schweigend trat er auf den wartenden, jungen Mann zu und blieb vor ihm stehen. Der Magier hob seine Hände, berührte Elrins Stirn und murmelte einige Worte, während er in völlige Konzentration zu versinken schien. Es dauerte eine ganze Weile, bis Olorand sich wieder von ihm entfernte. Es schien, als hätte er sich sehr verausgabt.

»Meister Olorand? Was ist mit Euch? Ihr seht erschöpft aus.«

»Das bin ich auch, für den Moment jedenfalls. Ihr habt tatsächlich einen Fluch in Euch, einen Fluch, der eine solche Macht besitzt, daß ich ihn nicht zu brechen vermag. Wer in Hesindes Namen schafft es, eine solche Kraft wirken zu lassen?«

»Sie heißt Mirea und ist eine Heilerin. Aber ich habe sie nicht besonders mächtig in Erinnerung. Sie machte auf mich eher den Eindruck, sehr friedliebend zu sein.«

Olorand machte ein besorgtes Gesicht. »Seid versichert: Diese Frau ist die mächtigste, lebende Tochter Satuarias, von der ich bisher gehört habe. Diesen Fluch zu brechen würde mich eine lange Zeit kosten, die ich nicht habe. Doch ich kenne jemanden, der sich in diesen Bereichen besser auskennt als jeder andere. Wenn er es nicht schafft, ist Euch nicht mehr zu helfen.«

»Wo finde ich diesen Menschen? Er soll eine großzügige Belohnung erhalten!«

»Ich glaube nicht, daß Ihr seine Dienste mit Geld kaufen könnt. Ich werde Euch ein Schreiben mitgeben, daß ihm zeigt, auf wessen Geheiß Ihr zu ihm kommt. Er ist ein sehr verschlossener Mann, doch ich glaube, er wird Euch helfen.« Sie gingen zurück ins Empfangszimmer, und Olorand setzte ein Schriftstück auf, das er anschließend zusammenrollte und versiegelte. »Nehmt dies mit euch, und gebt es Dayan, wenn Ihr bei ihm seid. Er lebt in einer Hütte, etwa zehn Meilen nördlich der Stadt.« Olorand gab Elrin die Schriftrolle.

»Ich bin Euch sehr dankbar, daß Ihr Euch Zeit für mich und mein Problem genommen habt. Ich werde dafür sorgen, daß Eurer Akademie eine großzügige Spende aus meinem Besitz zukommen wird.«

»Wenn Ihr bei Dayan gewesen seid, müßt Ihr mir unbedingt berichten, ob er es fertiggebracht hat, diesen Bann zu brechen. Es beginnt mich persönlich zu interessieren.«

Elrin versprach es ihm und verließ nach einem formellen Abschied die Magierakademie. Als er sich auf dem Rücken von Thiomë auf die Suche nach Dayans Hütte machte, mußte er an Olorands Worte denken. Mirea sollte so mächtig sein? Und warum fristete sie dann ihr Dasein in einer schäbigen, kleinen Hütte mitten im Wald? Und Dayan, auch er sollte angeblich über viel Macht verfügen, und auch er lebte abgeschieden, fern von den übrigen Menschen. Elrin verstand zu wenig von den arkanen Künsten, um sich darauf einen Reim machen zu können.

Kurz nach Mittag erblickte er das kleine Holzhaus am südlichen Rande der Trollzacken. Er stieg ab und ließ Thiomë grasen, während er sich langsam der Hütte näherte. Die Eingangstür stand offen, doch es war niemand zu sehen. Elrin blieb auf der Schwelle stehen und blickte in den dahinterliegenden Raum. Er war düster, kahl und abweisend. Nur wenige Möbelstücke befanden sich darin, außerdem mehrere Tiegel und Fläschchen. Doch es war niemand daheim. »Meister Dayan?« rief Elrin leise. »Ist jemand hier?«

