Rendezvous
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)06.03.1994)
Ein blubberndes Geräusch aus der Küche teilte Volker mit, daß sein Kaffee gerade fertig geworden war. Seufzend schaltete er seinen Laptop ab, in den er gerade einen Bericht getippt hatte und stand auf, um sich eine Tasse des dampfenden Getränkes einzugießen. Jetzt, da die Maschine keine Geräusche mehr von sich gab, waren die dumpfen Klänge aus der Wohnung über seiner wieder deutlich zu vernehmen. Seit gestern morgen wurde dort geräumt, gehämmert und gewerkelt. Nach zwei Wochen, in denen die Wohnung leer gestanden hatte, zog wieder jemand dort ein. Volker hatte noch keinen Blick auf seine neuen Mitbewohner werfen können, aber das war bei dem Haufen Arbeit, den er im Augenblick hatte, auch kein Wunder. Zum Glück stand jetzt wieder ein Wochenende ins Haus, er hatte beschlossen, sich diesmal richtig auszuruhen. Dabei ergab sich bestimmt die Gelegenheit, eine neue Bekanntschaft zu schließen. Er mußte grinsen, da er noch nicht einmal wußte, wie viele Leute jetzt dort oben einziehen wollten. Krach machen sie jedenfalls für zehn, dachte er, während er sich wohlig auf der Couch ausstreckte und seine Kaffeetasse neben sich auf dem Tisch abstellte. Hoffentlich haben sie keine lärmenden Kinder.
Er wurde wach, als die Zeiger seiner Kuckucksuhr gerade auf halb sieben standen. Der Rest Kaffee, der noch in der Tasse war, hatte seine wohltuende Wärme verloren, und Volker verzog das Gesicht, als er ihn probierte. Mit bedauernder Miene goß er den Inhalt der Tasse ins Spülbecken aus. Dann fiel ihm auf, daß es völlig still geworden war. Anscheinend waren seine neuen Nachbarn fertig und ruhten sich jetzt von der Arbeit aus. Das konnte ihm ja nur recht sein, denn jetzt begann die Live-Übertragung einer Sportveranstaltung, und die wollte er ungestört genießen. Mit einer Flasche Mineralwasser und einigen kleinen Knabbereien ließ er sich in seinem Sessel nieder und schaltete den Fernseher ein. Eine freundlich lächelnde Dame informierte ihn darüber, daß auch in den nächsten Tagen weiterhin Schnee fallen würde, außerdem sollte man sich auf Temperaturen von bis zu minus zehn Grad einstellen. Wenige Minuten später tanzten dann die Buchstaben des Sportmagazins über die Mattscheibe. Gerade in diesem Augenblick läutete die Türglocke.
»Na toll«, murmelte er, stand auf und öffnete die Wohnungstür. Draußen stand eine junge Frau, die Volker nicht kannte. »Ja?« fragte er. Ihm fiel auf, daß sie eine kleine Dose bei sich hatte, die sie mit beiden Händen schüchtern festhielt.
»Guten Abend, Herr - Naus. Ich bin die neue Mieterin.« Sie löste eine Hand von der Dose, um ihn zu begrüßen. Anschließend hielt sie sich aber sofort wieder daran fest. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit zu meinem Einstandsfest kommen wollen. Die restlichen Nachbarn haben schon fast alle zugesagt.«
»Ja, gerne«, sagte Volker. »Wann soll's denn losgehen?«
»Eigentlich wollte ich möglichst bald anfangen, damit der Abend nicht so schnell vorbei ist.«
»Schön. Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit. Ich komme dann zu Ihnen rauf.« Sie verabschiedete sich von ihm, und er kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo gerade eine junge Sportlerin einen waghalsigen Abfahrtslauf hinlegte, bei dem sie mehr als einmal nur knapp einem Sturz entging. Nun würde er die Übertragung doch nicht live sehen können, aber wozu hatte er sich denn voriges Jahr einen Videorecorder gekauft? Er legte ein neues Band ein und ließ die Aufnahme laufen, während er sich umzog und frisch machte.
Eine Krawatte und ein Aftershave später stand er vor der Wohnungstür, deren Namensschild noch leer war. Musik drang aus der Wohnung auf den Flur hinaus, scheinbar waren schon ein paar der anderen Hausbewohner angekommen. Volker läutete und wartete ab. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich die Tür öffnete. »Oh, Herr Naus, guten Abend«, begrüßte ihn Helga Gehrmann, seine Nachbarin im Erdgeschoß. »Kommen Sie rein, Fräulein Maler ist gerade in der Küche.« Volker betrat den Wohnungsflur, und die ältere Frau schloß die Tür hinter ihm. »Jetzt sind fast alle da«, fügte sie hinzu, während sie ins Wohnzimmer gingen. »Es fehlt nur noch der Busch.«
»Sind Sie sicher, daß der überhaupt kommt?« Franz Busch war allgemein als Griesgram und Einzelgänger bekannt. Helga zuckte mit den Schultern und nippte an dem Getränk, das sie in der Hand hielt. Die Wohnung war tatsächlich noch nicht fertig. Überall klafften Löcher zwischen den Möbelstücken, wo wahrscheinlich noch etwas hingestellt werden sollte. Ein Tisch, mehrere Stühle und eine Kochstelle gab es allerdings schon. Im Laufe der Zeit würde der Rest wohl noch dazukommen. Aber bei der Menge an Personen, die momentan in dem kleinen Wohnzimmer anwesend war, fiel die eigentliche Leere gar nicht auf, im Gegenteil; wäre der Raum voller gewesen, hätten sie wohl zuwenig Platz gehabt.
Volker nahm sich ein Glas Bier und trank gemütlich in kleinen Schlucken. Die Musik gefiel ihm, sanfter UB40-Reggae lief auch bei ihm regelmäßig, während der Arbeit und meist auch dann, wenn er sich im Wohnzimmer entspannte. »Dafür, daß sie erst zwei Tage hier wohnt, hat sie die Wohnung aber wirklich schon toll eingerichtet«, sagte seine Nachbarin gerade. »Und den Sinn für die richtige Musik hat sie auch.« Volker konnte sich kaum vorstellen, daß Helga, die sonst doch so sehr auf Volksmusik stand, diese Musik wirklich mochte und auch die Wohnungseinrichtung war noch sehr spärlich. Trotzdem nickte er, weil er von Natur aus sehr höflich war. Einen Augenblick später kam die junge Frau zu ihnen, die ihn vorhin eingeladen hatte.
