Sex 'n' Drugs 'n' Rock 'n' Roll
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)28.07.1995)

Das Motorengeräusch wurde lauter, die Scheinwerfer des Wagens kamen näher. Wäre zu dieser Zeit jemand auf der Straße der Stadt gewesen, so hätte er außerdem noch die lauter werdenden Schläge einer rhythmisch klingenden Bassdrum wahrgenommen, die aus der überlauten Musikanlage des schwarzen Escorts kamen. Wenige Sekunden später dröhnte der Wagen über die große Kreuzung, und ihm folgte Stille.

Andreas kam gerade von einem seiner vielen Ausflüge zurück, die er in der letzten Zeit unternommen hatte. Seit er die ohnehin ziemlich oberflächliche Verbindung zu seiner alten Freundin gelöst hatte, war er wieder unterwegs, um seinen Spaß zu haben. Jetzt verging kaum ein Wochenende, an dem er nicht mit einem jungen Mädchen auf dem Beifahrersitz nach Hause kam. Er liebte es, sich unverbindlich mit jemandem auf ein kleines Abenteuer einzulassen. Ein paar Bierchen in der Kneipe, zu Hause einen guten Fick im Bett, und dann vielleicht noch eine Flasche Wein oder Sekt, wenn er dazu noch Lust hatte. Meistens waren die Mädchen am nächsten Morgen schon wieder weg - auch keine schlechte Sache, da mußte man sich wenigstens nicht auch noch mit dickem Kopf Gedanken darüber machen, wie man sie wieder nach Hause bekam, ohne daß sie gleich noch eine weitere Verabredung anzetteln wollten. Sicher, es hatte schon mehrmals Probleme gegeben, weil sie sich eingebildet hatten, er würde tatsächlich mehr von ihnen wollen. Das waren die lästigsten Augenblicke, die in seinem Leben vorkamen. Bisher hatte er aber immer noch jede davon überzeugen können, daß nicht mehr an der Sache war, als das, was sie bereits hinter sich hatten. Meist gab es schließlich viel Geflenne oder Geschrei; zu einer richtigen Verabschiedung kam es oft nicht mehr. Eher endete der Besuch dann mit einer kräftig zuschlagenden Tür. Nein, das Beste waren immer noch die kleinen Quickies, die nicht länger als eine Nacht dauerten. Bettina dachte vermutlich genauso. Sie saß neben ihm und hatte ihre Hand leicht auf sein Knie gelegt. Sie war ganz klar nicht mehr als ein One-Night-Stand. Beide wollten nichts weiter, und beide waren damit zufrieden.

Die Reifen des Wagens quietschten, als Andreas in die Sackgasse, wo er wohnte, einbog. Nachdem sie ausgestiegen waren und nun die kurze Treppe bis zu seiner Wohnung hinaufstiegen, begannen sie bereits, sich gegenseitig die Jacken auszuziehen. Schließlich bekam er die Wohnungstür doch noch auf, und so führte er sie zielstrebig, ohne auch nur das Licht einzuschalten, in sein Schlafzimmer. Dort fielen auch bald schon die restlichen Hüllen von ihren erhitzten Körpern, bis sie sich dann in gleichmäßigem Rhythmus einander das gaben, was sie brauchten. Eine weitere Nacht ohne besondere Bedeutung fand hier ihr heftiges Ende.

Es hat mir Spaß gemacht. Bis dann. Betty. Darunter prangte ein knallroter Kußmund auf dem Blatt Papier. Andreas betrachtete den kleinen Brief, legte ihn dann auf den Nachtschrank zurück und schwang seine Beine aus dem Bett. Ja, es hatte ihm auch viel Spaß gemacht. Er hatte auch gespürt, daß Bettina mehr drauf hatte, als nur gut zu vögeln. Sicher war sie keines der kleinen Dummchen, die er sonst mit zu sich nach Hause nahm - die ihn wegen seines coolen Auftretens bewunderten. Vielmehr waren sie beide in derselben Lage gewesen, und sie hatten beide alles bekommen. Vermutlich hatte sie einen festen Freund, ganz sicher sogar. Andreas war deswegen nicht eifersüchtig. Sie war zwar wirklich hübsch, aber vom Wesen her hätten sie sich wahrscheinlich nie aneinander gewöhnen können. Es war besser, wie es gekommen war. Keine Tränen, keine Reue, nur die Erinnerung an ein paar schöne Stunden und an einen guten Fick.

Das war auch alles, woran er sich erinnerte. Er war gleich danach eingeschlafen. Sie mußte in aller Stille die Wohnung verlassen haben, ohne ihn zu wecken. Im Badezimmer stellte er dann fest, daß sie sogar noch die Zeit gehabt hatte, sich zu duschen und zu fönen. Er mußte wirklich sehr tief geschlafen haben, daß er davon nicht wach geworden war. Kein Wunder, sie hatte ihm ja auch wirklich alles abverlangt.

Jetzt stand er selbst unter der Dusche und wurde durch das warme Wasser langsam richtig wach. Schließlich trocknete er sich ab und ging ins Schlafzimmer zurück, um sich anzuziehen. Das brachte ihn auf den Gedanken, was er heute tun wollte. Samstags gingen er und zwei seiner Freunde immer in eine größere Diskothek, die sich ein paar Kilometer außerhalb befand. Dazu trafen sie sich immer schon gegen Mittag, um noch ein wenig zu quatschen, bevor sie schließlich losfuhren. Meist fuhren sie zu Volker auf den Bauernhof, um von dort aus eine kleine Spritztour mit den Autos zu unternehmen. Nachdem er sich fertig angezogen hatte, aß er noch schnell ein kleines Frühstück, bevor er die Autoschlüssel vom Regal nahm und zu seinem Freund aufbrach.

»Sie sind da drüben langgerannt!« rief Frank seinen Freunden zu, bevor er sich in das Dickicht stürzte. Die beiden anderen Jungen folgten ihm so schnell sie konnten. Plötzlich sprang er in eine kleine Vertiefung im Waldboden, warf sich auf den Bauch und lugte über die Kante hinweg. Bernd und Thorsten landeten neben ihm und preßten sich ebenfalls flach auf den Boden. Gemeinsam beobachteten sie nun das Unterholz vor sich, in dem gerade die bösartigen Schurken verschwunden waren. Ganz sicher warteten sie dort nur darauf, daß sie sich zu ihnen hineinwagten.

»Was machen wir jetzt?« fragte Bernd im Flüsterton.

»Erst mal abwarten«, meinte Frank ebenso leise, während er gespannt Ausschau hielt. »Vielleicht können wir sie überraschen.«

»Ja, wir umrunden sie und greifen dann von hinten an«, schlug Thorsten aufgeregt vor. »Damit werden sie bestimmt nicht rechnen.«

Bernd nickte. »Ja, genau! Und einer von uns bleibt hier, damit sie denken, wir würden immer noch hier warten.«

»Gut. Thorsten und ich gehen dann los. Du tust so, als wären wir noch alle drei hier.«

Bernd schien über diese Auslegung seines Vorschlages nicht besonders glücklich zu sein. Aber die anderen beiden waren schon unterwegs, um den Hinterhalt vorzubereiten. So blieb ihm nichts anderes übrig, als ab und zu ein paar Geräusche zu machen, die auf mehrere Personen schließen lassen konnten. Hoffentlich kommen die jetzt nicht raus, um zu sehen, ob wir noch da sind, dachte Bernd. Er hoffte, Frank und Thorsten würden schnell machen, damit er nicht so lange warten mußte.