»Was willst du von Dayan?« fragte eine rauhe, tiefe Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr Elrin herum und blickte in das Gesicht eines älteren Mannes. Er war in schlichte, erdfarbene Kleidung gehüllt, trug in einer Hand einen knorrigen Wanderstab und in der anderen einen gläsernen Dolch. »Nun?«

Elrin brauchte einige Augenblicke, um seine Fassung wiederzufinden. Dann zog er das Schreiben aus seinem Wams und sagte: »Ich komme von Seiner Spektabilität, Olorand von Gareth-Rothenfels. Er sagte mir, Ihr wäret möglicherweise in der Lage-«

»Was dieser alte Wichtigtuer gesagt hat, interessiert mich nicht. Was willst du von mir?«

Elrin steckte die offensichtlich nutzlose Schriftrolle zurück in sein Gewand, bevor er erneut ansetzte. »Nun, Meister-«

»Ich bin nicht dein Meister.« Die Stimme war leise, dennoch unerbittlich.

»Mein Name ist Elrin Rime, ich komme aus Rommilys. Man sagte mir, Ihr könntet mir helfen.« Und so erzählte er noch einmal die Geschichte von Mirea, Yeni und dem Fluch, der ihre Verbindung überschattete. Seltsamerweise hörte Dayan zu, ohne ihn auch nur ein Mal zu unterbrechen.

Nachdem Elrin seine Erzählung beendet hatte, schwieg der Alte eine Weile. Dann ging er an Elrin vorbei in die Hütte und gab ihm einen Wink, daß er ihm folgen sollte. »So hat der alte Bücherwurm versagt, was? Das klingt sehr amüsant, doch hat es einen bitteren Nachgeschmack. Zwar hat er, wie alle dieser hochgestellten Gecken in den bunten Roben, den falschen Blick für die Kräfte der Natur, doch wenn er es nicht vermag, einen Bann zu brechen, so ist Vorsicht angesagt. Was hat er Euch für eine Schriftrolle gegeben?« Der junge Mann holte das Schreiben hervor und reichte es dem Druiden. »Es hat zwar nie viel Sinn gemacht, dem geschriebenen Wort zu große Bedeutung beizumessen, aber vielleicht hat der alte Olorand etwas niedergeschrieben, was mir bei Eurem Fall weiterhelfen kann.« Er setzte sich an den Tisch, brach das Siegel auf und entrollte das Schriftstück. »So so, eine bisher nie gekannte Macht satuarischen Ursprungs, wie? Ich frage mich, wie dieser Trottel das nur beurteilen will. Nun gut, sehen wir weiter. Vorsicht ist geboten, Fluch wurde im Zorn gesprochen. Nun das hast du mir ja bereits berichtet. Das klingt alles sehr interessant. Ich denke, ich werde es versuchen.«

Elrin war überrascht. Vor ein paar Herzschlägen hatte es sich noch so angehört, als interessierten ihn die Angelegenheiten der weltlichen Menschen überhaupt nicht, er hatte sogar einen der angesehensten Magier der Umgebung einen Trottel genannt, und gleich darauf dann diese Antwort. Olorand hatte recht gehabt: Dieser Mann war sehr verschlossen, aber sein Interesse wurde geweckt. »Was soll ich tun?«