»Oh, Fräulein Maler«, setzte Helga an. »Das ist Herr Naus, er wohnt unter Ihnen.«
»Ich weiß«, sagte die junge Frau kühl. »Wir kennen uns bereits.« Volker war überrascht und erwartete, daß Frau Gehrmann jetzt beleidigt abrauschen würde. Aber sie lächelte immer noch und ging davon, um sich noch etwas zu trinken zu holen. »Schön, daß Sie auch gekommen sind.«
»Das war doch selbstverständlich. Ich hoffe, Ihnen gefällt das Haus und auch seine Bewohner.«
»Ja, es gefällt mir wirklich gut hier. Sie sind alle sehr nett zu mir.«
Volker ließ seinen Blick durch den Raum wandern. »Wie lange glauben Sie werden Sie brauchen, bis Sie sich richtig eingerichtet haben?« Er sah seine Gesprächspartnerin gerade rechtzeitig wieder an, um ihren überraschten Gesichtsausdruck zu bemerken.
»Wieso fragen Sie das?«
»Ich glaube doch nicht, daß Sie die Wohnung so lassen wollen«, erklärte Volker. »Dort drüben zum Beispiel«, er deutete auf eine Ecke des Raumes, in der die Hälfte der Tapete fehlte. »Da ist doch wohl noch eine Renovierung fällig. Außerdem haben Sie ja bis jetzt recht wenige Möbel.«
Der Blick der jungen Frau wanderte im Raum herum und blieb an dem kleinen Döschen hängen, das auf dem Tisch stand. Volker hatte den Eindruck, daß sie irgend etwas nicht verstand. »Ja, Sie haben natürlich recht«, sagte sie dann. »Aber meine Freunde werden mir morgen wohl die restlichen Möbel und Tapeten bringen. Nur, ich wollte nicht länger mit dem Einstand warten. Ich hoffe doch, daß Sie das nicht stört.«
»Oh nein«, erwiderte Volker. »Die Musik und die gute Stimmung sind mir wichtiger.«
»Ich bin froh, daß ich die richtige Auswahl getroffen habe.«
»Ja, das haben Sie mit Sicherheit. Stellen Sie sich vor, sogar meine Nachbarin unten findet die Musik toll, obwohl ich bisher nicht gewußt habe, daß sie UB40 überhaupt kennt.« Wieder trat der überraschte Ausdruck in ihr Gesicht. Volker fragte sich ernsthaft, was mit dieser jungen Frau nicht stimmte. »Na ja. Aber alles in allem ist das ein wirklich gelungener Abend, Fräulein Maler.«
Sie lächelte. »Nennen Sie mich Angelika, das klingt nicht so förmlich.«
»Aber nur, wenn Sie mich Volker nennen.« Er hob ebenfalls lächelnd sein Glas.
Angelika stieß mit ihm an. »Auf gute Nachbarschaft«, sagte sie.
»Auf gute Nachbarschaft.«
*
Am nächsten Morgen dachte Volker ernsthaft darüber nach, daß er sich eigentlich am Wochenende erholen wollte. Sein Kopf fühlte sich allerdings ganz anders an. Der Abend bei Angelika war toll gewesen, der Bacardi, den er sich mit Cola gemischt hatte, hatte ihm auch gut getan. Angelika selbst hatte ihn irgendwie fasziniert, es war wohl ihre ungewöhnliche Ausstrahlung, die ihn so anzog. Er war neugierig geworden, was es sonst noch über diese junge Frau herauszufinden gab. Einmal wirkte sie immer ein wenig verwirrt, wenn sie mit ihm zusammen war. Bei den anderen war sie selbstsicherer, ja fast provozierend gewesen. Aber irgendwie schien das keiner zu bemerken, selbst Franz Busch nicht, der später doch noch zum Fest gekommen war. Alle hatten sie sehr schnell zu mögen begonnen. Volker dachte darüber nach, daß es ihm kaum anders ging.
Nachdem er aufgestanden war, nahm er sich vor, erst einmal etwas gegen seinen Brummschädel zu tun. Im Badezimmer bewahrte er immer eine Packung Kopfschmerztabletten auf, von denen er nun eine einnahm. Beim Frühstück sah er sich die Aufnahme der Sportsendung an, die er gestern ausfallen gelassen hatte. Im Nachhinein war er froh darüber, daß er zu dieser Feier gegangen war. Angelika hatte eine besondere Art, die er gerne näher erforschen würde. Außerdem interessierte ihn die Bedeutung, die diese kleine Dose für sie hatte, die sie nie aus den Augen ließ.
Im Augenblick war ihm die Sportübertragung allerdings wichtiger. Mit wachsendem Interesse betrachtete er die Abfahrtsläufe der Damen, während er seine Kopfschmerzen auskurierte. Leider dauerte seine Ruhe nur bis zum Mittag. Dann kamen aus der Wohnung über ihm wieder laute Geräusche, und auch im Treppenhaus wurde deutlich vernehmbar gearbeitet. Anscheinend brachten ihre Freunde heute tatsächlich die restlichen Möbel. Volker hatte keine bestimmte Ahnung, warum er ein wenig daran gezweifelt hatte. Irgendwie hatte ihn die Art und Weise gestört, wie sie es gesagt hatte, es hatte mehr nach einer faulen Ausrede als nach einer Tatsache geklungen. Jetzt allerdings merkte er, wie unsinnig der Gedanke eigentlich war. Schließlich wohnte sie erst zweieinhalb Tage hier, da konnte eben noch nicht alles fertig sein.
Das Band war zuende und Volker schaltete das Fernsehgerät aus. Seine Kopfschmerzen waren zu einem schwachen Klopfen abgeklungen, das sich kaum von den Geräuschen von oben unterschied. Um sich ein wenig abzulenken, schaltete er das Radio ein. Julia, which way will you go? sang Chris Rea gerade, und Volker summte leise mit.