Seine Nervosität steigerte sich so weit, daß er erschrocken zusammenzuckte, als von vorne lautes Triumphgebrüll anschwoll. Wenig später hatte er sich wieder in seiner Gewalt. Er sprang auf, nahm seinen Kampfstock und rannte auf das Unterholz zu. Frank und Thorsten schwangen dort bereits im wilden Scharmützel ihre Stöcke, schlugen auf Bäume und Büsche ein, die sie in ihrer Phantasie als die Gegner sahen. Bernd stürzte sich mit lautem Kampfschrei ins Gefecht und stand seinen beiden Freunden tapfer zur Seite, bis sie die Schurken kampfunfähig gemacht hatten. Einer von ihnen konnte jedoch fliehen.

»Los! Ihm nach!« brüllte Bernd und spurtete los, quer durch den Wald, dicht gefolgt von Frank und Thorsten. »Er darf uns nicht entwischen! Sonst holt er noch Verstärkung!« Mit großen Sprüngen durchquerten sie das dichte Unterholz und verfolgten ihre Phantasie.

Laute Musik ließ die Scheiben des schwarzen Escorts erzittern, während Andreas an der Ampel wartete und mit dem Gaspedal spielte. Das Licht sprang gerade von Rot auf Gelb, als der Wagen auch schon mit einem satten Kavalierstart lospreschte. Endlich ließ er die Stadt hinter sich. Auf der Landstraße trat er das Pedal weit durch, um den Motor trotz der Musik noch hören zu können. Mit dieser Geschwindigkeit wäre er in weniger als fünfzehn Minuten bei Volker, wenn er eine kleine Abkürzung nahm, durch die er sich drei Ampeln sparen konnte. Abrupt lenkte er den Wagen von der Hauptstraße auf einen schmalen, geteerten Feldweg zu seiner Linken. Hier fuhr außer ihm kein weiteres Auto, er hatte freie Bahn. Mit etwa einhundertzehn Stundenkilometern tauchte er zwischen die Bäume des an das Feld angrenzenden Waldes. Sofort bremste Andreas hart bis auf vierzig ab, um die scharfe Rechtskurve sauber fahren zu können. Dann beschleunigte er schon wieder.

Sein erster Reflex war die Vollbremsung. Die Räder des Escorts blockierten und rutschten auf dem Laub beinahe unvermindert weiter geradeaus. Andreas riß das Lenkrad herum, aber es war bereits zu spät. Mit einem dumpfen Aufprall erwischte er den kleinen Körper des Kindes mit seinem rechten Kotflügel. Als er dann endlich zum Stehen kam, war es um ihn herum unheimlich still geworden.

Andreas wartete einige Sekunden, bevor er den Motor abstellte und sich abschnallte. Er stieg aus und betrachtete sich die Wagenfront. Der Scheinwerfer war gesplittert, den Blinker hatte es auch erwischt, und im Kotflügel prangte eine tiefe Delle. Erst jetzt bemerkte er die Blutstropfen, die vor ihm auf der Straße lagen. Er wandte sich um und sah einen etwa acht Jahre alten Jungen mit unnatürlich verdrehten Gliedmaßen auf der Straße liegen. »Fuck it!« rief er und rannte zu dem reglosen Körper hin. Das Kind blutete aus einer schweren Kopfwunde. Der Brustkorb hob und senkte sich schwach und unregelmäßig. »Scheiße«, murmelte Andreas und begann, unschlüssig auf und ab zu gehen. Dann beugte er sich wieder zu dem Jungen hinunter und blickte umher. Kurz entschlossen hob er den leichten Körper hoch und trug ihn in das Gehölz auf der rechten Seite des Waldweges. Dort legte er ihn in eine kleine Kuhle und bedeckte ihn mit Tannenzweigen und anderen Holzstücken. Anschließend wischte er sich das Blut mit Moos von den Fingern und kehrte zu seinem Wagen zurück, der immer noch quer zur Fahrtrichtung auf dem Weg stand. Die rechte Front konnte er vergessen, da mußte ein komplett neues Scheinwerfersystem rein. Warum mußte das Blag auch gerade jetzt auf der Straße rumstehen! Er sah sich noch einmal um, stieg dann in seinen Wagen und brachte ihn wieder in die korrekte Richtung zurück. Dann fuhr er los und ließ den Ort des Unfalls mit hoher Geschwindigkeit hinter sich.

Die beiden Jungen standen schweigend nebeneinander und beobachteten den davonfahrenden Escort. Als er nicht mehr zu sehen war, liefen sie zu ihrem verunglückten Freund hin und entfernten die Tannenzweige. Die Blutung hatte inzwischen aufgehört. Frank befühlte mit einer Hand den Hals des Jungen und blickte Thorsten vielsagend an. Wenige Sekunden später brachen sie beide in Tränen aus.

Heute traf Andreas sich erst an der Disco mit seinen Freunden. Nach dem Zwischenfall im Wald war er sofort nach Hause zurückgefahren und hatte das Blut von der Stoßstange entfernt. Gleich danach besorgte er sich aus dem nahegelegenen Tuning-Shop die benötigten Ersatzteile und brachte die Front des Wagens wieder ordentlich in Schuß. Die Delle im Kotflügel konnte er zwar auf die Schnelle nicht reparieren, aber das würde kaum auffallen, es sei denn, er würde jemandem davon erzählen - und das hatte er gewiß nicht vor.

Volker stand mit Wolfgang vor seinem Capri, als Andreas auf den Parkplatz fuhr. Er stellte seinen Wagen ab und ging zu den beiden hinüber, die sich eifrig über die neuen Reifen unterhielten, die Volker sich aufgezogen hatte. »Ach was! Volker, da kommt er ja. Hey, Andi! Wie geht's? Was macht dein Mord-Ford?«

»Komm, laß die Sprüche, dafür bin ich jetzt nicht in Stimmung.«

»Was ist denn mit dir los? Hat dir einer ins Bier gepisst, oder was?« Volker klopfte Wolfgang auf die Schulter und deutete zum Eingang der Diskothek.

»Nee. Ich hatte einfach nur einen Scheißmorgen. Gehen wir rein, da kann ich mich wenigstens etwas abreagieren.«

»Ich wette, die Maus von gestern hat ihn fertiggemacht«, stichelte Wolfgang. »Man wird eben nicht jünger, mein Freund.«

»Schnauze, sonst Beule«, meinte Andreas tonlos. »Ich hab keine Lust, für euch einen Seelenstrip hinzulegen.« Er beschleunigte seine Schritte und ließ die anderen beiden hinter sich.