»Du? Nichts. Bleib einfach sitzen, ich werde alles Nötige unternehmen.«

Elrin erinnerte sich an seinen vorigen Besuch in der Akademie und daran, wie unterschiedlich dort gearbeitet wurde. Man hatte für jeden Anlaß einen eigenen Raum und sogar ein eigenes Gewand. Dayan schien das alles nicht zu benötigen. Er stöberte in einem Regal herum, nahm ein Tontöpfchen und mehrere kleine Beutel heraus und stellte alles vor Elrin auf den Tisch. Das Tiegelchen füllte er mit Wasser, in das er einige der Kräuter aus den Beuteln fallen ließ. Dann entzündete er eine kleine Kerze, die er dazu benutzte, das Gebräu langsam zu erhitzen. Ein befreiender Duft stieg auf, der Elrin bekannt vorkam. Mirea hatte vor nahezu einem halben Zwölfmond einen Tee mit ähnlichem Geruch gebraut. Dayan schloß alle Türen und Fenster der Hütte, so daß nur noch der Schein der Kerze ein wenig Licht spendete. Dann setzte er sich Elrin gegenüber an den Tisch und begann, beschwörende Worte zu murmeln. Dabei legte er seine Hände an die Schläfen des jungen Mannes. Die Fingerkuppen waren schwielig und mit Hornhaut bedeckt, aber dennoch hatte die Berührung etwas Sanftes und Beruhigendes an sich. Elrin spürte, wie sein Geist befreit wurde, fühlte regelrecht, wie eine Fessel zersprang und sich auflöste. Der Griff an seinen Schläfen wurde für einen Moment fester, und Dayans Gesicht zeigte höchste Konzentration. Unvermittelt riß der Druide seine Hände von Elrins Kopf, schlug sie zusammen und machte eine Bewegung, als wolle er etwas zwischen ihnen zerreiben. Eine kleine Rauchwolke stieg zwischen seinen Handflächen auf, die sich schnell verflüchtigte. Schließlich sank Dayan auf seinen Stuhl zurück und atmete schwer. »Öffne das Fenster, und lösche die Kerze, wenn du gehst.«

Elrin stand auf und stieß die Läden eines der Fenster auf. »Aber was ist mit dem Fluch? Habt Ihr ihn besiegen können?«

»Die satuarische Macht ist fort. Und nun geh, ich muß mich ausruhen. Und nimm dich vor dieser Person in acht! Ihre Macht ist – bei Sumu – nicht zu unterschätzen. Und nimm dich vor ihrer Tochter in acht! Sie besitzt zweifellos ähnliche Kräfte.« Dayan schloß die Augen, und Elrin verließ das kleine Haus im Wald. Noch heute abend würde er eine Nachricht an Tharen Rime abschicken, daß er sich nun auf die Suche nach Yeni machen wollte.

*

Firun brachte den ersten Schnee über das Land. Von einem Tag auf den anderen verwandelte sich die über den Herbst hinweg kahl gewordene Landschaft in ein weißes Bild aus einem Traum, das geheimnisvoll und still auf denjenigen wartete, der sein Geheimnis ergründen konnte. Viele Tiere hatten sich bis zum Frühling zurückgezogen, andere waren in wärmere Gefilde ausgewandert. Yeni saß am Ausgang der Höhle und beobachtete die dicken Flocken, wie sie sich sanft auf dem Platz und dem in der Mitte liegenden Findling niederließen, um mit der weißen Decke des Winters zu verschmelzen. Auch ihre Freunde hatten angekündigt, die kalte Jahreszeit tief in ihren Höhlen schlafend zu verbringen, indem sie sich zu einem großen, pelzigen Haufen zusammenkuschelten und sich gegenseitig Wärme spendeten. Yeni hatte sich dabei auf ihre eigenen Talente bei der Jagd verlassen müssen. Sie trug nun einen dicken Mantel und eine Hose aus Rotpüschelfell und ebensolche Schuhe, die sie gegen die beißende Kälte schützten. Seit sich die Vrasin zurückgezogen hatten, war ihr wieder in den Sinn gekommen, wie einsam sie doch war. Natürlich, die kleinen Kerle waren immer fröhlich, und Yeni mochte sie sehr. Doch ihr fehlte die Nähe eines Lebewesens ihrer Art, eines Menschen. Sie sehnte sich nach einem Gespräch, oder auch nur nach ein paar Worten. In Gedanken wollte sie die Umarmung und Wärme spüren, die nur ein Mensch ihr geben konnte. Sie vermißte Elrin, und sie vermißte Mirea.

