Ringe der Vereinigung
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)07.07.1994)
Das alte Haus im Wald nahe der Stadt hatte endlich wieder Leben in sich. Beinahe dreißig Jahre lang hatte es leer gestanden, doch nun wurde in ihm gehämmert, gewerkelt und renoviert. Marc und seine Frau Petra hatten es vor einem Monat günstig gekauft, und nun waren sie dabei, es mit Hilfe von ein paar Freunden wieder bewohnbar zu machen. Jetzt schließlich sah es so aus, als könnten sie in den nächsten Tagen einziehen. Zwar waren noch nicht alle Räume vollständig neu tapeziert, aber das war auch nicht notwendig. Für sich brauchten sie sowieso nur drei der sechs Zimmer, die anderen Räume konnten noch warten. Die Küche war bereits komplett eingerichtet, das Kanalsystem hatten sie auch neu machen lassen, und der Keller war endlich von der ewigen Überflutung befreit.
Die sommerliche Wärme des Abends lud Marc, Petra und ihre Freunde zu einer kleinen Grillparty im Garten ein. Noch bevor die Sonne untergegangen war, glühte die Holzkohle und briet mit ihrer Hitze das Fleisch, das auf dem Rost ausgebreitet lag. Klaus und Jörg hatten aus der Stadt noch zwei Kästen Bier geholt, die nun darauf warteten, geleert zu werden. Robert hatte in der Zeit zusammen mit Vera, seiner Frau, dafür gesorgt, daß sie alle draußen am Tisch sitzen und essen konnten. Im gemütlich schummrigen Licht der Haustürbeleuchtung feierten sie, denn in weniger als einer Woche würden Marc und Petra hier einziehen.
Die Stimmung hob sich immer mehr, je weiter der Abend voranschritt. Marc hatte seine alte Wandergitarre hervorgeholt und spielte jetzt die verschiedensten Volkslieder und Gassenhauer. Alle sangen begeistert mit, denn es gab im näheren Umkreis keine anderen Häuser, also auch niemanden, den sie durch ihre Ausgelassenheit stören konnten. Bis tief in die Nacht hinein saßen sie beieinander, die Stunden flogen unbemerkt an ihnen vorbei. Als Vera und Robert schließlich ankündigten, daß sie doch noch eine Mütze voll Schlaf gebrauchen könnten, war es bereits vier Uhr am nächsten Morgen. Die Verabschiedung fiel ihnen allen ziemlich leicht, denn nicht nur Vera und ihr Mann waren müde. Man einigte sich darauf, am Nachmittag noch etwas am Haus zu arbeiten, doch bis dahin wollten sie sich gut ausruhen. Bald schon fuhren die beiden Wagen, die seit dem Morgen vor dem Haus geparkt hatten, mit leuchtend roten Rücklichtern die schmale Teerstraße in Richtung Ortschaft davon. Marc und Petra verschwanden etwa zwanzig Minuten danach ebenfalls in ihrem Schlafzimmer und standen nicht vor zwei Uhr am nächsten Tag auf.
Seitdem war schon mehr als eine Woche verstrichen. Marc hatte sich mit seiner Frau nun seit drei Tagen komplett eingerichtet. Die urige Atmosphäre des alten Hauses war viel gemütlicher als ihre ursprüngliche Wohnung in der Stadt, die mit wesentlich mehr Luxus ausgestattet gewesen war. Marc liebte die rustikalen Deckenverzierungen hoch über ihren Köpfen. Zwar waren überall Löcher von Holzwürmern vorhanden, doch genau das machte irgendwie auch den Reiz aus. Es war eben nicht perfekt, sondern viel natürlicher. Petra war zunächst skeptisch gewesen, als Marc ihr seine Idee vorgetragen hatte, aber nachdem sie das Haus von innen gesehen hatte, wäre sie am liebsten sofort dortgeblieben. Es stand für sie beide selbstverständlich von vornherein fest, daß noch ein Haufen Arbeit vor ihnen lag, bis sie das Haus beziehen konnten, aber das war es ihnen wert gewesen. Jetzt hatten sie die Bestätigung, daß es kein Fehler gewesen war, der Stadt den Rücken zu kehren.
Zusammen fuhren Marc und Petra in ihrem Lancia von der Schule nach Hause. Es war für sie beide ein anstrengender Tag gewesen. Trotz ihrer heutigen Arbeit mit den Kindern gab es noch so vieles zu organisieren, damit der Ausflug reibungslos ablaufen konnte. Nebenbei mußten aber noch Arbeiten korrigiert und Tests nachgesehen werden. Petra hatte die 7c, ihre Hauptklasse, heute ein Diktat schreiben lassen, und sie wollte es noch morgen vor der Fahrt zurückgeben. Das bedeutete zwar für sie noch mehr Arbeit, aber dafür brauchte sie sich dann nach dem Ausflug nicht mehr damit zu belasten. Sie wollte sich lieber von dem zu erwartenden Streß erholen. Marc hatte dagegen zwar keine Diktate, dafür aber einen Haufen Mathematiktests durchzusehen. Wahrscheinlich lief das wieder auf einen gemeinsamen Abend am Schreibtisch hinaus, wie schon so oft.
Dabei waren sie beide eigentlich selber schuld gewesen. Als eine Lehrerversammlung einberufen worden war um zu entscheiden, welches Personal den Ausflug der 7c begleiten sollte, hatte Marc sich sofort freiwillig bereit erklärt. Und Petra hatte die Idee zu dieser Fahrt gehabt.