Irgendwann klingelte das Telefon. Volker stellte das Radio leiser und hob den Hörer ab. »Naus?«
»Volker, hallo. Ich bin's, Richard. Ich wollte dich nur fragen, ob du heute abend Zeit hast. Monika und ich wollten uns im Kino Mrs. Doubtfire ansehen. Da wollten wir dich fragen, ob du mitkommen möchtest.«
Irgendwie hatte Volker den Eindruck, als würde sich auch dieses Wochenende nicht zum Ausruhen eignen. »Ja, das wäre nicht schlecht. Wann wollt ihr denn losgehen?«
»Gegen acht, zur Abendvorstellung. Dann haben wir die besten Plätze.«
»Geht klar. Kommt ihr dann bei mir vorbei?«
»Logo, wir können dich ja schlecht laufen lassen.« Von hinten hörte man jemanden etwas sagen und Richard begann zu lachen. »Ich soll dir von Monika sagen, daß du schon mal den Bacardi rausholen sollst.«
Volker grinste. Monika, Richard und er waren absolute Liebhaber dieses Getränkes. Insgeheim regte sich bei ihm ein wenig Schadenfreude, da Richard nicht mittrinken durfte. »Hätte ich sowieso gemacht«, erwiderte er dann. »Ich kenn' euch doch.«
»Gut, alles klar. Bis um sieben dann.«
Volker legte auf. Es war immer dasselbe. Auch am letzten Wochenende wollte er sich entspannen, aber Richard und Monika hatten ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Seine beiden besten Freunde hatten immer irgend etwas, womit sie ihn aus dem Haus locken und seine Ruhe zunichte machen konnten. Aber er genoß es trotzdem, mal rauszukommen und etwas zu unternehmen. Wahrscheinlich wäre sonst sein Wochenende ziemlich langweilig geworden. Also stellte er sich darauf ein, noch etwa sechs Stunden abschalten zu können.
Wieder wurde aus seiner Ruhepause nichts. Oben in der Wohnung wurde jetzt mit vereinten Kräften gehämmert. Das Geklopfe war hier unten so laut, daß er nicht einmal das Radio richtig hören konnte. Genervt stand er auf und ging zur Tür. Zwar mochte er Angelika ganz gerne, aber seine wohlverdiente Ruhe wollte er sich nicht nehmen lassen. Im Treppenhaus war das Hämmern weniger laut. Holger, der Bewohner des Appartements im dritten Stockwerk, kam ihm entgegen. »Hallo, wolltest du zu mir?«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Volker mit bedauerndem Ton. »Ich hatte vor, zu Fräulein Maler zu gehen. Irgendwann möchte ich mich auch ein wenig ausruhen, und da geht mir das Hämmern doch ein wenig auf die Nerven.«
Holger war schon auf halbem Wege nach unten. »Also ich hab nichts gehört. Bis später dann.« Unten fiel die Tür ins Schloß. Volker war auf der Treppe stehengeblieben. Tack, tack, tack, kam es aus der Wohnung. Warum hatte Holger denn nichts gehört? Vielleicht war er in Gedanken oder er hatte noch was eiliges vor. Egal, ihn störte es jedenfalls, also wollte er auch dafür sorgen, daß zumindest ein wenig Ruhe einkehrte.
An der Tür angekommen, läutete er. Dabei fiel ihm auf, daß immer noch kein Namensschild im Sichtfenster des Klingelknopfes angebracht war. Das Klopfen brach ab und Schritte waren zu hören. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür.
»Hallo, Angelika«, begann Volker.
Überrascht blickte sie ihn an. »Oh, Volker. Schön, Sie zu sehen. Was gibt es denn?«
»Eigentlich nicht viel. Es ist nur so, daß ich mich unten etwas ausruhen wollte, und da möchte ich Sie gerne bitten, ein wenig leiser zu sein. Ich meine, das Klopfen höre ich nämlich unten doch ziemlich laut.« Bildete er sich alles nur ein, oder war sie wirklich wieder so verwirrt? Jedenfalls sprangen ihre Augen hin und her und sie wandte den Kopf zurück, um irgend etwas in der Wohnung zu betrachten. Dann sah sie ihn wieder an.
»Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie gestört habe«, erwiderte sie. Dabei zitterte ihre Stimme ein wenig. »Mein Bruder und ich sind gerade dabei, ein neues Regal aufzubauen. Aber wenn das zu laut ist, machen wir erst einmal mit den anderen Sachen weiter. Wir haben ja noch eine ganze Menge vor uns.«
»Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen. Ich bin allerdings ab kurz vor Acht weg, dann können Sie ja weitermachen. Den anderen scheint es ja nichts auszumachen.«
Ihre Nervosität schien sich ein wenig zu legen. »Da bin ich ja beruhigt«, sagte sie, und diese Aussage schien aus tiefstem Herzen zu kommen. »Dann werden wir jetzt erst einmal die Möbel zurechtrücken und die anderen Sachen noch erledigen.«
Volker nickte. »Vielen Dank, das ist wirklich nett. So, nun muß ich aber wieder runter, sonst lohnt sich das ganze Ausruhen nicht mehr.«
»Auf Wiedersehen. Und ich bitte nochmals um Entschuldigung.«
Volker hatte sich schon abgewandt. »Kein Problem«, sagte er, während er die Treppe hinunterging. Oben schloß sich die Tür, zögernd, wie er glaubte.
Pünktlich um sieben Uhr zehn klingelte es bei ihm an der Tür, pünktlich deshalb, weil Richard und Monika immer rund zehn Minuten später kamen, als sie sich anmeldeten. Volker wartete an der Tür, bis die beiden ihn begrüßten. Sie gingen ins Wohnzimmer und nahmen dort auf der Couch Platz. Vor ihnen auf dem Tisch standen zwei leere Gläser und eines mit Orangensaft, eine Flasche Cola und der Bacardi. Das Radio lief immer noch und spielte jetzt einige Lieder aus den Sechzigern. Volker hob sein Glas: »Darauf, daß wir heute einen gemütlichen Abend haben werden.« Monika stieß an und Richard ebenfalls, mit dem Orangensaft in der Hand.
»Wie wär's«, setzte Monika an. »Sollen wir nachher noch beim Griechen essen gehen?«
»Ich weiß noch nicht«, meinte Volker. »Je nachdem, wie spät es wird. Eigentlich wollte ich heute mal ein bißchen ausspannen. Bisher bin ich aber noch nicht dazu gekommen.«
»Dann lohnt es sich jetzt auch nicht mehr«, meinte Richard. »Außerdem wird es doch bestimmt lustig werden.«
Volker grinste. »Recht hast du. Also gut. Dann werden wir uns also wieder einmal eine Nacht um die Ohren schlagen.« Volker wußte genau, warum Richard und Monika gerne zum Griechen gingen. Von dort aus hatten sie es ja nur fünf Minuten bis nach Hause. Da konnten sie beide etwas trinken. Er selbst war dem Vorschlag an sich auch nicht abgeneigt, zumal sein Heimweg ebenfalls nur ein paar Minuten betragen würde, nüchtern jedenfalls.