Es überraschte sie nicht, daß sie sich wieder an sie erinnerte. Es war mittlerweile eine lange Zeit vergangen, und obwohl sie immer noch spürte, wie sehr sie Elrin liebte, kehrte ein Teil ihrer alten Gefühle für Mirea zurück. Vielleicht war es nun an der Zeit, zu ihr zu gehen und einen neuen Anfang zu wagen. Wenn sie genauso über alles dachte, würde sich eine Lösung finden. Elrin sollte erfahren, daß sie noch lebte und Mirea würde erkennen, daß Yeni sie trotz allem nicht vergessen hatte.

So packte sie ihre wenigen Habseligkeiten und etwas Proviant zusammen in einen Tuchbeutel, schwang ihn sich über die Schulter und verließ diesen Ort der Freude, der nun für sie so einsam wie der höchste Gipfel der Trollzacken geworden war. Der Wald um sie herum war in eine geheimnisvolle Stille getaucht, ihre Schritte knarrten in der halb gefrorenen Schneedecke. Ihr Atem erzeugte weiße Dampfwolken, Lebensgeister, die nur bei diesen Temperaturen sichtbar wurden. Yeni ging schnell, jetzt, da sie ihren Entschluß gefaßt hatte, wollte sie keinen Tag mehr verlieren.

Sie brauchte nicht lange, um das Ufer des Darpat zu erreichen. Sie entschied sich dafür, dem Fluß auf dieser Seite zu folgen, statt zu versuchen, ihn zu überqueren. So folgte sie dem Lauf des Wassers nach Westen, mit allen Sinnen die winterliche Landschaft genießend. Am frühen Nachmittag, als die Sonne gerade unterzugehen begann, suchte sie sich einen Schlafplatz und ging mit ihrer Schleuder auf die Jagd.

Auf diese Weise vergingen die Tage ihrer Heimkehr. Auf halber Strecke entdeckte sie einen Karrenweg, der den Darpat überquerte und sich mit der Straße traf, die Elrin und sie vor mehr als drei Monden entlanggeritten waren. Sie ging ans andere Ufer und wandte sich von dort aus weiter nach Norden. Sie konnte förmlich spüren, wie ihr das Land immer bekannter wurde, die Umgebung gab ihr das Gefühl, daß sie nach Hause kam.

Dann, am achtzehnten Tag ihrer Wanderung, sah sie von einem Hügel aus die Bauten der Stadt Rommilys. Der Anblick sandte ihr einen kleinen Stich ins Herz. Hier, wo alles begonnen hatte, waren die Erinnerungen stärker denn je. Sie erlebte all die schweren Wochen noch einmal, während sie immer näher kam. Und so sehr es sie auch drängte, Elrin wiederzusehen, wollte sie doch zuerst zu Mirea gehen und sie um Erlaubnis bitten. Also folgte sie an der Abzweigung dem Weg nach Osten in die Wälder. Es war wie die Begrüßung von lange vermißten Freunden, als sie zwischen die Bäume trat, die sie Zeit ihres Lebens umgeben hatten.

Elrin gab Thiomë die Sporen, als er vor sich die Lichter seiner Heimatstadt sah. Nachdem der erste Schnee gefallen war und er Yeni immer noch nicht gefunden hatte, war er zu dem Schluß gekommen, daß es wenig Sinn hätte, im Winter weiter nach ihr Ausschau zu halten. Sie war an das Leben im Wald gewöhnt, es würde ihr also nichts zustoßen. Er befürchtete viel eher, daß er sich in einer kalten Nacht etwas einfangen könnte.