Natürlich war ein solcher Tag nicht nur mit nervlicher Anspannung verbunden. Sicher, sie mußten auf die Kinder Acht geben, aber diese Arbeit konnten sie leicht untereinander aufteilen. Schließlich würden die kleinen Racker mehr von den vielen Tieren im Zoo, als von großartigen Ideen zum Unfug begeistert sein. Die zwei oder drei, bei denen das nicht zutraf, ließen sich leicht unter Kontrolle halten.
Marc brachte den Wagen vor ihrer Haustür zum Stehen. Gemeinsam stiegen sie aus, gingen hinein und ruhten sich noch ein paar Minuten vor der Arbeit aus. Petra streckte sich lang auf der Couch aus und ließ sich von Marc die langen dunkelbraunen Haare kraulen. Während sie sich entspannten, lauschten sie der leisen Musik von Bee Gee's Massachusetts, die der Lokalsender gerade spielte. Leider konnten sie sich diesen Luxus der Muße nur eine halbe Stunde lang leisten, denn schließlich gab es noch eine Menge zu tun.
Später saßen sie im Arbeitszimmer an ihren Schreibtischen. Petra korrigierte gerade die Arbeit eines ihrer Schüler. Wie sie erwartet hatte, fand sie nur einen Zeichenfehler, alles andere stimmte. Gerd war sozusagen ihr kleines Sorgenkind. Zwar brachte er in Deutsch immer gute bis sehr gute Leistungen, und auch in mehreren anderen Fächern bewies er ordentliches Können, aber genau deswegen hatte er recht große Probleme, von seinen Mitschülern akzeptiert zu werden. Die Tatsache, daß er ein Jahr jünger und viel kleiner war als die anderen, verschlimmerte die Sache nur. Petra bemühte sich nach Kräften, ihn zu fördern, wo es ging, aber gegen die Natur kam sie einfach nicht an. Udo war dagegen weniger begabt. Schon in den ersten zwei Sätzen des eigentlich recht einfachen Diktates fand sie schon sieben Fehler. Auch das hatte sie erwartet. Trotz aller Bemühungen ihrerseits war da einfach nichts zu machen.
Marc hatte die Tests über das Bruchrechnen fertig korrigiert und stand nun auf, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Petra brütete noch immer über den Heften ihrer Schützlinge, und nach dem Stapel links von ihr zu urteilen, würde sie noch mindestens anderthalb Stunden beschäftigt sein. Also wanderte er ein wenig durch die Räume, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser und fand sich schließlich im Flur wieder, wo eine schmale Treppe ins obere Stockwerk führte. Die Zimmer dort oben waren zwar schon fertig renoviert und tapeziert, doch sie standen größtenteils, das Schlafzimmer ausgenommen, noch leer. Es gab dort sogar eine Tür, die sie bisher noch nicht geöffnet hatten, da das Schloß vollkommen verrostet und eingeklemmt war. Der Mann vom Schlüsseldienst hatte ihnen erklärt, daß er den Eingang zwar öffnen konnte, aber dabei auch das Holz der Einfassung und der Tür selbst beschädigen müßte. Marc war zu dem Entschluß gekommen, die Sache noch zu verschieben, da sich im Laufe der Zeit vielleicht noch eine andere Lösung finden ließ. Da dieser Raum auch scheinbar kein Fenster nach draußen besaß, wußten die beiden bis heute nicht, was sich darin verbarg.
Wie er es nun schon gewöhnt war, schlenderte er an dieser Tür vorbei und rüttelte beiläufig an der Klinke. Er war sehr überrascht, als sich plötzlich ein schmaler Spalt bildete und die Tür sich mit einem leisen Quietschen ein wenig in den Flur hinein öffnete. »Oha«, murmelte er. »Ist ja verrückt.« Dann ging er zur Treppe zurück. »Petra!« rief er.
»Was gibt's?« kam die gedämpfte Reaktion von unten.
»Ich muß dir was zeigen!« erklärte er. »Ich habe unsere Geheimtür endlich aufgekriegt!«
Sich schnell nähernde Schritte spiegelten seine eigene Aufregung wider. Wenig später erschien Petra unten an der Treppe. »Ist das wahr? Was ist drin?«
»Keine Ahnung«, erwiderte er, als sie zu ihm heraufkam. »Ich dachte, wir sollten zusammen das Geheimnis lüften.« Grinsend ging er zu dem mysteriösen Eingang und wartete dort auf sie. »Wenn du möchtest, darfst du zuerst reinsehen.«
»Und ob ich das möchte.« Petra zog vorsichtig an der Klinke und lächelte erfreut, als sich die alten Scharniere knarrend bewegten. Die Tür öffnete sich zwar nur schwerfällig und langsam, aber bald schon konnten sie in den dahinterliegenden Raum sehen. Das wenige Licht, das vom Flur dort hineinfiel reichte gerade aus, um das Innenleben des Zimmers erhellen zu können. Hier herrschte ein heilloses Durcheinander von unterschiedlichsten Gegenständen.
Mit Marcs Hilfe öffnete sie den Zugang komplett, damit sie beide etwas sehen konnten. Die Mitte des Raumes wurde von einem schweren Holztisch beherrscht, auf dem eine uralte Stoffdecke lag. Darauf waren eine Menge Sachen wahllos verstreut. Nachdem Petra eine Taschenlampe geholt hatte und sie in den Raum gegangen waren, konnten sie sich diese Dinge genauer ansehen.