Sie lachten und schwatzten noch eine Weile, bis es schließlich viertel vor Acht war und sie sich langsam für den Aufbruch fertigmachten. Volker hatte sich gerade seine Jacke angezogen, Monika und Richard waren bereits bei Wagen, als von oben ein Schrei zu hören war. Zuerst dachte er, es würde irgendwo ein Fernseher laufen, dann aber ertönte wieder ein Schrei, und diesmal war er sich sicher, daß der Laut echt war. Und er kam von oben, aus Angelikas Wohnung. Rasch rannte er in den Hausflur und die Treppe hinauf. Von unten hörte er fragende Rufe von Richard und seiner Freundin, wo er denn so lange bliebe, aber er achtete nicht auf sie. Oben angekommen, klangen ihm die Schreie quälend laut in den Ohren. Er hörte, wie etwas an einer Wand zerbrach und das Scheppern von Glas. Dann ein dumpfer Aufprall und ein Schmerzenslaut, der eindeutig von einer Frau stammte. Entschlossen hämmerte Volker mit einer Faust an die Tür. »Angelika!« rief er. »Was ist los? Was ist passiert?« Er bekam keine Antwort. Statt dessen ging der Tumult hinter der Tür weiter. Nochmals klopfte er kräftig. »Machen Sie auf! Was ist denn bei Ihnen los?« Plötzlich verstummte der Lärm. Vollständige Stille machte sich breit. Unsicher pochte Volker mit dem Knöchel seines Fingers an die Tür. »Angelika? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Gehen Sie weg«, kam es leise von drinnen, Volker meinte herauszuhören, daß die Stimme der jungen Frau von Tränen erstickt war. »Lassen Sie mich in Ruhe.«
So leicht wollte er sich jedoch nicht abspeisen lassen. »Was ist denn los?« wollte er wissen. »Ist jemand bei Ihnen?«
»Nein, es ist alles in Ordnung. Bitte gehen Sie jetzt.«
Verwirrt wartete er vor der Tür, bis sich Richard und Monika unten durch lautes Klopfen an der Haustür, die ins Schloß gefallen war, bemerkbar machten. Als es dann schließlich auch noch bei ihm in der Wohnung klingelte, wandte er sich schließlich zum Gehen. Unten angekommen verlor er kein Wort über diese merkwürdige Angelegenheit. Es hatte den Anschein, als stünde ihm noch so manche Überraschung bevor. Innerlich schwor er sich, daß er herausfinden würde, was an diesem Abend wirklich geschehen war.
Während der Fahrt zum Kino war er recht schweigsam. Er dachte immer wieder über das zuvor erlebte nach. Das Ganze hatte etwas Unheimliches an sich gehabt, das ihn erschauern ließ. Richard und Monika hatten ihn gefragt, was er so lange gemacht hatte, und er hatte ihnen gesagt, daß er sein Portemonnaie gesucht habe. Er wußte nicht warum, aber er wollte ihnen von der Angelegenheit erst einmal nichts erzählen.
Je weiter sie fuhren, desto weniger dachte er nach. Die beiden vorne im Wagen lachten und machten Witze, und bald waren die Erinnerungen an das abendliche Ereignis verblaßt. Wie auch sonst immer lachte er kräftig mit und so konnte er dann auch den Film richtig genießen.
*
Kurz vor ein Uhr kam Volker endlich zu Hause an. Der Abend war wirklich lang geworden, beim Griechen hatten sie sich wieder einmal prächtig amüsiert, der erst vor kurzer Zeit gesehene Film bot genug Gesprächs- und Erheiterungsstoff, daß sie damit zwei Abende hätten füllen können. Sie hatten so viel Spaß und lachten so sehr, daß sie das Essen kalt werden ließen, bevor sie fertig waren. Volker konnte sich nicht helfen, aber er fand immer noch, daß Bacardi besser schmeckte als Ouzo, auch wenn der Kellner etwas anderes behauptet und ihm ein Gläschen nach dem anderen eingegossen hatte. Die anderen beiden hatten an dieser Probieraktion ebenfalls teilgenommen, aber ihre Meinung zu dieser Frage hatte er nicht mehr mitbekommen. Jetzt stand er endlich vor seiner Wohnungstür und kämpfte mit dem Schlüsselloch. Nach einigem Hin und Her bekam er die Tür auf und stolperte mehr als zu gehen in die Wohnung hinein. Seine Jacke blieb auf dem Weg zum Wohnzimmer liegen, die restlichen Sachen verteilten sich gleichmäßig im Schlafzimmer, bis er endlich dazu kam, sich ins Bett zu legen. Kaum hatte er daran gedacht, sich die Schuhe auch noch auszuziehen, schlief er auch schon wie ein Toter.
Von letztem Morgen bis zu diesem Morgen hatte sich kaum etwas geändert. Der einzige Unterschied bestand in der Intensität des Klopfens in seinem Kopf. Der gestrige Abend hatte ganz schön an seinen Kräften gezehrt. Offensichtlich hatte er sich zu sehr an sein Lieblingsgetränk gewöhnt, so daß er die anderen Sachen nicht mehr vertrug. Vielleicht war es aber auch nur das etwas überreichliche Essen gewesen. Diese Portion, angeblich für eine Person gedacht, war eher für drei ausgewachsene Menschen geeignet gewesen. Und davon hatten sie zwei Stück bestellt. Am Ende war dann so viel übrig geblieben, daß der Kellner besorgt fragte, ob es ihnen nicht geschmeckt hätte. Dennoch hatte es Spaß gemacht, auch wenn er wohl am Montag morgen nicht so fit sein würde, wie er es gerne wäre. Auf einen solchen Abend hätte er ungern verzichtet.