Langsam ritt er den vertrauten Weg zur Stadt, stieg am Tor ab und begrüßte die beiden Wachposten, bevor er Rommilys betrat. Sein Herz füllte sich mit Freude über die Geborgenheit der Häuser, die in solch krassem Gegensatz zu der feindlichen Kälte des winterlichen Waldes stand. Er brachte Thiomë in den Stall und hielt Ausschau nach Helbek. Da er ihn nicht finden konnte, versorgte er das Pferd, kehrte in die Gasse zurück und öffnete dann die Tür, die in das Haus seines Pflegevaters führte. Tharen saß wie so oft zusammengesunken an seinem Schreibtisch, ein Talglicht brannte unbeachtet vor sich hin. Leise betrat Elrin das Zimmer und schloß die Tür. Es war ungewöhnlich kalt im Raum und der junge Mann bemerkte, daß kein Feuer im Kamin brannte. Sofort machte er sich daran, einige Holzscheite anzuzünden, um die Wärme in das Haus zurückzuholen. Dann ging er zu Tharen hinüber und rüttelte ihn behutsam an der Schulter. Als er sich nicht regte, wiederholte Elrin die Prozedur etwas heftiger. Doch immer noch blieb der ältere Mann stumm. Besorgt richtete er seinen Vater im Stuhl auf. Tharen atmete nur sehr schwach und behielt weiterhin die Augen geschlossen. Sein Gesicht war bleich wie das eines Toten, und die Lippen hatten sich bläulich verfärbt. Elrin hob Tharen auf seine Arme, trug ihn auf die Liege beim Kamin und brachte ihm dicke Decken, die ihn wärmen sollten. Dann kehrte er zum Schreibtisch zurück und las die letzten Worte:

17. Firun: Helbek ist heute nacht an seiner Krankheit gestorben, die unser Medikus nicht zu behandeln wußte. Seinen Leib haben wir dem Boron-Tempel übergeben, er soll noch vor Ablauf dieser Woche auf dem Anger bestattet werden. Ich fürchte, mich hat es ebenfalls erwischt, ich fühle mich so eigenartig schwach. Ich mache mir Sorgen um Elrin. Lange Zeit habe ich nichts mehr von ihm gehört. Wer soll nur für ihn da sein, wenn er zurückkehrt?

Elrin legte das Blatt auf den Schreibtisch zurück. Helbek war also tot? Boron möge seinen Geist ins Totenreich geleiten. Und anscheinend hatte sich sein Vater mit derselben Krankheit angesteckt. Vielleicht war es noch nicht zu spät, etwas zu unternehmen. Der Medikus kannte offensichtlich keine Heilmethode. Wieder einmal verfluchte er Mirea, denn wenn sie nicht gewesen wäre, Yeni hätte gewiß etwas gegen das Siechtum unternehmen können. Aber natürlich wäre Mirea dazu genauso in der Lage. Und sie würde sich als wahre Heilerin nicht weigern, ihn zu behandeln und gesund zu machen. Sollte sie sich dennoch gegen ihn stellen, so würde er sie zwingen, ihm zu helfen, und mochte sie auch noch so mächtig sein.

Mit diesen Gedanken legte er noch ein weiteres Stück Holz ins Feuer und ging wieder in die winterliche Kälte hinaus. Das Madamal hatte sich bereits den halben Weg über den Himmel gewagt, als Elrin sich eines der Pferde aus dem Stall nahm und es sattelte. Wenig später ritt er los, durch die Straßen der Stadt, bis zum Tor, das um diese Zeit geschlossen war. »Öffnet bitte, im Namen von Travia! Es ist ein Notfall!«

Die Wachposten zögerten nur einen Augenblick, bevor sie bereitwillig einen der großen Holzflügel öffneten, um Elrin durchzulassen. »Vielen Dank! Ich werde bald zurück sein!« Damit zog er sich seine Kapuze tiefer ins Gesicht, schlug dem Pferd die Fersen in die Flanken und jagte über den schneebedeckten Weg, schneller, als er es sonst bei dieser Witterung je gewagt hätte.

Anscheinend war Firun ihm wohlgesonnen, denn er erreichte den Waldrand, ohne daß sein Tier auch nur ein Mal gestrauchelt oder ausgerutscht war. Im Wald selbst kam er nicht besonders schnell voran, da hier der Schnee mehrere Spann hoch lag. Schließlich erreichte er seinen und Yenis ehemals geheimen Treffpunkt und wandte sich von dort aus in die Richtung der Hütte. Mirea würde ihm helfen, ob sie wollte oder nicht. Er hatte ihren Fluch schon einmal besiegt, er würde es wieder versuchen.