»Puh«, machte Volker. »Der hat ja heute eine miese Laune. Hoffentlich fängt er keinen Stunk da drinnen an. Sonst ist der Tag auch für mich gelaufen.«

»Glaub ich nicht. Vielleicht ist er ein wenig merkwürdig heute, aber er wird sich deswegen nicht kloppen wollen. Das ist nicht sein Stil. Allenfalls wird er sich wieder 'ne Puppe mitnehmen und sich zu Hause mit ihr austoben. Das soll uns aber nicht belasten. Nebenbei, ich hätte auch mal wieder Lust, mir etwas Gesellschaft zu suchen.«

»Streng dich nur nicht an«, lachte Volker. »Andreas übertriffst du nie.«

Wolfgang behielt in der Tat recht. Nur wenige Stunden nachdem Andreas das Tanzlokal betreten hatte, verließ er es in Begleitung einer jungen Frau auch schon wieder. Sie war nichts besonderes, schlank, brünett, ein etwas zu breiter Mund, aber dafür nette, graue Augen. Genau das Richtige für seine momentane Stimmung. Sie stiegen in seinen Wagen und fuhren in ein nahegelegenes Waldstück, wo sie es sich dann auf dem Rücksitz bequem machten. Andreas wartete nicht, sondern kam gleich zur Sache. Mit heftigen Bewegungen versuchte er, die Erinnerung an den Morgen aus seinen Gedanken zu stoßen. Aber nach einiger Zeit bemerkte er, wie seine Bemühungen nach und nach immer mechanischer wurden. Heftig atmend löste er sich aus ihren Armen, zog seine Hose wieder richtig an und setzte sich auf die Rückbank. »So ein Mist«, fluchte er leise.

»Was ist los?« fragte Gaby, die sich mittlerweile ebenfalls wieder angezogen hatte. »Warum hast du aufgehört?«

»Ich kann nicht. Vergiß es. Tut mir leid, aber das wird heute nichts.«

Sie setzte eine ärgerliche Miene auf. »Na, das finde ich ja toll. Erst heizt du mich an wie wild und dann eine kalte Dusche, oder was? Das finde ich wirklich beschissen von dir.«

»Schön, von mir aus. Aber das ändert auch nichts. Ich fahr dich jetzt wieder zurück. Vielleicht hast du bei 'nem anderen mehr Glück.«

»Also darauf kann ich auch gut verzichten.« Sie setzte sich auf, klappte den Beifahrersitz nach vorne und öffnete die Tür. »Ich gehe lieber zu Fuß, als mich noch weiter mit dir rumzuärgern.« Damit stieg sie aus und warf die Wagentür ins Schloß.

»Na dann verpiß dich doch, du blöde Kuh!« Andreas setzte sich wieder hinter das Steuer und startete den Motor. Er trat das Pedal im Stand ein paarmal voll durch, ehe er mit durchdrehenden Reifen lospreschte. Unterwegs fuhr er an Gaby vorbei, die ihm noch den erhobenen Mittelfinger zeigte.

Die unterbrochenen Linien auf der Straße zogen mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Andreas fuhr die lange Landstraße in Richtung seines Heimatortes zurück. Irgendwie kam es ihm so vor, als hätte es heute alle Welt auf ihn abgesehen. So sehr er sich auch anstrengte, so laut er die Anlage seines Autos auch aufdrehte, er konnte nicht vergessen, was geschehen war. Immer wieder sah er den reglosen Körper des Jungen auf dem Weg liegen; dann hörte er Gabys Stimme, wie sie ihn auslachte und verhöhnte. Wütend schlug er einige Male auf das Lenkrad ein, bis er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Er hätte vielleicht nicht soviel trinken sollen. Vielleicht war aber auch sein schlechtes Gewissen schuld gewesen. Egal, was es auch gewesen war, es würde vorbeigehen. Außerdem, das blöde Kind hatte ja auch selbst Schuld gehabt. Mitten im Wald auf der Straße herumzustehen und in die Gegend zu glotzen; kein Wunder, daß da was schief ging. Und das nächste Disco-Wochenende lag noch weit in der Zukunft, bis dahin hatte er sich bestimmt wieder gefangen.

Vor seiner Wohnung hielt er an und parkte. Er schloß die Haustür auf, stieg die vier Stufen hoch und betrat den Flur. Mißmutig warf er seine schwarze Lederjacke auf das Sofa. Zum ersten Mal seit vielen Wochen war er an einem Samstagabend alleine hier. Die Stille um ihn herum raubte ihm noch lange den Schlaf, und als er dann endlich doch noch einschlief, träumte er von Kindern mit blutigen Köpfen, die ihn einen Verlierer und Versager nannten.

Mitten in einem solchen Traum erwachte er. Sein Kopf brummte wie ein ausgewachsener Braunbär. Etwas Licht der Straßenlaternen fiel durch die halb geöffneten Vorhänge des Fensters ins Schlafzimmer. Dann klopfte plötzlich jemand an die Scheibe. Andreas fuhr erschrocken hoch. Wer könnte das um diese Zeit sein? Unsicher stand er auf und taumelte zu den Vorhängen hinüber. Als er sie zur Seite zog und auf die Straße blickte, sah er gerade noch eine Gestalt in weißer Kleidung, dann flog etwas mit lautem Klatschen gegen das Fenster und raubte ihm die Sicht. Eine halb flüssige, rote Masse sickerte langsam an dem Glas herunter. »Verdammte Schweinerei!« rief Andreas aus, wandte sich um und suchte nach seiner Hose und den Schuhen. Wenig später verließ er die Wohnung und rannte auf die Straße. Sein erster Blick fiel auf das beschmierte Fenster. Im Licht der Laternen konnte man diese Masse leicht für... Blödsinn, das ist nur Farbe, nichts weiter. Als nächstes blickte er zu seinem Wagen, und dort sah er wieder die Gestalt in Weiß, wie sie mit nackten Füßen auf der Motorhaube des Escorts stand. Es war offensichtlich ein Junge, höchstens acht oder neun Jahre alt. Er hielt etwas Rundes in der Hand, das er nun mit einem platschenden Geräusch auf das Blech fallen ließ. Rote Flüssigkeit breitete sich aus und befleckte das schwarzglänzende Metall.

»Daß sie dir ja wohl ins Hirn geschissen haben!« Er rannte auf den Jungen zu, der gleich darauf auf die Straße sprang und davonlief. Andreas nahm die Verfolgung auf. Die weißgekleidete Gestalt war etwa einhundert Meter vor ihm, als sie in eine kleinere Gasse einbog. Kurz darauf erreichte Andreas ebenfalls die Einmündung, doch er sah niemanden. Er lief noch eine Strecke den Weg entlang, doch von dem Jungen war keine Spur mehr zu entdecken. Nachdem er noch eine Weile hinter Hausecken und in Hofeinfahrten gesucht hatte, gab er es auf und beschloß, nach seinem Wagen zu sehen. Er konnte seinen Augen nicht trauen, als er schließlich wieder vor dem Hauseingang stand. Das Fenster war völlig sauber, auch die Motorhaube glänzte in makellosem Schwarz. Nur zwei blutrote Abdrücke von Kinderfüßen waren dort zurückgeblieben. Verwirrt blickte Andreas sich um. Hatte er sich das nur eingebildet? Aber dann wären die Fußspuren doch nicht da. Jedenfalls verschandelten sie seinen Wagen. Er ging in seine Wohnung zurück, um etwas Spülwasser und einen Lappen zu holen. Als er zurückkam, erwartete ihn erneut ein sonderbarer Anblick. Die Fußabdrücke waren fort. Es war nichts mehr von dieser roten Farbe zu sehen. »Was ist hier los, zum Teufel?« fragte Andreas halblaut, den Waschlappen immer noch in der Hand. Am Ende doch nur ein Traum? Eine Erklärung wollte ihm jedenfalls im Augenblick nicht einfallen. Also ging er wieder zurück in die Wohnung, wo er noch eine Zeit lang die Straße beobachtete, ehe er sich müde wieder schlafen legte.