Vorsichtig streckte er seine Glieder, eines nach dem anderen. Der Sonnenschein kitzelte ihn auf der Nase, langsam öffnete er die Augen. Winterliches Licht erhellte sein Schlafzimmer, kleine Schneeflocken wirbelten vorüber, die Dächer der Häuser waren mit einer dicken weißen Haut überzogen. Ein Blick auf den Radiowecker verriet ihm, daß es kurz vor zwölf Uhr war. Dann wird's jetzt aber mal Zeit, dachte er, schwang vorsichtig seine Beine aus dem Bett und legte sich gleich darauf wieder hin. Das Klopfen war zu einem Dröhnen angeschwollen, das nicht mehr weggehen wollte. Entschlossen versuchte er es noch einmal. Jetzt war das Gefühl weniger schlimm, aber mindestens genauso lästig. Als dann seine Füße den Boden berührten, stellte der Raum seine wilden Schaukelbewegungen ein. Dies war auch der Zeitpunkt an dem er bemerkte, daß er seine Schuhe immer noch anhatte, die Hose dagegen zusammengeknüllt vor ihm auf dem Boden lag. »Oh, Mann«, murmelte er und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Er entledigte sich endlich seiner Schuhe, zog eine Pyjamahose über und tappte ins Badezimmer, wo er sich einen kalten Strahl Wasser ins Gesicht warf.
Nach einer entspannenden Dusche und der fälligen Rasur fühlte er sich wesentlich besser. Sein »Frühstück« schmeckte ihm nicht besonders, aber der Kaffee tat gut. Wie an jedem Morgen, oder Mittag dieser Art schwor er sich: Nie wieder Alkohol. Doch bisher hatte das nie lange gehalten. Meist gings am nächsten Wochenende wieder von vorne los. Sonntags hatte er allerdings meistens seine Ruhe. Wahrscheinlich hatten seine beiden Freunde ähnliche Probleme wie er und ließen ihn deshalb in Frieden.
Unter diesen ruhigen Umständen entschloß er sich, weiter an seinem Bericht zu tippen. Der mußte morgen früh bei seinem Chef auf dem Schreibtisch liegen. In seinem Büro hatte er ohnehin keine Zeit, das alles zu schaffen, also nahm er sich regelmäßig Arbeit mit nach Hause. Gemütlich räumte er den Tisch ab und wischte mit einer Hand die Krümel hinunter. Danach holte er den Computer aus dem Schreibtisch und rief die Textverarbeitung auf. Augenblicke später hatte er sich in seinen Bericht vertieft.
Es war schon vier Uhr, als er den Computer wieder abschaltete. Jetzt wurde es langsam Zeit, die Wäsche vom Speicher zu holen. Er hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, sich einen Wäschetrockner zu kaufen, damit er sich den lästigen Weg rauf und runter sparen könnte, aber für ihn alleine lohnte sich eine solche Anschaffung kaum. Schulterzuckend nahm er seinen Schlüssel und ging in den Hausflur. Dort stieß er fast mit Angelika zusammen, die die Treppe herunterkam. »Oh, Vorsicht«, entfuhr es ihm. »Es tut mir-« Dann sah er in ihr Gesicht. Obwohl sie schnell an ihm vorbeieilte, hatte er doch erkannt, in welchem Zustand sie sich befand. Die Lippen waren aufgeplatzt, rote Striemen zeichneten sich auf der Haut ab, und auf einer Wange prangte ein dicker blauer Fleck. »Angelika, was ist passiert?« Aber sie rannte schon zur Haustüre hinaus, bevor er überhaupt reagieren konnte. Einen Moment lang stand er unschlüssig im Flur herum, bis die Haustüre geöffnet wurde und Holger hereinkam.
»Hast du Angelika gerade gesehen? Sie müßte dir draußen begegnet sein.«
Holger war durch diese ungewöhnliche Begrüßung etwas verwirrt. »Äh, ja, habe ich, wieso?«
»Ist dir etwas an ihr aufgefallen?«
Der andere zuckte mit den Schultern. »Nicht, daß ich wüßte. Sie hat mir einen guten Tag gewünscht und ist dann weitergegangen. Warum? Ist denn etwas mit ihr?«
Volker konnte sich kaum vorstellen, daß jemand diese Verletzungen nicht sehen würde. »Hast du denn nicht bemerkt, daß ihr Gesicht ganz angeschwollen war? Mann, sie sah aus, als wäre sie von einem Boxer verprügelt worden.«
»Wie kommst du denn darauf? Mich hatte sie sogar angelächelt, und ich sage dir, sie hat immer noch ein wirklich hübsches Gesicht.«
»Ich weiß doch, was ich sehe«, erwiderte Volker. »Und außerdem hatte sie es ziemlich eilig.«
»So leid es mir tut, sie ist ganz normal an mir vorbeigegangen. Keine Spur von irgendwelchen Wunden. Außerdem schien sie sich nicht sonderlich beeilen zu wollen.« Nach einer kurzen Pause sprach er weiter. »Sag mal, kann es sein, daß du etwas getrunken hast?«
Volker wurde wütend. »Jetzt hör aber auf. Ich bin mindestens genauso nüchtern wie du, wenn nicht noch klarer im Kopf. Ich weiß mit Sicherheit, daß ich mich nicht getäuscht habe. Ich bin doch nicht verrückt, oder so was.«
»Also bin ich der Verrückte«, gab Holger zurück. »So meintest du das doch, oder?«
»Nein, natürlich nicht.« Volker trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Es ist nur so: irgend etwas ist mit dieser Frau, das ich nicht begreifen kann. Seitdem sie hier wohnt, geschehen die seltsamsten Dinge.«
Holger setzte ein schwaches Lächeln auf. »Wer weiß, vielleicht hast du dich in sie verliebt. Da steht dann natürlich alles Kopf. Oder dir fehlt einfach nur etwas Schlaf.«
»Erstens: Ich schlafe wie ein Stein. Zweitens: Ich war schon einmal verliebt, und ich kann dir sagen: so war das nicht.« Ihm kam eine Idee. »Paß mal auf. Wie hat dir denn die Wohnung gefallen, in der wir gefeiert haben?«
»Gut. Ausgesprochen geschmackvoll eingerichtet. Am besten haben mir die ungewöhnlichen Möbel gefallen. Ich kam mir vor wie in einer Designerausstellung. Die Metallrohrstühle waren irre.«
Volker nickte. »Und die Musik? Wie war es damit?«
»Da fragst du noch? Du weißt doch ganz genau, daß ich auf Popmusik stehe. Und wenn auf einer Party die gesamten Hits der achtziger Jahre laufen, ist der Abend für mich gerettet. Was mich aber interessiert: Warum willst du das alles wissen?«
»Das sage ich dir später. Ich muß das erst einmal verarbeiten.« Damit zog er die Tür hinter sich zu und ging an dem verdutzten jungen Mann vorbei die Treppe hinauf.