Wenig später sah er das kleine Holzhaus, das schneebeladen zwischen den Bäumen stand. Durch die geschlossen Fensterläden konnte er schwach das Flackern eines Feuers erkennen. Er stieg aus dem Sattel, band sein Pferd an einen der Bäume und betrat die Hütte, ohne anzuklopfen.

Auf einem Stuhl neben dem Kamin saß eine rothaarige Frau, die etwas in ihren Händen hielt. Sie blickte langsam auf und starrte ihn an. Elrin verharrte, als er sie erkannte. »Bei allen guten und bösen Mächten! Yeni! Hesinde sei gepriesen! Yeni!« Er lief auf sie zu, ließ sich auf ein Knie fallen und umarmte sie. Dabei schossen ihm die Tränen über die Wangen und hinterließen heiße Spuren auf der eisigen Haut.

Langsam löste er sich von ihr, als er bemerkte, daß sie sich ein wenig versteifte. Er ließ sie los und betrachtete sie genauer. Sie starrte ihn an, doch ihr Blick verriet nicht, ob sie ihn erkannte. Langsam hob sie eine Hand, fuhr damit über sein Gesicht und schlug die Kapuze zurück. »Du – bist – zurück?« Jetzt begann auch sie zu weinen, und erneut schloß er sie in seine Arme, diesmal jedoch wurde seine Umarmung erwidert. Eine Weile saßen sie nur so da und erfühlten die Nähe des anderen mit allen Sinnen. Die lange Zeit der Suche hatte endlich ein Ende gefunden.

»Was machst du hier?« fragte Elrin, nachdem sie sich beruhigt und gemeinsam an den Tisch gesetzt hatten.

»Ich wollte Mirea aufsuchen, um sie umzustimmen. Doch sie ist nicht mehr hier. Ich wollte, daß sie den Fluch von uns nimmt, damit das alles endlich ein Ende hat. Oh, Elrin, es tut mir so leid, was ich dir angetan habe. Ich wollte doch nur, daß du nicht mehr leiden mußt.«

»Ich weiß, daß du es gut meintest. Glücklicherweise konnte ich jemanden finden, der mich von dieser Bürde befreit hat. Ich glaube, Mirea hat das gespürt und ist deshalb fortgegangen.«

»Das einzige, was sie mir hiergelassen hat, ist ein Brief. Ich habe ihn geöffnet und aus dem Umschlag genommen, obwohl ich gar nicht lesen kann.« Sie lächelte ein wenig, zeigte ihm aber dann das Stück Papier, auf dem einige feuchte Flecken zu sehen waren. »Liest du ihn mir vor?«

Elrin nahm den Brief und kam Yenis Bitte nach. Mirea hatte eine recht große, geschwungene Handschrift, und nur dort, wo Schnee und Tränen die Tinte verwischt hatten, bekam er kleinere Schwierigkeiten, den Text zu entziffern:

Liebste Yeni

Ich hinterlasse dir diese Zeilen, damit du weißt, daß ich dir und Elrin nicht mehr länger im Wege stehen werde. Ich habe die Wälder der Trollzacken verlassen, um weit fortzugehen. Wer weiß, wohin mich meine Füße tragen werden. Ich denke aber, daß es das Beste für uns alle ist. Du weißt alles über das Leben, was es zu wissen gibt, so setze dein Wissen richtig ein. Finde dein Glück, und mach dir keine Gedanken um mich. Ich werde dir eines Tages eine Nachricht schicken, doch warte nicht darauf. Möglicherweise wird es lange dauern, bis ich den Mut dazu aufbringe. Satuaria möge deine Wege behüten. Ich wünsche dir und deiner zukünftigen Familie alles Gute.