Das Interessanteste, das sie fanden, bildete ein vergilbtes Foto, auf dem anscheinend die Mitglieder einer siebenköpfigen Familie abgebildet waren. Mutter und Vater zusammen mit ihren beiden Töchtern und drei Söhnen.
»Was meinst du, ob das wohl die vorigen Besitzer des Hauses sind?« überlegte Marc.
»Klingt einleuchtend«, sagte Petra, die sich in der Zwischenzeit ein paar handbeschriebene Zettel durchlas. »Vielleicht ist es aber auch ein Erinnerungsfoto von Verwandten.« Sie vertiefte sich für einige Augenblicke in die Notizen. »He, das scheint eine Art Tagebuch zu sein«, rief sie kurz darauf erstaunt aus. »Total altertümlicher Stil, aber klar verständlich.«
Plötzlich hatte das Foto seine Attraktivität zugunsten der Blätter verloren. Eine zittrige Hand hatte hier ihre Aufzeichnungen in altdeutscher Schrift gemacht. Viele der Wörter waren nur schwer zu entziffern, das hohe Alter des Papiers und der Tinte erschwerte das Lesen. Hier und da waren sogar einige Risse in den Zetteln, durch die ein oder zwei Wörter eines Satzes fehlten. Aber im Großen und Ganzen konnten sie den Inhalt des Textes rekonstruieren. Mit Begeisterung lasen die beiden die ersten niedergeschriebenen Sätze, die scheinbar die Aufzeichnungen einer Familientragödie einleiteten.
24. Oktober 1928: Thomas ist mit Viktor unterwegs zum Arzt, Sarah geht es immer noch nicht besser. Das Fieber will nicht sinken. Langsam verlieren wir alle unsere Hoffnung. Aber wir dürfen sie nicht alleine lassen. Sie braucht unseren Trost, um sich von ihren Leiden abzulenken. Gerda ist jetzt bei ihr, nachdem ich selbst acht Stunden ununterbrochen an ihrem Bett gesessen habe. Ich versuche, hier in meinem Schreibzimmer etwas Ruhe zu finden. Veronika und Johann sind bereits im Bett. Sie haben keine Ahnung, wie es um ihre Mutter steht. Hoffentlich kommt es nicht zu dem, was wir alle so sehr befürchten.
26. Oktober 1928: Heute ist Sarah um vier Uhr in der Nacht gestorben. Viktor hat noch eine Stunde zuvor den Arzt hergerufen, aber auch er war machtlos. Zusammen beteten wir um Barmherzigkeit für Sarah und für uns um Kraft, diesen schweren Verlust zu verwinden. Gerda hat bei der Nachricht von dieser Tragödie das Bewußtsein verloren und liegt jetzt in ihrem Schlafzimmer, der Arzt ist bei ihr. In drei Tagen werden wir meine liebe Frau auf dem Kirchenfriedhof in der Stadt beisetzen. Es ist ein trauriger Tag für uns alle, doch wir sollten in die Zukunft blicken, denn der Herr wird uns unseren Weg weisen. Wir alle werden sie sehr vermissen.
27. Oktober 1928: Ich habe unsere Ringe wieder in die Schatulle gelegt, ohne Sarah ist es nicht richtig, einen von ihnen weiter zu tragen. Wie oft haben wir gesagt: »Nie werden wir uns trennen, im Tod wie im Leben.« Doch das klingt heute nur noch wie eine leere Metapher in meinen Ohren. Ich vermisse sie so sehr.
»Eine sehr traurige Geschichte«, meinte Petra und sah von den vergilbten Seiten auf. »Ob diese Sarah wohl die Frau auf dem Foto da ist?«
Marc zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber es ist immerhin gut möglich. Es sind ja auch sieben Personen abgebildet. Das stimmt mit der Anzahl der Leute im Text überein.«
Petra nickte und legte die Blätter wieder an ihren Platz. »Wer weiß, was wir hier noch alles finden. Aber für mich ist jetzt erst einmal die Schatzsuche beendet. Unten warten noch acht Hefte auf mich, die wollen auch noch alle gelesen werden.«
»Dann sehe ich mich noch etwas um«, meinte Marc und gab ihr einen Kuß. »Bis gleich.« Petra verließ den dunklen Raum, während Marc sich mit der Lampe die restlichen Gegenstände des neuentdeckten Raumes vornahm.