»Wo willst du jetzt hin?«
»Auf den Speicher, die Wäsche holen.«
»Hör mal, wenn du Probleme hast, du kannst mit mir ruhig darüber sprechen.« Als nach ein paar Sekunden keine Antwort kam, stapfte er ebenfalls nach oben und ging grübelnd in seine Wohnung.
Nachdem Volker seine Sachen abgenommen und nach unten gebracht hatte, ging er sofort zu Helga. Er wollte seine Vermutung erst noch einmal bestätigt haben, bevor er die Sache zur Sprache brachte. Er läutete, und seine Nachbarin erschien im Flur. »Guten Tag, Helga. Ich wollte mit Ihnen über Angelika reden, der neuen Mieterin.«
»Ja, die junge Dame. Warum denn? Ist irgend etwas?«
»Nicht direkt. Ich würde nur gerne ein paar Dinge wissen.«
»Ja, warum nicht? Kommen Sie doch herein und setzen sich einen Augenblick.«
Volker winkte ab. »Nein, danke, es wird nicht lange dauern. Was ich eigentlich nur wissen wollte ist: Wie hat ihnen das kleine Fest am Freitagabend gefallen?«
Helgas Augen begannen zu leuchten. »Ich war sehr angenehm überrascht. Von einer Frau in diesen jungen Jahren hätte ich am wenigsten ein so anspruchsvolles Fest erwartet. Die Wohnungseinrichtung war traumhaft, richtig urig rustikal. Auch die Musik war wunderschön, Sie wissen ja, wie sehr ich die alten deutschen Schlager mag. Bei der Auswahl der Getränke gab es ebenfalls nur Löbliches zu sagen.«
»Und wie gefiel Ihnen unsere Gastgeberin selbst?«
»Eine wirklich freundliche und zuvorkommende Person. Es gibt nur wenige junge Leute, die noch so viel Anstand und Höflichkeit besitzen. An ihr können sich die meisten ein Beispiel nehmen. Hat es denn einen besonderen Grund, daß Sie das wissen wollen?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Volker. »Ich dachte nur, ich würde sie von irgendwoher kennen, und Sie könnten mir weiterhelfen.«
»Nein, leider nicht. Ich habe sie am Freitag auch zum erstenmal gesehen.«
Volker machte eine unbestimmte Handbewegung. »Da kann man dann nichts dran machen. Tut mir leid, die Störung. Einen schönen Tag dann noch.«
»Ja, Ihnen auch. Auf Wiedersehen.«
Volker ging in seine Wohnung zurück, mit noch mehr Verwirrung, als zuvor.
*
Es wurde Abend, bis er von oben wieder Geräusche hörte. Diesmal wartete er nicht lange, sondern ging sofort ins Treppenhaus. Dort war es wesentlich lauter zu vernehmen. Etwas stieß mehrmals gegen die Tür, auch dieses Mal begleitet von Schmerzenslauten. Volker schlich sich an die Tür heran und lauschte. Drinnen war leises Gewimmer zu hören, gelegentlich von einem höhnischen Lachen unterbrochen, das irgendwie unmenschlich klang. Wieder klirrte Glas und Metall. Volker wartete nicht länger und trat entschlossen gegen die Tür. Es knallte laut, aber das Schloß hielt. Ein zweites Mal trat er zu, und wieder trotzte ihm die Tür. Dann wich er bis an die gegenüberliegende Tür zurück und rammte seine Schulter mit dem vollen Gewicht seines Körpers gegen das Holz. Das Schloß brach halb aus der Verankerung, die Tür schwang ein paar Zentimeter nach innen. Ohne auf seine schmerzende Seite zu achten, holte er aus und trat noch einmal vor den Türknauf. Diesmal zersplitterte das schon arg angeschlagene Holz endgültig, der Weg war frei.
Die Schreie wurden lauter, sie kamen aus der Richtung des Raumes, in dem sie gefeiert hatten. Immer noch war die Wohnung in einem unfertigen Zustand. Es roch sogar noch nach frischer Farbe und Tapetenkleister. Aber es lag auch noch ein süßlich-fauliger Geruch in der Luft. Vorsichtig schlich er sich vorwärts. Der Tumult hatte sich noch gesteigert. Mittlerweile war er an der Tür zum Wohnzimmer angekommen. Sie war nur angelehnt, so konnte er jedes Geräusch klar und deutlich vernehmen. Er konnte sogar hören, daß jemand sprach. Es war mehr ein Zischen als eine Stimme, aber dennoch klar verständlich.
»Du wußtest, daß ich ihn haben wollte!« zischte die Stimme. »Er gehörte mir, aber du hast ihn mir genommen!« Wieder ein dumpfer Aufschlag und ein Schmerzensschrei. »Ich werde dich dafür bezahlen lassen. Dein Leben soll genauso lang und elend sein, wie das meine kurz war. Du verfluchte kleine Hure!« Etwas schlug von innen gegen die Tür, und sie schwang zu ihm hin auf. Angelikas böse zugerichteter Körper stürzte in den Flur. Entsetzt wollte Volker ihr hochhelfen, doch in diesem Augenblick zerrte sie etwas ins Zimmer zurück. Er rannte ihr hinterher und blieb auf der Schwelle wie angewurzelt stehen. Was er dort sah, überstieg sein Begriffsvermögen. Angelika lag auf dem Boden, in ihrem Gesicht standen Schmerzen. Über ihr schwebte die Gestalt einer hübschen jungen Frau, deren Miene vor Wut schrecklich verzerrt war und die Angelika sehr ähnlich sah. Sie holte aus und schlug der Wehrlosen ins Gesicht. Immer wieder schrie sie etwas davon, sie hätte »ihn ihr weggenommen«. Angelikas Körper war stark zerschunden, ihre Kleidung bestand praktisch nur noch aus einigen Fetzen, die allesamt von Blut durchtränkt waren. Plötzlich ließ das unheimliche Wesen einen Schrei hören und war einen Moment später verschwunden. Angelika blieb auf dem Boden liegen und rührte sich nicht. Voller Angst eilte Volker zu ihr hin.