Als er am Morgen seine Augen öffnete, fühlte er sich wie durchgekaut und ausgespuckt. Immer wieder war er in der Nacht hochgeschreckt und hatte aus dem Fenster geblickt, aber nichts war geschehen. Seine Träume hatten ihm keine Erholung gebracht. Warum machte ihn das Ganze eigentlich so fertig? Er trug keine Schuld daran, es gab nichts, was er hätte verhindern können. Und diese verwirrenden Dinge in der Nacht; waren sie real gewesen, oder hatte er es nur geträumt? Die Tatsache, daß er keine Spuren mehr entdecken konnte, ließ auf ein Produkt seiner Phantasie schließen, doch die unheimliche Genauigkeit der Erinnerung widersprach dem.

Obwohl er eigentlich keinen rechten Appetit hatte, bereitete er sich sein Frühstück zu. Mit dem Kaffee stand es schon etwas anders, er setzte sich gleich eine ganze Kanne auf. Als nächstes schaltete er das Radio ein und machte es sich am Wohnzimmertisch gemütlich. Der Lokalsender ließ die Charts über den Äther jagen, die Andreas dazu brachten, mit den Fingern auf dem Tisch herumzuklopfen. Um elf Uhr wurde die Musik ausgeblendet, um den Nachrichten Platz zu machen. Nach allgemeinen Meldungen über zu versenkende Bohrinseln und Kämpfen in Osteuropa kamen die Lokalnachrichten. Wieder einmal ging es um Politik, Statistik und so weiter. »Unfall mit Fahrerflucht«, hieß die nächste Meldung. Andreas hörte auf zu kauen und lauschte. »Gestern wurde ein neunjähriger Junge auf einem Waldweg das Opfer eines Verkehrsunfalles. Man fand die Leiche im Wald, bedeckt mit Zweigen und Laub. Die beiden Freunde des Jungen, die zur Zeit des Unglückes mit ihm dort waren, hatten jedoch nichts davon bemerkt. Sie waren, nachdem sie ihn eine Stunde lang gesucht hatten, nach Hause zurückgekehrt. Bei der bald darauf gestarteten Suchaktion fand man außer dem Körper des Kindes auch Lackspuren und Splitter, die von dem Fahrzeug des Flüchtigen stammen. Die Polizei hat die Fahndung bereits aufgenommen.«

Den Rest der Meldung bekam er gar nicht mehr mit. Andreas legte seine halb gegessene Brotscheibe beiseite. Der Junge war also tot? Aber er hatte doch noch geatmet, als er ihn von der Straße getragen hatte. Was hatte er noch gesagt? Es waren zwei andere Kinder da gewesen. Aber anscheinend hatten sie ihn nicht gesehen. Was soll's, dachte er. Der Kleine hat halt Pech gehabt. Mir wird man jedenfalls nichts beweisen können. Der Lack wird schließlich überall verkauft. Trotzdem blieb ihm ein unangenehmes Gefühl im Magen, das ihn dazu brachte, zusammenzuzucken, als es plötzlich an seiner Tür klingelte.

Verärgert, weil er etwas von seinem Kaffee verschüttet hatte, erhob er sich heftig und stapfte in den Flur. Nachdem er den Öffner betätigt hatte, blickte er ins Treppenhaus zum Ausgang hin. Die Haustür stand offen, aber es war niemand zu sehen. Andreas wartete noch ein paar Sekunden, dann trat plötzlich eine kleine, ganz in weiß gekleidete Gestalt auf die Schwelle. Es war ein kleiner Junge, dessen Kopf fürchterlich zugerichtet war. Blut klebte ihm an seiner Schläfe und rann über die Stirn. Voller Entsetzen starrte Andreas den Jungen an, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Etwa eine Minute standen sie sich so gegenüber, ohne daß etwas geschah. Dann hob das Kind langsam den rechten Arm und wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Andreas. Seine Lippen formten ein Wort, seine Stimme war nur ein leiser Hauch. Aber er wußte, was der Junge sagte. »Mörder«, wiederholte der Junge noch einmal. Sein Finger verharrte in seiner Position, als wäre er eine Waffe, die den Übeltäter nun als Strafe niederstrecken sollte.

»Nein«, flüsterte Andreas. »Ich wollte es nicht. Ich habe dich nicht gesehen.« Dann schüttelte er den Kopf. »Was rede ich da eigentlich für eine Scheiße? Hey, Kleiner! Was soll das Spielchen? Wisch dir das Zeug aus der Fresse und verpiß dich! Sonst erlebst du ein Unglück.«

»Das habe ich schon«, erwiderte der Junge tonlos. Seine Augen starrten Andreas immer noch anklagend und irgendwie traurig an. »Mörder!« schrie er plötzlich, dann warf er ihm etwas entgegen. Einen Moment später war er verschwunden.

Andreas duckte sich, als der Gegenstand auf ihn zugeflogen kam. Er wandte sich um und sah eine Stoffpuppe am Boden liegen. Auch sie hatte einen blutigen Kopf, und ihre Glieder waren grotesk verdreht. »Du mickrige Kröte!« rief er und rannte nach draußen auf den Bürgersteig. Er blickte sich nach allen Seiten um, aber der Junge war fort. Fluchend ging er ein paar Schritte umher, kehrte dann aber wieder um, da er nichts mehr tun konnte.

Wütend warf er die Wohnungstür ins Schloß. Was bildete sich der Bengel überhaupt ein? Woher wußte er eigentlich von dem Unfall? Im Radio war die Rede davon, daß es niemand gesehen hätte. Dann fiel ihm die Puppe ein, die immer noch im Hausflur lag. Er ging wieder zurück und blickte suchend auf den Boden. Aber er fand nichts. Die Haustür war wieder geschlossen, der Flur verlassen. Was geht hier vor, zum Teufel? dachte Andreas, als er abermals in seine Wohnung ging und sich nachdenklich auf die Couch setzte. Das war schon das zweite Erlebnis, das er sich nicht erklären konnte. Die Träume in der Nacht waren ja noch zu verstehen. Auch wenn er sich das nicht gerne eingestand, aber er fühlte sich doch ein wenig unwohl, wenn er an den Unfall zurückdachte. Möglicherweise hatte er sich das nur eingebildet? Vielleicht gab es gar keinen Jungen in weißer Kleidung, der ihm das Leben schwer machte. Es könnte auch ein Produkt seines schlechten Gewissens sein, das sich auf diese Art meldete.