Marc lag schon seit einer Stunde im Bett und wartete ungeduldig auf seine Gefährtin. Als sie dann endlich zu ihm unter die Decke kroch, war es bereits halb eins. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war sie mit dem Ergebnis der Klassenarbeit nicht so ganz zufrieden. Dann werd' ich sie mal ein wenig aufheitern, dachte er und schlang einen Arm um sie. »Nicht besonders gut gelaufen, was?«
»Na ja, du kennst das ja. Immer wieder kaut man denselben Stoff durch, und am Ende bleibt doch nichts hängen. Kannst du dir das vorstellen, da hat einer doch wirklich das Wort meistens mit scharfem S geschrieben, obwohl wir dieses Gebiet erst vor ein paar Tagen besprochen hatten.«
»Udo?«
Petra nickte. »Der einzige Lichtblick war mal wieder Gerd. Ein Komma falsch gesetzt, aber sonst... Tip top.«
»War klar. Da scheint wirklich ein kleiner Schlaumeier heranzuwachsen.«
»Ich hoffe, da kommt es auch zu, bevor die anderen ihn noch ganz niedermachen.«
»Er ist stärker als er aussieht«, versuchte Marc ihr die Sorgen zu nehmen. Er selbst kannte den Jungen nur flüchtig vom Sehen, aber in den Lehrerkonferenzen war schon das eine oder andere Wort über ihn gefallen. »Wer soviel Grips hat, der beißt sich schon durch.«
»Hoffentlich.«
Marc beschloß, sie etwas abzulenken. »Ich hab vorhin noch etwas in unserer Schatzkammer gefunden, das wollte ich dir noch zeigen.«
»Kann das nicht bis morgen warten? Ich bin wirklich mittlerweile sehr müde.«
»Keine Angst, es dauert nicht lange.« Marc drehte sich zu seinem Nachtschränkchen herum und griff nach einem kleinen Kästchen, das bisher unbeachtet dort neben dem Radiowecker gestanden hatte. Dann kehrte er in seine vorige Position zurück und reichte Petra sein Fundstück. »Lies die Inschrift auf dem Deckel.«
Verwundert nahm sie den Gegenstand an sich und betrachtete ihn von allen Seiten, bevor sie sich daran machte, die feinen, golden bemalten Lettern zu entziffern. »Da steht: Die Unzertrennlichen. Was bedeutet das?«
»Mach es auf«, schlug Marc vor.
Behutsam entriegelte sie den fein gearbeiteten Verschluß des Kästchens und öffnete es. Im Innern fand sie zwei silberne Ringe, die in einem Stoffpolster steckten. Jeder von ihnen hatte ein feines Linienmuster eingraviert, das sich über die gesamte Oberfläche zog. »Wo hast du die denn her? Sag bloß, die haben zwischen all dem Gerümpel gelegen?«
Er nickte. »So ist es. Unter einem Haufen uralter Bücher, wenn du's genau wissen willst. Ich habe mir gedacht, die würden gut zu uns passen, vor allem, weil sie Die Unzertrennlichen heißen. Das ist doch ein wunderbares Omen, oder?«
»Ja, wirklich toll. Meinst du, das sind die Ringe, von denen in dem Tagebuch die Rede ist?«
»Ich denke schon. Zumindest wäre es nicht ungewöhnlich. Warum fragst du?«
»Ach, nur so.« Sie zog die beiden Ringe vorsichtig aus ihrer Einfassung und sah sie sich genauer an. »Da ist noch was in der Innenseite eingeprägt«, meinte sie einen Moment später.
»Was denn?« fragte Marc, dem dieses Detail offenbar entgangen war.
»928 Silber«, gab Petra lachend zurück, woraufhin Marc sich mit lautem Gebrüll auf sie stürzte. »Vorsicht!«, rief sie. »Ich will es nicht kaputtmachen.« Sie stellte das Kästchen auf ihren Nachttisch und hielt die Ringe auf ihrer Handfläche. »Welchen möchtest du tragen?«
Marc wählte eines der beiden ohnehin identischen Schmuckstücke aus und steckte es ihr an den Ringfinger. Sie nahm den zweiten Ring und schmückte ihn damit. Marc fühlte sich in die Zeit vor zwei Jahren zurückversetzt, als sie in der Kirche den Bund fürs Leben geschlossen hatten. Er würde niemals den Blick ihrer liebenden grauen Augen vergessen, den sie ihm damals geschenkt hatte. Vor Glück hatte sie sogar geweint, und er hatte ihr die Tränen von den Wangen gewischt. Jetzt war die Situation anders, aber nicht weniger aufregend. Sie bewunderten eine Zeitlang ihren neuen Schmuck, schliefen dann aber doch noch ein. Der nächste Tag würde schließlich recht beschwerlich werden.
*
»Also, Kinder. Steigt ein, aber nicht großartig drängeln!« Petra versuchte, den Lärm der Siebtkläßler zu übertönen, während sie in den Reisebus einstiegen. Marc stand vorne am Eingang und achtete darauf, daß das Geschubse keine allzugroßen Ausmaße annahm. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Bushaltestelle leer war und sich alle Ausflugsteilnehmer im Bus befanden. Petra zählte noch einmal durch, stellte fest, daß sie vollständig waren und sagte dann dem Fahrer, daß es losgehen konnte. Aus vierundzwanzig jungen Kinderhälsen kam ein Freudengeschrei, als sie die Schule hinter sich ließen.
Dabei war die Stimmung vor einer Stunde noch ziemlich gedrückt gewesen, als Petra ihnen die Diktate zurückgegeben hatte. Wie immer hatte sie einen nach dem anderen aufgerufen und zu sich an das Pult geholt, um ein paar Einzelheiten durchzugehen. Am Schluß lasen sie noch einmal alle zusammen den kompletten Text durch, damit jeder von ihnen erkennen konnte - vorausgesetzt er wollte - wo seine Fehler lagen.
Jetzt war von dieser Anspannung nichts mehr geblieben. Ausgelassen krakeelten die Kinder im Bus herum, quatschten durcheinander und beobachteten mit neugierigen Blicken die Landschaft, die an den Fenstern vorbeizog. Bis zu ihrem Ziel würde es noch eine Stunde dauern, und Petra richtete sich schon einmal darauf ein, zwischendurch jede Menge zu tun zu bekommen.