Als er sich neben ihr hinkniete glaubte er einen Augenblick lang, daß sie tot sei. Ihr Atem ging sehr schwach, aber sie lebte. Auf seine Versuche, sie zu wecken, reagierte sie nicht. Vorsichtig hob er sie hoch und legte sie auf das Bett im Schlafzimmer. Unsicher, was er nun tun sollte, stand er auf, um einen Krankenwagen zu rufen. Als er gerade hinausgehen wollte, hörte er, wie sie sich bewegte. Sekunden später stand er schon wieder neben ihr. »Angelika? Bist du wach?« Behutsam strich er ihr mit der Hand das Haar aus dem verletzten Gesicht. »Geht es dir wieder besser?«
»Warum - warum bist du - hier?«
»Ich habe Schreie gehört, genau wie gestern. Da bin ich nach oben gekommen und habe dich hier gefunden. Was um alles in der Welt war denn los?«
»Bitte, Volker«, sagte sie flehend. »Du darfst dich nicht einmischen. Das muß ich alleine durchstehen.«
»Diese Gestalt vorhin, was war das?«
Vorsichtig richtete sie ihren Oberkörper auf. »Ich möchte nicht darüber reden. Es wäre zu gefährlich, wenn ich dir davon erzähle. Ich kann das nicht, Volker. Geh jetzt, bitte!«
Aber das war ihm nach dem letzten Erlebnis so ziemlich egal. Er wollte nur wissen, was geschehen war und wie er ihr helfen konnte. Daher blieb er, wo er war und half ihr so gut er vermochte. Nach einer halben Stunde konnte sie wieder aufstehen, und er führte sie in die Küche, wo er ihr ein Glas Wasser brachte. »Hast du Jod und Pflaster im Haus?« Als sie den Kopf schüttelte, sagte er ihr, daß er etwas von unten holen würde. So schnell es ging, hastete er durch die zerbrochene Tür ins Treppenhaus und dann nach unten, wo er seine Hausapotheke aufbewahrte. Dort kramte er seine Utensilien heraus und beeilte sich, wieder nach oben zu kommen. Er lehnte sie Tür so gut es ging an und setzte sich dann wieder neben Angelika an den Tisch. »So. Und jetzt erzählst du der Reihe nach, was los ist. In der Zeit versuche ich, deine Blessuren zu verbinden. Ich will jetzt auch nichts mehr davon hören, daß es zu gefährlich wäre, oder irgend etwas in der Art. Ich will alles wissen, von Anfang an.«
Eine Zeitlang saß sie nur still da und beobachtete ihn, wie er Stück für Stück von der Heftpflasterrolle abschnitt. Dann fing sie seinen strengen Blick auf, sofort begann sie schnell zu erzählen. »Es wird wohl alles für dich sehr unglaublich klingen, niemand hat mir bisher geglaubt. Aber ich schwöre dir, daß jedes Wort wahr ist. Du kennst mich jetzt gerade zwei Tage lang. Ich denke, daß du mich auf etwa zwanzig bis vierundzwanzig Jahre schätzen wirst.« Sie blickte ihn fragend an und er nickte. »Was würdest du sagen wenn ich behaupte, daß ich viel älter bin?«
»Dann würde ich sagen, daß du sehr gut aussiehst.«
»Ja, aber - autsch - was würdest du sagen wenn du wüßtest, daß ich siebenhundertachtundfünfzig Jahre alt bin?«
»Ich schätze, ich würde dich für verrückt erklären.«
Entrüstet zog sie ihren Kopf von seinem jodgetränkten Wattestäbchen weg. »Siehst du? Das haben bisher alle gesagt. Aber es ist wahr, wirklich. Ich wurde im Jahre zwölfhundertsechsunddreißig als Tochter eines reichen Burgherren geboren, zusammen mit meiner Zwillingsschwester.« Volker hatte eine kurze Zeit vergessen, ihre Wunden zu behandeln, fuhr aber gleich darauf fort. »Unsere ganze Kindheit hindurch haben wir alles gemeinsam gemacht. Wir lernten zusammen Lesen und Schreiben, unsere Spiele waren dieselben, wir haben uns sogar beinahe gleiche Kleider genäht. Am Schluß konnte uns nur noch unsere Mutter richtig auseinanderhalten. Vater hatte durch die Burgangelegenheiten natürlich nur wenig Zeit, sich um uns oder unsere sechs Geschwister zu kümmern. Hauptsächlich haben uns Mutter und unsere Zofe betreut und alles beigebracht. Es gab nur noch einen, der uns sonst noch etwas lehren konnte und wollte. Das war der alte Hofmedikus meines Vaters, Cichiron. Hier gingen das erste Mal unsere Interessen auseinander. Der Mann war nämlich nicht nur Medikus, er beherrschte sogar die Zauberei.«
»Das bekommt man doch heutzutage in jedem Vorstadtzirkus zu sehen.«
Angelika schnaubte verächtlich. »Ich meine nicht diese billigen Taschenspielertricks, die alle nur fingiert sind. Ich spreche von der wirklichen Magie, die zu Dingen imstande ist, die auch den klügsten Köpfen nicht begreifbar sind.«
»Ich verstehe. Du hast also alle Leute in diesem Haus behext, damit sie nicht sehen, was mit dir los ist, nicht wahr?«
Sie nickte zögernd. »Aber bei dir wirkt der Zauber nicht. Ich weiß, was das bedeutet, aber ich habe Angst, es dir zu erzählen, weil es dann vielleicht zu spät für dich ist. Zu spät für dich und auch für mich.«
»Warum? Denke daran, ich will alles wissen.«
Sie holte langsam Luft, zögerte aber mit der Erzählung. Schließlich, auf einen ungeduldigen Blick von Volker hin, schloß sie die Augen, atmete ein weiteres Mal tief ein und sprach weiter: »Also, wie ich schon sagte trennten sich dort unsere Interessen. Sie wandte sich der Beschwörung und der dunkleren Zauberei zu, ich selbst blieb auf der hellen Bahn, dem Weg der Illusionen und der Telekinese. Gegenseitig führten wir uns unsere neuen Erkenntnisse vor, spielten mit der Magie herum und so weiter. Das machte uns Spaß, aber Vater und Mutter durften nie etwas davon erfahren, auch niemand sonst, da wir dann wohl als Hexen verbrannt worden wären. Zwischendurch blieb uns dann auch noch Zeit für verschiedenste Liebeleien und Spielchen. Allerdings waren wir uns bei dieser Sache auch nicht einig, was natürlich ein großes Glück war. Leider hielt dieses Glück nur bis zu unserem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Zu diesem Anlaß gaben unsere Eltern nämlich eine große Feier, zu der viele Edelmänner und -frauen eingeladen worden waren. Unter diesen Gästen war auch ein junger Mann namens Arthur, der an meiner Schwester und mir gefallen gefunden hatte. Ich weiß nicht, weshalb er sich damals für Charlotte entschied, aber ich erinnere mich noch genau an meinen Zorn, als ich es erfuhr. Tagelang habe ich kein einziges Wort mehr mit meiner Schwester gesprochen. Wir haben uns gegenseitig nur noch finstere Blicke zugeworfen, ich ihr, weil sie mehr Glück hatte als ich, und sie mir, weil ich ihr das Leben schwermachte, wo ich nur konnte. Einmal habe ich ihr sogar ihr Lieblingskleid so sehr zerrissen, daß sie es nicht mehr flicken konnte.