Er brachte die Reste des Frühstücks in die Küche zurück und zündete sich eine Zigarette an. Dann streckte er sich der Länge nach auf seiner Couch aus und beobachtete die bläulichen Rauchfäden, wie sie von der glühenden Spitze aus hinaufstiegen und in der Luft auseinandertrieben. Es waren aber auch immer die Kinder, die ihm Schwierigkeiten machten. Dies war nicht der erste Unfall, den er gehabt hatte, aber bereits der zweite, an dem ein Kind beteiligt war. Zugegeben, das Mal davor hatte er noch rechtzeitig bremsen können, als das Mädchen plötzlich vor seinem Kühler aufgetaucht war, aber der Mercedes hinter ihm hatte nicht schnell genug reagieren können. Seitdem fuhr er nun den Escort; der Kadett war damals nur noch für den Schrottplatz zu gebrauchen gewesen. Doch nicht nur in diesen beiden Fällen hatte er mit den Kindern Probleme gehabt. Auch sonst verstand er sich nicht gut mit ihnen. Sie waren unberechenbar, stellten alles auf den Kopf und kümmerten sich einen Dreck um das, was einem lieb und teuer war. Mehr als einmal hatte er gesehen, wie ein Fußball oder eine Frisbee-Scheibe gegen die Tür seines Wagens geflogen war. Zum Glück war nie etwas dabei zu Bruch gegangen, aber das machte die Sache auch nicht besser. Nein, es war besser, man hielt sich von den Blagen fern, solange man konnte.

Nachdem er die Zigarette im Aschenbecher zerdrückt hatte, richtete er sich wieder auf und kramte sein kleines Notizbüchlein hervor. Vor ein paar Tagen war ihm ein nettes Mädchen begegnet, das am Nachtschalter der Tankstelle gesessen und ihn bedient hatte. Anscheinend fand sie ihn ebenfalls interessant, denn sie schrieb ihm ihre Telefonnummer auf den Kassenbon, als er sie darum bat. Jetzt fand er es an der Zeit, sie anzurufen.

Das Freizeichen ertönte drei Mal, dann nahm jemand den Hörer ab. »Kinberg, hallo?«

Diese Stimme erkannte Andreas sofort. »Hallo Tina. Hier ist Andreas, der junge Mann von letzter Woche. Erinnerst du dich?«

»Oh, ja. Natürlich.« Sie schien begeistert. »Der dunkle Escort, richtig? Dann hast du meine Nummer also doch nicht verloren, was?«

»Niemals«, betonte Andreas. »Ich würde mich hüten, die Telefonnummer eines Mädchens zu verlieren, mit dem ich heute abend gerne ins Kino gehen würde.«

»Weißt du, daß du ein richtiger Glückspilz bist? Gerade heute habe ich nichts vor.«

»Das paßt ja hervorragend.« Andreas blickte auf die Zeitung, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag. »Wie wäre es mit Outbreak? Ich lade dich ein.«

»Wie könnte ich da widerstehen.« Tina lachte. »Wann fängt der Film an?«

Er überflog die Anzeige. »Zwanzig Uhr ist Einlaß. Mit Werbung und Vorfilm wird das wohl bis um halb dauern. Ich schätze, es reicht, wenn wir um viertel nach da sind.«

»Ja, gut. Dann kannst du mich ja gegen zehn vor acht abholen. Ich gebe dir nur schnell meine Adresse.« Nachdem sie ihm ihre Anschrift genannt hatte, verabschiedeten sie sich voneinander, und Andreas legte schließlich auf. Na bitte, dachte er. Das klappt also doch noch.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, die kleine Delle im Kotflügel etwas auszubeulen und schwarz überzusprühen. Nachdem er mit seiner Arbeit fertig war, fuhr er den Wagen noch durch die Waschanlage und saugte den Innenraum sorgfältig aus. Ein Vanille-Wunderbaum sorgte für angenehmen Duft und machte so den Komfort des Escort perfekt. Wieder zu Hause ging er unter die Dusche und bereitete sich dann auf seine Verabredung vor.

Noch immer unter dem starken Einfluß des Filmes traten Tina und Andreas durch die breite Kinotür ins Freie. Er hatte einen Arm um ihre Hüfte gelegt, und sie schlenderten dicht aneinandergeschmiegt über den Bürgersteig in Richtung des Parkplatzes. Die düstere Stimmung des Filmes wich langsam der Realität, die schrecklichen Visionen verblaßten nach und nach. Keine unheilbare Krankheit störte ihr Leben, es war alles so, wie es immer war.

»Was machen wir jetzt?« fragte Tina, während sie an der Hauptstraße entlangschlenderten.

»Wie wäre es mit einer Pizza? Danach ein gemütlicher Spaziergang, und später vielleicht ein gemütlicher Abend.«

»Abend ist gut. Aber von mir aus. Ich habe wirklich einen Bärenhunger.« Sie schmiegte sich an seine Seite und ließ sich zum Parkplatz führen. Doch plötzlich blieb Andreas so abrupt stehen, daß sie beinahe stolperte. »Was ist?«

Er antwortete nicht. Sein Blick war starr auf einen Punkt der Straße gerichtet. Mitten auf der Fahrbahn stand wieder dieser Junge in den weißen Kleidern. Die Autofahrer rasten an ihm vorbei, scheinbar ohne ihn wahrzunehmen. Andreas bemerkte nicht, wie Tina ihn besorgt anblickte und versuchte, mit ihm zu sprechen. Er beobachtete die kleine Gestalt in der Mitte der Straße. Als der Junge dann plötzlich losrannte, schrie er laut auf. »Nein! Bleib stehen!«

»Andreas! Was ist los?« Tina schüttelte ihn sanft, aber er reagierte nicht.

Wie in einer verlangsamten Aufnahme sah Andreas das Kind, wie es in vollem Lauf über die Straße rannte. Die hellen Stoffstücke, die es trug, flatterten im Zugwind der Autos. Wenige Augenblicke später knallte es fürchterlich, und der kleine Körper schleuderte mehrere Meter durch die Luft. Als er auf dem Asphalt aufschlug, war er bereits arg zugerichtet. Die Reifen der drei nachfolgenden Fahrzeuge rollten über ihn hinweg. Andreas wandte mit einem weiteren Aufschrei den Blick ab.

»Mein Gott, was hast du denn?« Immer noch redete sie auf ihren Begleiter ein.

Er bemerkte plötzlich, daß jemand bei ihm war. Sein Kopf fuhr herum, und er sah, wie der Junge seinen Arm festhielt und daran zog. »Hör auf!« schrie er in Panik. »Laß mich los! Du bist tot, du kleines Scheusal! Verstehst du? TOT!« Er riß sich los und stürzte in Richtung seines Wagens davon.

Tina starrte ihm mit tränennassen Augen nach.

Er jagte den Motor im Stand hoch und fuhr mit quietschenden Reifen los. Er sollte ihn nicht erwischen, niemals! Mit mehr als einhundert Stundenkilometern raste er über die lange Hauptstraße der Innenstadt. Zuerst hatte er den Weg nach Hause eingeschlagen, doch dann überlegte er es sich anders. Möglicherweise wartete dort schon jemand auf ihn, jemand, der Spaß daran hatte, ihn zu quälen. Daher riß er mitten auf der Straße das Lenkrad herum, wobei er zwei andere Fahrzeuge zum Bremsen zwang, und gab wieder Gas.

Wolfgang staunte nicht schlecht, als ein ziemlich abgehetzter, junger Mann vor seiner Tür stand. »Du meine Güte, was ist denn mit dir passiert?«

»Hör mal, Wollie. Kann ich heute nacht bei dir pennen, Mann? Ich hab mir ein paar Bierchen zuviel reingezogen, und da sind 'ne Menge Streifenkarren unterwegs.«

»Klar doch«, meinte sein Freund und bat ihn herein. »Auf der Couch ist noch Platz. Ich hole dir noch eine Decke, dann wird's schon gehen.«

»Danke, Alter. Ich habe wirklich 'ne Scheißnacht hinter mir, das kannst du mir glauben.« Im Wohnzimmer streckte er sich auf dem gemütlichen Sofa aus und versuchte, seine Aufregung abzubauen. Wie versprochen kam Wolfgang kurze Zeit später mit einer Wolldecke aus dem Schlafzimmer, die Andreas sich dankbar überstreifte. Irgendwie schaffte er es dann auch, einzuschlafen.