Es dauerte ziemlich genau zwanzig Minuten, bis es die ersten Probleme gab. Anja und Michaela hatten sich in die Haare gekriegt, weil Anja angeblich gesagt hatte, daß Michaela in Christian verliebt war. Michaela hatte dies natürlich heftig bestritten, und nun waren sie kurz davor, sich von ihren Sitzen zu schubsen. Petra sah eine Zeitlang zu und löste die Situation anschließend, indem sie Anja kurzerhand drei Reihen weiter nach vorne setzte. Abgesehen von ein paar Grimassen, die über die erhöhte Distanz geschnitten wurden, hatte sich dann der Streit gelegt.
Nach einer halben Stunde und gelegentlichen Eingriffen seitens der Lehrer machten sie auf einem Autobahnrasthof Halt, damit sie sich alle ein wenig die Beine vertreten konnten. Wie immer bildeten sich schon nach wenigen Minuten kleinere Grüppchen, die zusammenstanden und untereinander plapperten. Etwas wehmütig betrachtete Petra zwei Jungen, die etwas abseits von den restlichen Schülern standen. Einer von ihnen war auffällig klein, während der andere etwas fülliger war, rote Haare hatte und ein Hörgerät trug. Wenigstens hat er einen Freund, dachte sie. Dann ist er zumindest nicht ganz alleine.
Eine Viertelstunde nachdem sie den Rastplatz verlassen hatten, kamen die ersten, bereits erwarteten Rufe wie: »Ich muß mal raus« oder: »Mir ist übel«. Aber auch das legte sich, wie immer, von selbst. Lange würde es ohnehin nicht mehr dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Bus verließ nun die Autobahn und durchquerte eine kleine Stadt, die beinahe nur aus Fachwerkhäusern bestand. Hier war das Land im Gegensatz zu ihrem Heimatort ziemlich bergig, die Straße schlängelte sich auf und ab, während überall zwischen den Gebäuden kleine Gassen sichtbar wurden. Jetzt konnte es sich nur noch um Minuten handeln, bis sie am Zoo ankommen würden.
Der Bus hielt mit zischenden Bremsen vor dem breiten Eingangstor. »Langsam!« rief Marc, als die Rasselbande die eben geöffneten Türen hinausströmte. »Wir sammeln uns erst einmal vor dem Bus!« Nachdem alle ausgestiegen waren, wurde wieder einmal durchgezählt, wieder einmal die Vollzähligkeit festgestellt. »Ihr geht jetzt mit Frau Schulz rein, und ich hole die Karten.« Petra führte die Kinder durch das Tor hinein, während Marc am Schalter den Eintritt bezahlte.
Wie erwartet gab es hier eine Menge zu sehen, praktisch jede Tierart war vertreten. Am längsten hielten sie sich an den Affengehegen auf, dort gab es immer wieder etwas Neues zu beobachten, denn die Tiere hinter den Stäben warteten mit einer riesigen Anzahl an Kunststückchen auf, die kein Ende nehmen wollte.
Sie verbrachten etwa zwei Stunden im Zoo, um sich alles anzusehen. Das Gelände war ziemlich groß, die einzelnen Gehege hatte man weit voneinander getrennt plaziert, und dabei waren die verschiedenen Aufbauten nicht gerade klein. Alles in allem gab es weit mehr Grünflächen, als der gesamte Tierpark in ihrer Heimatstadt groß war. Die Kinder waren von den Ausmaßen begeistert und wurden nicht müde, ein weiteres Mal um das Affengehege zu laufen.
Schließlich verließen sie das Gelände, um die anschließend geplante Wanderung einzuleiten. Marc führte die Gruppe mit der Wegekarte in der Hand an, während Petra hinter ihm für Ruhe und Ordnung sorgte. Sie folgten dem ausgetretenen Sandweg bergauf, zwischen Wiesen und Feldern hindurch. Der Nachmittag war sonnig warm aber nicht heiß, was das Wandern angenehm machte. Unterwegs sangen sie altbekannte Kinderlieder und stiegen so immer weiter den Hang hinauf.
Ausgelassen tobten die Schüler der 7c um ihre beiden Betreuer herum. Je höher sie kamen, desto besser wurde die Aussicht. Wandte man den Blick von hier aus nach hinten, breitete sich ein weites Panorama kleinerer und größerer Hügel aus, überall waren Ansiedlungen und auch Städte zu sehen, die sich vom Grün der Wälder und Wiesen abhoben. In der anderen Richtung, in die sie im Augenblick gingen, erhob sich vor ihnen ein höherer Berg, dessen nackte Felswände laut der Beschreibung auf Marcs Landkarte bis zu achthundert Meter aufragten. Der Feldweg führte sie bis an die Wurzeln dieses Massivs heran, wo das kahle Gestein von Gras und Büschen abgelöst wurde. Sie wanderten noch ein paar hundert Meter weiter, wo sie einen Platz für das Picknick fanden. Petra sammelte ihre Schützlinge um sich, und alle halfen mit, die ausgebreitete Decke mit den Vorräten aus ihren Rucksäcken zu füllen. Marc und seine Frau waren damit so beschäftigt, daß sie nicht mitbekamen, wie sich der Himmel über ihnen langsam verdunkelte. Erst als das Picknick in vollem Gange war, bemerkte Marc die Regentropfen, wie sie auf seine nackten Oberarme fielen. »So was aber auch! Der Wetterbericht ist auch nicht mehr das Wahre. Kinder, schnell! Packt die Klamotten zusammen, es wird gleich regnen!«
Es begann ein heilloses Durcheinander, in dem Petra und Marc versuchten, den Überblick zu behalten. Aus dem schnellen Rückzug wurde allerdings nichts, denn wenige Sekunden später fiel der Regen schon in dichteren Schleiern. Endlich war alles verstaut, und alle liefen schnellstmöglich den Weg zurück, auf dem sie hergekommen waren. Während sie lief spürte Petra, wie etwas von hinten an ihrem T-Shirt zog. Es war Gerd, der mühsam mit ihr Schritt hielt.