Mirea

»Ist es nicht seltsam?« fragte Yeni, nachdem Elrin den Brief auf den Tisch zurückgelegt hatte. »Sie ist fort, und ich vermisse sie, obwohl sie so schlecht zu uns war. Ob sie wohl am Ende doch noch verstanden hat, daß man die wahre Liebe nicht trennen kann?«

»Ich glaube, das hat sie. Aber es muß schwer für sie gewesen sein, einzusehen, daß sie ihr Kind, das fünfzehn Sommer lang bei ihr gelebt und von ihr gelernt hat, einmal selbst entscheidet, wie es sein Leben führen will. Aber, da sitzen wir hier und plaudern, während in Rommilys jemand auf deine Hilfe wartet!«

»Was? Wer ist es? Was ist geschehen?«

Elrin zerrte sie von ihrem Stuhl hoch, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seine Manteltasche. »Tharen Rime ist schwer erkrankt. Helbek ist bereits an derselben Sache gestorben!« Er begann bereits, das Kaminfeuer zu löschen.

»Der Mann, der dich damals zu uns gebracht hat?« Yenis Gesicht drückte tiefes Bedauern aus. »Er war ein netter Mensch. Schade, daß er so früh Sumus Weg gehen mußte.«

»Dann laß uns beten, daß es Tharen nicht ebenso ergeht!« Damit nahm er das Mädchen bei der Hand und zog sie in den Wald hinaus, wo das Pferd geduldig auf die beiden wartete.

Auf dem Rückweg achtete er etwas sorgfältiger auf die Straße und brauchte so etwas länger als vorher. Dennoch dauerte es nicht lange, bis sie an den bereits wartenden Wachen vorbeiritten. Elrin lenkte das Tier durch die Straßen bis zu seinem Zuhause. Dort stiegen sie ab, brachten das Pferd in den Stall und betraten schließlich das Studierzimmer. Tharen Rime lag immer noch so da, wie Elrin ihn verlassen hatte. Sein Gesicht wirkte um Jahre gealtert. Sofort ließ Yeni sich neben dem Kranken nieder und begann, ihn zu untersuchen. »Besorge mir bitte einen Krug kochendes Wasser und drei Becher«, sagte sie. »Ich werde einen Belmart-Aufguß bereiten, den ich mit etwas Olginwurz mische. Damit sollte er etwas seiner Lebenskraft zurückerhalten.« Sie wartete, bis Elrin mit den gewünschten Utensilien zurückkam. Dann nahm sie einen ihrer zahlreichen Beutel vom Gürtel, nahm ein bräunliches, geripptes Blatt heraus, das sie in ihrer Hand zerbröselte und es in den Krug fallen ließ. Dazu tropfte sie etwas einer Flüssigkeit aus einem Tonfläschchen hinein und verstaute schließlich alles wieder sorgfältig. Nach etwa fünf Minuten füllte sie jeden der drei Becher mit dem Absud der Kräuter. Als sie Elrins skeptisches Gesicht sah, sagte sie: »Ich vermute, die Krankheit ist sehr ansteckend, daher sollten wir beide ebenfalls etwas dieser Medizin zu uns nehmen.«

»Ich würde es nie wagen, Euch zu widersprechen, Medica.« Mit einem liebevollen Lächeln hob er seinen Becher an die Lippen und trank vorsichtig einen Schluck, woraufhin er leicht das Gesicht verzog. »Obwohl ich in diesem Falle geneigt wäre, es zu tun.« Tapfer trank er weiter, während Yeni ihrem Patienten behutsam das Medikament einflößte. Dann schluckte auch sie die bittere Flüssigkeit hinunter und strich die Decken ein wenig glatt, unter denen Tharen lag.

»Ich möchte dich bitten, ihm ab und zu etwas von dem Trank zu geben. Laß ihn ruhig abkühlen, er verliert nichts von seiner Wirkung.«

»Aber warum ich? Weißt du nicht viel besser, wann-«

»Ich werde wahrscheinlich den halben Tag verschlafen, um mich zu erholen. Du weißt wahrscheinlich nicht, wer ich und Mirea sind.«

»Ein Magus sagte mir, ihr wäret Töchter Satuarias«, meinte Elrin. »Aber mir ist das egal. Mag das gemeine Volk die Hexen verfluchen, ich weiß, daß es unter ihnen auch Gute gibt.« Er zwinkerte Yeni zu. »Ich weiß nur nicht, was das mit Tharen und seiner Medizin zu tun hat.«

»Nun, wenig mit seiner Medizin, aber viel mit dem, was ich dir jetzt zeigen werde.« Yeni beugte sich über den schlafenden Mann, benetzte einen Finger mit ihrem Speichel und tupfte ihn auf die Zunge des Kranken. Dann schloß sie die Augen und sank einen Augenblick später auf die Knie. Wäre Elrin nicht hinter ihr gewesen, wäre sie sicherlich gestürzt.