Seine Träume erwiesen sich abermals als wenig erholsam. Stimmen und Kinderschreie beherrschten seine Phantasie, er warf sich laufend von einer Seite auf die andere, ohne die ersehnte Ruhe finden zu können. Als dann der kleine Wecker, den Wolfgang ihm gegeben hatte, um sechs Uhr zu piepsen begann, hatte Andreas mächtige Schwierigkeiten, in die Realität zurückzufinden.

Zuallererst fuhr er nach Hause, um sich zu duschen und frische Sachen anzuziehen. Dann machte er sich auf den altbekannten Weg zur Arbeit. Diese Stelle bei einem KFZ-Betrieb hatte ihm einer seiner Bekannten besorgt, der mit dem Inhaber der Werkstatt gut befreundet war. »Morgen, Meister«, begrüßte Andreas seinen Chef. »Was liegt heute an?«

»Hallo, Andi«, erwiderte Paul, der bereits geschäftig an einem älteren Kadett herumschraubte. »Gut, daß du schon da bist. Du kannst mir bei dem Wagen hier helfen. Der soll nächste Woche über den TÜV, aber da muß noch 'ne ganze Menge dran gemacht werden. Ich schraube nur noch eben die Zündkerzen rein; zieh du dich in der Zeit schon mal um. Wir fahren die Kiste gleich auf die Bühne. Du mußt den Auspuff mal nachsehen, vielleicht sogar schweißen. Ich mach dann die Stoßdämpfer.«

Andreas nickte und ging in einen Nebenraum, in dem er sich seinen Blaumann überwarf. Als er wieder in die Werkstatt kam, hatte Paul den Kadett schon hochgefahren und betrachtete sich jetzt den Unterboden. »Sieht übel aus, was?« fragte Andreas.

»Joh, so kann man das sehen. Wird 'ne Menge Arbeit kosten, die Karre wieder auf Vordermann zu bringen.«

Andreas betrachtete sich den Auspuff genauer. Mit Sicherheit würde er schweißen müssen, gar keine Frage. Die Aufhängung war schon so verbogen, daß sie wahrscheinlich nur aus reiner Freundlichkeit noch nicht auseinandergefallen war. Außerdem sah das Endrohr auch nicht viel besser aus. »Scheiße, ist die Kiste alt«, war alles, was Andreas dazu noch einfiel. Kopfschüttelnd ging er in eine der hinteren Ecken des großen Raumes, um das Schweißgerät zu holen. Er drehte die beiden Hähne der Flaschen auf und hielt die Funkenzange vor die Mündung der Düse. Er ließ ein wenig des Gases herausströmen, bevor er mit der Zange schnell hintereinander ein paar Funken erzeugte.

Unvermittelt gab es einen Knall, gefolgt von dem schrillen Schrei eines Menschen. Vor Schreck ließ Andreas das Werkzeug fallen und wandte sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es mußte von draußen hereingedrungen sein. Andreas wollte gerade das Gas wieder abdrehen um nachzusehen, als er Paul bemerkte, der bereits auf dem Weg nach draußen war. Andreas kam jedoch nicht dazu, weiterzuarbeiten, da sein Chef plötzlich wieder in die Halle geeilt kam und ihn zu sich rief. Jetzt stellte Andreas das Gas endgültig ab, um sich zu Paul zu gesellen. »Was gibt's, Boß?«

»Es scheint, als hätte jemand einen ziemlichen Haß auf dich, Junge«, meinte Paul und wies auf den Vorplatz der Werkstatt. »An deiner Stelle würde ich noch einmal tief durchatmen.«

Mit langsamen Schritten verließ Andreas die Halle. Als er sah, wovon Paul gesprochen hatte, ballte sich sein Magen zu einem schweren Klumpen zusammen. Er sah seinen Wagen auf dem Parkplatz stehen. Der rechte Kotflügel hatte eine tiefe Delle, Scheinwerfer und Blinker waren gesplittert. Doch das war es nicht, was Andreas aus der Fassung brachte. Vor der Motorhaube prangte der mit Kreide gezeichnete Umriß eines Kinderkörpers auf dem Pflaster. Rot leuchtende Farbspritzer besudelten die Stelle, an der sich der Kopf der Zeichnung befand. Erschüttert bewegte er sich langsam auf den Escort zu. Immer wieder murmelte er die Worte »Verfluchter Scheißdreck!« vor sich hin. Paul war hinter ihm aus der Werkstatt gekommen und beobachtete seinen Mitarbeiter. Endlich an der Motorhaube angekommen, beugte Andreas sich hinunter und betastete die verbeulten Stellen. Dann richtete er sich unvermittelt wieder auf und ballte seine Hände zu Fäusten. »Ich kriege dich«, flüsterte er. Dann schrie er aus vollem Halse: »Hörst du! Ich krieg dich, du Arschloch! Und dann wichse ich dich zusammen, daß du nie wieder auf deinem Scheißarsch sitzen kannst!« Er riß die Fahrertür auf, sprang in den Wagen und war schon mit heulendem Motor losgefahren, bevor Paul etwas sagen konnte.

Sein Fuß trat das Gaspedal beinahe bis zum Anschlag durch. Er hatte Mühe, den Wagen bei Kurvenfahrten in der Spur zu halten, aber das interessierte ihn im Augenblick nicht. Die rote Ampel vor sich übersah er ebenfalls, wodurch er zwei andere Autofahrer zu plötzlichen Ausweichmanövern nötigte. Plan- und ziellos kurvte Andreas durch die Straßen und suchte nach jemandem, den er selbst nicht kannte. Als ihn endlich sein Verstand wieder einholte, befand er sich in einem total abgelegenen Teil der Stadt. Mit zitternden Fingern nahm er sich eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an. Mit dem ersten Zug rief er sich noch einmal den Anblick ins Gedächtnis zurück, der ihn so hatte ausklinken lassen. Schon zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen hatte man ihm seinen Wagen verbeult. Dann kam ihm noch die mißglückte Bumserei am Sonntag in den Sinn, die Zeichnung auf dem Parkplatz, das Blut... Die Zigarette schmeckte ihm nicht mehr - er warf sie mit einer kurzen Bewegung durch das offene Fenster auf die Straße. Bis er Paul die ganze Sache erklärt hatte, würde auch einige Zeit noch vergehen. Vielleicht sollte ich mir erst einmal einen Kaffee kochen, dachte er. Nachdem er zu dieser Entscheidung gekommen war, startete er den Wagen und fuhr nach Hause.

Auf dem Anrufbeantworter fand er eine Nachricht von Paul; wie erwartet wollte er eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten haben. Soll er sich seine verdammte Scheißarbeit doch in den Arsch schieben, dachte Andreas schlechtgelaunt. Er hatte weitaus größere Probleme. Möglicherweise brachte Paul sogar ein paar Tatsachen zusammen. Die Kreidezeichnung war eindeutig der Umriß eines Kindes gewesen, die rote Farbe sollte ganz klar das Blut darstellen, das dem Opfer aus dem Körper geflossen war. Jetzt war es nicht mehr schwierig, den letzten Gedanken zu finden und zu erkennen, wer der Fahrer gewesen war, der am Samstag das Kind im Wald angefahren hatte.