»Frau Schulz! Ich habe eine Idee!«
»Was für eine Idee?« fragte sie. Insgeheim hoffte sie, daß er nicht wieder einen seiner naiven Phantasieeinfälle hatte, die sich nicht verwirklichen ließen, so wie damals, als er vorgeschlagen hatte, die Schmierfinken, die die Sprüche an das Lehrerzimmer gesprüht hatten, mit Hilfe von Fingerabdrücken zu entlarven.
»Da drüben hab ich vorhin eine Höhle gesehen, da könnten wir uns doch unterstellen, bis der Regen aufhört.« Er zeigte an eine Stelle, die etwas weiter voraus lag.
»Wie weit ist es bis dahin?« fragte sie erleichtert.
»Nur ein Katzensprung. Gleich da bei den drei Bäumen.«
Petra spähte voraus und konnte erkennen was er meinte. Etwa fünfzig Meter, nachdem sich der Pfad bergab wandte, war in der Felswand ein dunkler Schatten zu sehen. Es führte kein Weg dorthin, aber die Höhle versprach Trockenheit. »Sehr gut! Da gehen wir hin. Danke, Gerd.« Sie eilte voraus zu Marc, um ihn auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen.
»So, jeder sucht sich jetzt einen Platz auf der Decke und setzt sich hin«, sagte Marc, nachdem sie alle sicher in der trockenen Höhle angekommen waren. »Daß mir niemand weiter in den Tunnel reingeht, klar?« Die kleine Gruppe versammelte sich auf der Decke, die ein wenig Schutz gegen den kühlen Steinboden der Höhle bot. »Wenn der Regen aufhört, werden wir zum Bus gehen und abfahren. Inzwischen können wir ja da weitermachen, wo wir gerade unterbrochen worden sind. Wer hat noch Hunger?« Natürlich waren schon bald alle wieder mit ihrem Picknick beschäftigt.
Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis es draußen langsam wieder hell wurde. Die Regentropfen verebbten stetig, bald schon schien die Sonne wieder klar und warm auf die Landschaft außerhalb der Höhle. Lange dauerte es nicht mehr, bis sie sich zum Aufbruch fertig machten. Allerdings hinderte sie etwas daran, sofort loszugehen. »Wir sind nicht vollständig«, berichtete Petra, nachdem sie durchgezählt hatte.
»Wieviele?«
»Ich habe einundzwanzig gezählt. Udo, Alexander und Gerd fehlen. Ich kann mir schon denken, wo sie abgeblieben sind.«
»Nichts als Probleme mit den beiden, was?« sagte Marc und dachte an die Diktate, die seine Frau gestern abend korrigiert hatte. »Aber Gerd? Was macht der denn bei ihnen?«
»Keine Ahnung, vielleicht wollte er ja gar nicht mitgehen. Also gut, ich sammle die anderen, du gehst Udo, seinen Kumpel und Gerd suchen. Wir treffen uns dann draußen vor der Höhle, okay?«
Marc nickte und wartete, bis Petra den Rest der Gruppe nach draußen ins Sonnenlicht geführt hatte. Dann wandte er sich um und ging tiefer in die Höhle hinein. Mit jedem Schritt wurde es dunkler und kühler, die Wärme der Sonnenstrahlen war hier nicht zu spüren. Hier und da fielen kleine Wassertropfen von der Decke zu Boden. Das Licht schwand immer mehr, denn der Gang wand sich in einem leichten Linksbogen. Schon bald war es tiefschwarz um ihn. »Udo! Alexander!« rief er. »Los, die anderen warten. Rauskommen! Wir wollen abfahren.« Irgendwie war es ihm klar gewesen, daß er keine Antwort bekam. Udo war bei allen Lehrern der Hauptschule als aufsässig bekannt, und Alex zog immer mit. Wenn Gerd versucht hatte, ihm etwas zuzurufen, hatten die beiden anderen wohl etwas dagegen unternommen. »Ich weiß nicht, was ihr damit erreichen wollt. Ihr handelt euch bloß eine Eintragung ins Klassenbuch ein. Vielleicht sogar einen Besuch beim Rektor.«
Vor sich hörte er ein leises Schlurfen. Er tat, als hätte er nichts gehört und ging vorsichtig weiter. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und so konnte er ein leichtes Glitzern vor sich erkennen. Der Gang endete ein paar Meter von hier. Angestrengt sah er sich um und konnte einen dunklen Schatten ausmachen, nahe an der Wand in eine Ecke gequetscht. »So, das Spielchen ist vorbei. Ihr könnt euch jetzt bequemen, mit rauszukommen, damit wir endlich fahren können.«
Ein Murren kam von dem Schatten, und dann löste er sich in drei einzelne Umrisse auf. »Ja, schon gut, wir kommen ja.« Udos Stimme verriet Trotz.
»Ich wollte gar nicht mitgehen«, beschwerte sich Gerd, der prompt von Alex einen Schlag auf den Hinterkopf bekam.