Sie schreckte auf, als eine schwache Hand nach ihr griff. Der alte Mann hatte seine Augen einen Spalt breit geöffnet und blickte müde um sich. Elrin kam sofort an die Liege und kniete sich neben seinem Pflegevater hin.

»Was ist geschehen?« flüsterte Tharen mit rauher Stimme. »Wer ist da?«

»Ich bin es, Elrin! Und noch jemand ist bei mir.« Er sah Yeni fragend an, ob sie stark genug war, zu sprechen. Sie nickte.

»Tharen Rime, ich bin hier bei Euch. Yeni, Eure Tochter.« Mit diesen Worten fiel sie in Elrins Arme und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Auch Tharen schlief wieder, doch auf seine Lippen hatte sich ein Lächeln gelegt, und seine Züge wirkten weniger eingefallen.

*

Zur Feier des großen Tages hatte Tharen alle seine guten Freunde und Geschäftspartner eingeladen. Die Wiese außerhalb der Stadt quoll über vor Menschen, die es sich bei viel gutem Wein und edlen Speisen gemütlich gemacht hatten. Ein langer Tisch bot so ziemlich jede Leckerei, die es in Darpatien zu kaufen gab. Tharen hatte an nichts gespart und nur die besten Bäcker und Köche für das große Fest verpflichtet. Mehrere Gaukler hatten sich eingefunden, um dem Volke Belustigung zu bringen, und der eine oder andere Zauberer führte seine Kunststücke vor.

Elrin und Yeni standen Hand in Hand an einem Ende der Tafel und nahmen die letzten segensreichen Worte des Travia-Geweihten entgegen, der sie vor wenigen Minuten getraut hatte. Was war dieser Tag für ein Gegensatz zu den düsteren Stunden vor einem halben Götterlauf, als Tharen Rime im Sterben lag und Yeni all ihre Kraft aufwenden mußte, um ihn zu retten.

Etwas abseits von all dem Gedränge und der fröhlichen Ausgelassenheit beobachtete eine rothaarige Frau den Platz. Sie schien sich nicht von der Stimmung anstecken zu lassen, denn sie hielt ihren Blick starr auf das Brautpaar gerichtet, das gerade von einem riesigen Schwall Gänsefedern überhäuft wurde. Dann hob sie langsam ihren Arm.

Elrin und Yeni waren so damit beschäftigt, die unzähligen, weißen Federn von ihren Gewändern zu zupfen, daß sie den Vogel erst bemerkten, als er vor ihnen landete. Es war ein Falke, ein ungewöhnlich gutaussehendes Tier. In seinem Schnabel hielt er ein Stück Papier, das er vor Yeni ins Gras fallen ließ. Sie hob es verwundert auf, wickelte es auseinander und las langsam, Letter für Letter die geschwungene Handschrift. Die Nachricht bestand aus nur einem einzigen Satz:

Travias und Satuarias Segen sei mit euch.

Yeni blickte auf und verfolgte den Flug des Falken, der sich erhoben hatte, um zu seiner Herrin zurückzukehren. Yeni weinte, als sie die vertraute Gestalt Mireas erkannte, die einmal die Hand zum Abschied hob und sich dann umwandte. Sie wollte Elrin darauf aufmerksam machen, doch dann dachte sie, daß es besser sei, wenn er nichts davon erfuhr. Vielen Dank, Mutter. Danke für deine Liebe, danke für deine Geduld, danke für mein Leben.

ENDE