Die zweite Nachricht kam von Tina. Sie wollte sich gegen Abend mit ihm treffen und noch einmal über das reden, was gestern nacht mit ihm los gewesen war. Schon wieder eine dieser lästigen Kletten, dachte er verstimmt. Dann aber bemerkte er, daß er das dringende Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden. Nicht über den Unfall oder die Vorfälle danach. Nur einfach reden - nicht alleine sein.

Bei einer dampfenden Tasse Kaffee dachte er zum wer weiß wievielten Mal über seine Situation nach. Irgend jemand wollte ihm anscheinend einen Denkzettel verpassen. Aber wer? Dann kam ihm das Bild von gestern abend in den Kopf, wie das Kind von dem Wagen erfaßt und fortgeschleudert worden war. Wie sollte jemand so etwas freiwillig tun? Oder waren das wirklich alles nur Hirngespinste, die ihn wiederholt überfielen? Doch die Delle in seinem Wagen und die Kreidezeichnung waren real. Paul hatte sie auch gesehen. Oder war Pauls Reaktion auch nur Einbildung gewesen? Ebenso wie seine Nachricht auf dem Anrufbeantworter? Andreas wischte sich mit der Hand über das Gesicht und trank den restlichen Inhalt seiner Tasse aus. Das Gefäß stellte er auf dem Tisch ab und streckte sich dann auf dem Sofa aus. Da er in der letzten Nacht nur wenig geschlafen hatte, fielen ihm nun schon bald die Augen zu.

Kurz nach Einbruch der Dämmerung fuhr er durch die kleinen Nebengassen zu Tinas Wohnung. Die Hauptstraßen mied er bewußt, da er fürchtete, es könnte jemand auf den Gedanken kommen, er hätte etwas mit dem Unfall zu tun. In der Nähe der Haustüre bog er in einen Seitenweg ein und parkte. Wenige Minuten darauf klingelte er. Der Summer ertönte, und Tina empfing ihn im Hausflur. »Hi, Tina«, sagte Andreas. »Danke für die Einladung.«

»Komm doch erst einmal rein«, sagte sie und schloß die Tür hinter ihm. »Ich würde gerne mit dir über ein paar Dinge reden.«

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich das tun werde. Ich bin in letzter Zeit nämlich ziemlich gestreßt. Wow!« rief er aus, als er das Wohnzimmer betrat. »Das nenne ich mal eine tierisch coole Einrichtung.«

Der Raum bestand in erster Linie aus einem ganzen Berg Kissen, die beinahe die Hälfte des Raumes ausfüllten. Ihnen gegenüber war ein schwarzer Schrank zu sehen, in dem auch die Musikanlage und der Fernseher ihren Platz hatten. Die Beleuchtung war aus einem Halogen-Seilsystem mit vier kleinen Strahlern zusammengebaut worden. Zwei diffuse Wandreflektorlampen spendeten ein weiches Licht, welches das Zimmer ganz besonders gemütlich wirken ließ. Fasziniert blickte er sich um, bis Tina sich an ihm vorbeischob und sich in die Kissen setzte.

Nachdem Andreas sich ebenfalls niedergelassen hatte, schaltete Tina mit der Fernbedienung die HiFi-Anlage ein. Leise Musik schien sich wie selbstverständlich in die Atmosphäre einzufügen. Unter anderen Umständen hätte er diese Klänge als Weichspülgedudel abgetan, doch jetzt war er beinahe begeistert. »Also, was wolltest du mit mir bereden?«

Tina schwieg ein paar Sekunden. »Wir hatten gestern einen wirklich schönen Abend gehabt«, begann sie schließlich. »Ich weiß immer noch nicht, warum du auf einmal so plötzlich losgebrüllt hast.«

»Ich habe dir ja gesagt, ich bin ein wenig gestreßt. Die Arbeit macht mir ziemlich zu schaffen. Nicht einmal die Wochenenden bringen mich wieder hoch.«

Ihr Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. »Ich glaube nicht, daß das der wirkliche Grund ist. Andreas, weißt du denn überhaupt noch, was du da alles gerufen hast?«

»Ja, sicher«, gab er zurück. »Aber es hat nicht die geringste Bedeutung.«

»Ich finde, es hat ganz sicher eine Bedeutung, wenn man jemanden anschreit, er wäre ein kleines Scheusal und so gut wie tot. Warum hast du so etwas zu mir gesagt?«

Andreas überlegte. Dann beschloß er, besser den Ahnungslosen zu spielen. »Scheint so, als wüßte ich wirklich nicht, was ich gesagt habe. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, so etwas von mir gegeben zu haben. Und du warst erst recht nicht damit gemeint.«

»Und doch hast du es gesagt. Was ist los mit dir? Wer ist es, den du tot sehen willst?«

»Ich will überhaupt niemanden tot sehen«, versetzte er heftig. »Wieso kommst du auf den dämlichen Gedanken, daß ich das alles so gemeint habe?« Seine Stimme wurde lauter. »Ich habe nichts davon gewollt! Warum könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Wild mit den Armen herumfuchtelnd sprang er auf und stapfte auf die Tür zu. »Ich werde mich nicht länger von euch quälen lassen, klar?«

Tina versuchte ihn aufzuhalten, indem sie ihn an den Schultern packte und zu sich herumdrehte. »Andreas! Was hast du? Ich will dir doch nur helfen.«

»Ich scheiße auf eure Hilfe! Verpisst euch, und zwar alle!« Mit einer ruckartigen Bewegung stieß er sie von sich. Sie taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings zu Boden. Ihr Kopf prallte gegen die Kante des niedrigen Tisches, woraufhin sie reglos liegen blieb. Zuerst begriff Andreas gar nicht, was geschehen war, doch dann kam ihm die Erkenntnis. Wie von Sinnen rannte er aus der Wohnung hinaus, nach draußen. Auf dem Gehweg wäre er um ein Haar mit einer kleinen, weiß gekleideten Gestalt zusammengestoßen. Der Junge blickte ihm starr ins Gesicht, während ein schmaler Blutfaden über seine Stirn und Wange rann. »Laß mich in Ruhe!« schrie Andreas und rannte zu seinem Wagen. Er stieg ein, schlug die Tür zu und fuhr mit einem Blitzstart davon.