»Das reicht jetzt, Alex!« Marc zog ihn von seinem kleineren Mitschüler weg. »Kommt jetzt mit raus.« Er packte sich Udo rechts, Alex links und machte sich auf den Weg zurück. »Gerd?«
»Ich komme.«
Draußen war Petra gerade dabei, den Rest ihrer Gruppe abmarschbereit zu machen, als sie aus dem Innern der Höhle ein Rumpeln und dann ein lautes Getöse hörte. Wenige Sekunden später schwappte ein kleines Rinnsal aus dem Tunnel heraus. »Ihr bleibt hier«, wies sie die Kinder an. »Ich komme gleich wieder.« Sie eilte zurück und stellte fest, daß der Platz, an dem sie gerade noch gesessen hatten, nun von einer dünnen Wasserschicht bedeckt war. Das Wasser selbst kam aus dem weiterführenden Teil des Ganges. Schnell eilte sie hinein. Hoffentlich war Marc und den Kindern nichts passiert.
Marc hatte rechtzeitig das Bröckeln der Steine bemerkt, als er mit den drei Kindern im Schlepptau auf den Ausgang der Höhle zuging. »Vorsicht!« rief er, machte einen Schritt zurück und stieß dabei Gerd zu Boden. Nur einen kurzen Moment später krachte es fürchterlich, und die Decke des Ganges stürzte ein. Marc rappelte sich auf und beeilte sich, mit den Kindern in den hinteren Teil des Tunnels zu kommen, doch das war gar nicht nötig. Der Rest des Ganges blieb wie er war, doch der Rückweg nach draußen war versperrt. Vorsichtig wagte er sich an die Mauer aus aufgetürmtem Schutt heran. Wasser floß hörbar von oben herab und sammelte sich recht schnell vor der neu entstandenen Wand.
»Was ist passiert?« fragte eine ängstliche Stimme, die eindeutig von Alex stammte.
»Der Gang ist eingestürzt«, gab Gerd zurück. Überraschenderweise hörte sich seine Stimme ruhig und sachlich an, ganz im Gegensatz zu der von Alex.
»Aber wie kommen wir denn jetzt hier raus?«
»Wir können vielleicht die Steine beiseiteräumen«, schlug Udo vor.
»Leider nicht«, sagte Marc. »Die Brocken sind zu groß. Da sitzt alles fest. Aber wir können um Hilfe rufen, damit die anderen merken, was los ist.« Mittlerweile hatte sich das Wasser schon bis zum Tunnelende gesammelt. Er hoffte, daß Petra schnell etwas unternehmen konnte. Sie stellten sich gemeinsam an die Steine heran und fingen an, sich laut bemerkbar zu machen.
Petra erreichte die Einsturzstelle in dem Augenblick, in dem die Eingeschlossenen zu rufen begannen. Ihre gedämpften Stimmen drangen zu ihr nach außen. Soweit sie hören konnte, waren alle vier unversehrt. »Marc! Ich höre euch! Marc?«
»Ja! Ich höre dich auch!« kam die leise Antwort. »Uns ist nichts passiert. Ihr müßt Hilfe holen, wir kommen hier alleine nicht raus. Hier sammelt sich Wasser drin, und das ziemlich schnell!«
»Ich werde tun, was ich kann! Haltet durch!« Angestrengt zwang sie sich, ruhig über die Situation nachzudenken. Sie mußten rasch handeln, das war klar, aber was konnten sie tun? Sie rüttelte an den Steinen, aber die ließen sich nicht verrücken. Nur die kleineren Schutteilchen konnte sie wegräumen. Inzwischen hatte auch ihre Gruppe mitbekommen, was geschehen war. Neugierig drängten sie sich vor dem Höhleneingang und betrachteten den Schuttberg.
»Wir müssen jemanden holen«, sagte Georg, der sich ganz nach vorne geschoben hatte.
Petra überlegte. »Eine gute Idee«, sagte sie dann. »Lauf runter zum Zoo, und sage dem Wärter Bescheid, was passiert ist. Beeil dich!« Georg machte kehrt und drängelte sich so schnell er konnte durch seine Klassenkameraden hindurch. Petra war überzeugt, daß er den Auftrag korrekt erledigen würde, er war bisher bei allem sehr zuverlässig gewesen. Aber würde die nötige Rettung auch schnell genug hier eintreffen?
Inzwischen machte sie sich mit Hilfe der Kinder auf die Suche nach stabilen Ästen, mit denen sie die Schuttbrocken weghebeln konnten. Aber trotz der paar festen Holzstücke, die sie zusammentrugen, war nichts zu machen, die Blöcke hatten sich zu sehr verkantet und bewegten sich keinen Millimeter von der Stelle. Schließlich mußten sie den Versuch aufgeben, auch wenn es Petra weh tat, untätig herumsitzen zu müssen und zu warten.
Auf der anderen Seite stand Marc mittlerweile bis zu den Knien im kalten Wasser, das immer noch unablässig von oben herunterrann. Die drei Kinder hatten sich auf ein paar der größeren Felsbrocken geflüchtet, damit sie nicht bald ganz untergetaucht waren. Um sich von seinen eigenen unerfreulichen Gedanken abzulenken, beschäftigte er sich damit, kleinere Steine aus der Wand zu lösen. Seine Finger waren schon beinahe steif vor Kälte, immer wieder rieb er die Hände aneinander, um den Kreislauf in Schwung zu halten.
»Mir ist kalt«, brummelte Udo. »Und außerdem bin ich naß bis auf die Knochen. Ich hol mir bestimmt noch 'nen Schnupfen.«
»Denkst du, mir geht es anders?«, maulte Alex mit klappernden Zähnen zurück. »Du hattest doch die dämliche Idee, hier reinzugehen. Ich hab gleich gesagt, das geht in die Hose.«
»Davon, daß ihr hier rummeckert kommen wir auch nicht raus«, sagte Gerd. »Wir sollten lieber was tun, statt blöde zu quatschen.«
Alex murmelte etwas Unverständliches, und Udo sagte gar nichts. Einen Augenblick später hörte Marc hinter sich ein leises Plätschern, dann kletterte Gerd neben ihm auf den Schuttberg. »Vielleicht können wir uns ja doch durchgraben«, meinte er und begann, kleine Steine aus der Wand zu lösen. »Zu zweit wird das wohl gehen.«
Marc lächelte und grub mit, um sich abzulenken. Stück für Stück nahmen sie aus der Wand heraus, doch es bestand kaum Hoffnung, auf diese Weise freizukommen. Sie arbeiteten eine Zeitlang, bis Gerd sich beschwerte, daß einer der Steine zu fest saß und er ihn nicht herausholen konnte. Marc beugte sich hinunter und half ihm, doch der Brocken saß eingekeilt zwischen zwei größeren Steinen. Gerd und sein Betreuer zogen, drückten und schoben, bis endlich ein Stoß den Block ein Stück aus seiner Position brachte. Jetzt konnte Marc richtig zupacken und riß ihn mit einem kräftigen Ruck heraus. Dann krachte es, und ein paar der Felsstücke, die weiter oben gelegen hatten, fielen nun aus der Wand heraus und verfehlten die beiden nur knapp. Plötzlich ergoß sich ein kräftiger Wasserstrahl von oben über sie. Anscheinend hatten sie das Loch, aus dem das Wasser kam, vergrößert. Nun würde der Spiegel innerhalb der Höhle noch schneller steigen. Doch Marc bemerkte plötzlich das Licht, das durch denselben Spalt wie das Wasser eindrang. Schnell beeilte er sich, die eisige Flüssigkeit ignorierend, hinaufzukommen.
»Marc! Was ist los? Ist euch etwas passiert?« fragte Petras gedämpfte Stimme.
»Nein! Aber hier oben ist ein Spalt! Siehst du meine Hand?« Marc war oben angekommen und streckte seinen Arm durch den Riß, der sich zwischen der Höhlendecke und dem oberen Teil des Schuttberges gebildet hatte. Anscheinend hatte sich das Wasser in einer Aushöhlung des Berges gesammelt, deren Boden jetzt nachgegeben hatte.
»Wo denn? Wie soll ich... Ja. JA! Ich sehe sie! Mein Gott, ja!« Von draußen kamen Geräusche herunterklappernder Steine, dann umfaßte jemand seine Hand. »Wir haben Georg losgeschickt, damit er Hilfe holt! Es wird nicht mehr lange dauern.«
Während Petra seine Hand hielt, mußte sie an das Kästchen denken, in dem die beiden Ringe gelegen hatten, die sie jetzt trugen. »Die Unzertrennlichen«, murmelte sie. »Wir werden uns nie trennen, im Tod wie im Leben.« Plötzlich spürte sie, wie es warm an ihrer Hand wurde. Ihr Ring leuchtete mit einem schwach roten Licht. »Oh mein Gott! Marc! Die Ringe!«
»Was? Wovon redest du?«
»Die Ringe, Marc! Sie können uns helfen. Denk an das Tagebuch! Wir werden uns nie trennen, im Tod wie im Leben!« Das Leuchten wurde stärker. »Na los, Marc! Sag es, schnell!«
»Was soll ich sagen? Ich verstehe dich nicht.«
»Was im Tagebuch gestanden hat, über die Ringe, die Unzertrennlichen. Bitte Marc, sag es, es ist einen Versuch wert.«
Zuerst war es still, dann löste sich seine Hand von ihrer. Aber kurz darauf erschien seine andere Hand, an der er den silbernen Ring trug. Sie ergriff sie und hielt sie fest. Dann vernahm sie klar und deutlich die Worte, die Marc aussprach, und sie sprach sie zusammen mit ihm: »Wir werden uns nie trennen, im Tod wie im Leben.«
Ein Blitz schleuderte sie auseinander. Marc landete mit einem Platschen im Wasser, während Petra die Geröllawine hinunterfiel und mit der Schulter zuerst auf den Boden prallte. Der Ring an ihrer Hand strahlte jetzt in grellem Rot, die Wärme wich langsam einer starken Hitze, die sie aber nicht verbrannte. Ein Summen lag in der Luft, und nur wenige Augenblicke darauf schoß ein leuchtender Strahl in die Höhle hinein. Mit einem dumpfen Knall zerbarst die Steinwand, die die beiden Gruppen trennte, zu feinstem Staub. Dann schwappte das aufgestaute Wasser aus der Kammer ins Freie, und auch das Wasser von oben lief nun ungehindert heraus. Marc saß fassungslos auf dem Boden der Höhle, während die Kinder die Szene mit ungläubigen Blicken betrachteten.
»Keine Panik! In zehn Minuten ist die Feuerwehr da!« Georg kam atemlos um die Ecke geschossen und blieb wie angewurzelt stehen. »Aber...«
»Ich glaube, du bist umsonst gerannt«, meinte Gerd und ging zu seinem Freund. »Wir haben das Ganze schon durch Zauberei erledigt.«
»Äh, wie bitte?«
»Ach nichts, war nur ein Scherz.«
ENDE