Schummriges Licht und dichter Rauch umgaben ihn. Seine Sinne waren nicht mehr besonders klar. In seiner linken Hand brannte eine Marlboro, in der rechten hielt er ein Glas Bier, das er einen Augenblick später in einem Zug austrank. Hin und wieder sprach er ein paar unzusammenhängende Sätze vor sich hin, die aber niemand beachtete. Er war mittlerweile schon zwei Stunden hier, ohne daß er einen richtigen Gedanken hatte fassen können. Unsicher stellte er das Glas auf der Theke ab und bestellte ein neues. Als sich der Wirt wieder zu ihm herumdrehte, war aus seinem Gesicht eine blutverschmierte Jungenfratze geworden, die grinsend mit den Augen rollte. Erschreckt schlug sich Andreas die Hände vor die Augen. Als er sie wieder sinken ließ, wandte sich der Mann hinter dem Tresen gerade zu ihm um. Es war derselbe Typ, der ihm nun schon fünf Gläser Bier eingeschenkt hatte. Erleichtert atmete er auf und nahm sein Getränk entgegen. Er rutschte auf seinem Hocker herum, um sich die Gäste der Wirtschaft anzusehen. Es waren die üblichen Kneipengesichter, nichtssagend und langweilig. Nur eine Person erregte seine Aufmerksamkeit. Es war eine junge Frau, die an einem Tisch am Fenster saß und an ihrem Glas nippte. Mit wackligen Schritten durchquerte Andreas den Raum und stützte sich auf die Tischplatte. »Einen schönen guten Abend«, sagte er schwerfällig. »Darf ich dich zu einem Drink einladen?«

Die Frau machte ein Gesicht, als hätte sie gerade den eine Woche alten Kadaver eines Hundes gesehen, an dem sich bereits die Fliegen und Würmer gütlich taten. »Verschwinde, du Schnapsleiche«, sagte sie. »Ich habe keine Lust, mit dir zu quatschen.«

»Das mußt du auch nicht. Wir gehen einfach in mein Schlafzimmer und bumsen uns, bis der Putz von der Decke fällt.«

Eine Hand legte sich von hinten auf Andreas' Schulter. Er wurde herumgedreht und blickte jetzt in das verärgerte Gesicht eines recht großen Mannes. »Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat, du Pisser? Verzieh dich, bevor ich wütend werde.«

»Was soll das denn?« Andreas machte einen Schritt zurück. »Man wird ja wohl noch mal fragen dürfen, oder?«

»Klar. Jetzt hast du gefragt, und eine Antwort hast du auch bekommen. Also, zisch ab.«

Andreas grinste. »Ist es jetzt wirklich schon so weit gekommen, daß einem die Gorillas aus dem Zoo sagen dürfen, was man machen darf und was nicht? Oder welche Frau man knallen darf und welche nicht?« Im nächsten Moment stürmte er auf den großen Kerl zu. Dieser erwartete den Vorstoß geduldig, hob die Faust und ließ sie mit großer Wucht in Andreas' Gesicht schießen.

In weniger als einer Sekunde war ein Handgemenge im Gange, das sich aber schnell zu Gunsten des großen Kerles wandte. Schließlich trennte der Wirt die beiden Streitenden voneinander und setzte Andreas vor die Tür. Zuerst versuchte er, wieder in die Kneipe zu kommen, doch er mußte feststellen, daß seine Anwesenheit anscheinend nicht weiter erwünscht war. »Verdammte Scheißwichser!« schrie er und trat gegen den draußen angebrachten Zigarettenautomaten. Schließlich wankte er zu seinem Escort, schloß die Tür auf und setzte sich ans Steuer.

Dum! Dum! Dum! Dum! klang es aus den Lautsprechern des Wagens, als Andreas den CD-Wechsler startete. Dann machte er sich auf den Weg, zuerst kreuz und quer durch das Viertel, dann auf eine Landstraße, die er mit Vollgas entlangfuhr. Das Licht des noch funktionierenden Scheinwerfers warf einen nur ungenügenden Schein auf die Straße, doch glücklicherweise waren zu dieser Zeit nicht mehr besonders viele Menschen unterwegs.

Als er wieder wach wurde, ruhte sein Kopf auf dem Lenkrad. Um ihn herum zeigte sich das erste Licht des neuen Tages. Langsam richtete er sich auf und blickte umher. Er befand sich auf dem Seitenstreifen einer Straße außerhalb der Stadt, doch wie er hierhergekommen war, entzog sich im Augenblick noch seiner Erinnerung. Sein Kopf fühlte sich schwer an, und er hatte einen ziemlich abgestandenen Geschmack im Mund. Außerdem pochte seine Nase, als hätte man sie in einen Schraubstock geklemmt. Langsam erinnerte er sich an das, was gestern in der Kneipe geschehen war. Kopfschüttelnd setzte er sich ordentlich hin und startete den Wagen. Wenig später fuhr er wieder zurück. Auch jetzt vermied er es, die großen, breiten Straßen zu benutzen. Statt dessen befuhr er die Feldwege, die es hier zuhauf an beiden Seiten der Bundesstraße gab. Einer dieser Wege führte direkt durch ein Waldgebiet, das ihm ziemlich bekannt vorkam.

Kurz hinter der engen Rechtskurve hielt er an und stellte den Motor ab. Der Wald war in morgendliche Stille getaucht. Ein paar Vögel begrüßten die aufgegangene Sonne mit ihren Stimmen, leichter Wind spielte mit den Blättern und den Zweigen der Bäume. Andreas stieg aus und betrachtete die Umgebung. Vor sich auf der Straße konnte er den verkrümmten Körper eines Kindes sehen. Langsam wandte er sich um und ging in den Wald hinein, bis er eine bestimmte Stelle erreicht hatte. Dort ließ er sich auf ein Knie nieder und begann, Zweige und Laub beiseite zu räumen. Als die Mulde, in der er das Kind vor drei Tagen versteckt hatte, freigelegt war, sah er darin einen hell schimmernden Totenschädel, dessen Stirnpartie blutbefleckt war. Zwischen seinen Zähnen steckte ein Zettel, auf dem mit kritzliger Handschrift eine Nachricht hinterlassen worden war: Andreas (Speedy) Jahner, *1969 +1995.

Teilnahmslos starrte er den Schädel in seinen Händen an. Doch plötzlich verzog der Totenkopf sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen und begann, laut loszulachen. Mit einem Aufschrei ließ Andreas ihn fallen und rannte zu seinem Wagen zurück. Voller Panik versuchte er, den Motor zu starten, was ihm erst beim zweiten Versuch gelang. Steine und Sandkörner spritzten auf, als sich der Wagen schnell in Bewegung setzte. Er jagte den Motor hoch und raste durch den Wald. An einer Seite des Weges tauchte eine ihm wohlbekannte Gestalt auf. Er riß das Lenkrad herum, fing den Wagen gerade noch ab und fuhr weiter, den Serpentinen entgegen, die von hier aus ins Tal führten. Kurz vor der ersten Kurve tauchte der Junge abermals auf, doch diesmal warf er etwas, das auf der Windschutzscheibe als rote Masse zerplatzte. Andreas versuchte, den Escort unter Kontrolle zu halten, doch nur wenige Sekunden später durchbrach er die Leitplanke der ersten scharfen Biegung. Der Motor heulte laut auf, als die Räder den Kontakt zum Boden verloren. Mit einem lauten Knall prallte er gegen einen der Bäume, überschlug sich mehrmals und kam endlich etwa einhundertfünfzig Meter tiefer zum Stehen.

Der Junge mit der blutigen Stirn blickte auf die Trümmer des Wagens hinab. Langsam kehrte wieder Stille ein. Schritte näherten sich von hinten. Ein weiteres Kind kam hinzu, ebenfalls in weiß gekleidet und mit einer ähnlichen Kopfverletzung. Auch er betrachtete den verbeulten Haufen Blech und Kunststoff tief unter ihm. Dann blickten sie sich in die Augen und schüttelten sich die Hände.

ENDE