Ich habe es aber nie aufgegeben, Arthur davon zu überzeugen, daß ich die Richtige für ihn sei. Doch er wollte mich nicht, meine Schwester hatte ihm ganz und gar den Kopf verdreht. Meine Wut steigerte sich nur noch weiter. Als ich schließlich nicht mehr wußte, was ich tun sollte, griff ich zu meiner letzten Chance. Ich belegte ihn mit einem Zauberbann, der mich viel schöner darstellte, als ich in Wirklichkeit bin. Ich gaukelte ihm vor, die beste und liebevollste Partnerin für ihn zu sein, die er sich denken konnte. Natürlich war auch Charlottes Charme dagegen machtlos. Eines Nachts rief ich ihn zu mir, und wir trafen uns in meinem Schlafgemach. Meine Schwester hatte aber von der Sache erfahren und war ihm gefolgt. Als er dann bei mir war, kam sie ins Zimmer gerannt und versuchte, mich von ihm wegzuzerren. Arthur stand aber immer noch unter meinem Einfluß, er ließ sich von ihr nicht vertreiben. Im Gegenteil, er packte sie und stieß sie aus dem Raum hinaus. Charlotte kam sofort wieder zurück und da schlug er sie. Eigentlich war der Schlag nicht allzu fest gewesen, nicht mehr, als wir schon oft von unserem Vater wegen Ungehorsamkeiten bekommen hatten. Doch Charlotte stürzte, und während sie fiel, schleuderte sie einen Fluch auf mich. Einen Moment später schlug ihr Kopf schwer gegen einen der hervorstehenden Steine des Kaminsimses. Sie blieb dort liegen und rührte sich nicht mehr. Ihr Fluch traf Arthur mit voller Wucht, er war zwischen sie und mich gesprungen, um mein Leben zu schützen. Tot brach er zu meinen Füßen zusammen.«
Volker betrachtete eingehend ihr Gesicht, das jetzt durch die vielen Pflaster richtig unheimlich wirkte. »Und du bist sicher, daß das alles wahr ist? Ich meine, wie soll ich so etwas glauben können?«
»Wenn ich dir den Rest erzähle, wirst du es glauben. Als ich Charlotte da liegen sah, bereute ich, was ich getan hatte und kniete mich neben ihr hin. Ich nahm ihren Kopf in meine Hände und sie öffnete die Augen. Ich weiß noch genau, wie sie mich angeblickt hatte. Schwester, sagte sie. Diese Tat wirst du bereuen, bis ans Ende deines Lebens. Du sollst verflucht sein für das, was du getan hast. Dein Leben soll lang sein, so unendlich lang, und immer werde ich da sein, um dich heimzusuchen. Dein eigener Zauber wird dein Verhängnis sein. Jeder der dich sehen wird, wird nur erblicken, was er sehen will, nicht aber, wie du wirklich bist. Jeder wird nur ein Abbild seiner eigenen Vorstellung vor sich haben, auf daß niemand dein wahres Ich erkenne. Doch wisse, Schwesterherz. Es wird jemand kommen, der dich trotz des Fluches als das sehen wird, was du bist. Erst dann werde ich Erlösung finden können. Dann schloß sie ihre Augen und starb. Doch ihr Geist lebte weiter, bewahrt in einer kleinen Schatulle, die ich immer bei mir tragen mußte. Von dort aus kommt sie zu mir und quält mich, Nacht für Nacht.« Angelika brach in Tränen aus, aber als Volker sie tröstend umarmen wollte, entzog sie sich ihm. »Nein! Bitte tu das nicht. Du darfst nicht so viel für mich tun, du darfst nicht das für mich empfinden! Ich flehe dich an: Kümmere dich nicht mehr um mich, sie wird dir wehtun, ich weiß es!«
»Warum wirfst du dann die Schatulle nicht einfach fort? Dann kann sie dir doch nichts mehr anhaben, oder?«
»Das kann ich nicht. Wenn ich das täte, habe ich keine Kontrolle mehr über sie. Solange ich die Schatulle in meiner Nähe habe, kann ich Charlotte festhalten. Wenn ich sie verlieren würde, könnte sie ungehindert auf mich eindringen, dann hätte ich nicht mehr die Kraft, sie zurückzudrängen.«
Volker schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber warum soll ich dir dann nicht helfen? Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.«
»Du darfst es nicht! Sie würde dich töten! Seit diesem schrecklichen Vorfall kann ich keinen Mann mehr lieben. Wenn er meine Gefühle erwiderte, würde sie ihn umbringen, so wie ich sie umgebracht habe. Dann wäre ich an der Reihe. Sie will Rache, verstehst du? Rache für ihr Leben und für das Arthurs.«
»Das werde ich nicht zulassen. Auch wenn du in deinem Leben einen solchen schweren Fehler begangen haben solltest, hast du nicht schon genug gebüßt dafür? Wie du sagst, quält sie dich schon über siebenhundert Jahre. Das ist doch wohl mehr als genug.«
»Du kennst meine Schwester nicht. Ihr Haß kennt keine Grenzen, genausowenig wie meiner damals. Dein Leben wäre zerstört, wenn du mich nicht vergißt. Sie würde es niemals zulassen, daß ich glücklich werde.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie sprach. »Verstehe mich bitte nicht falsch, Volker. Ich habe dich wirklich sehr gern, aber es darf nicht sein. Wir dürfen unser Zusammensein nicht weiterführen. Bitte, glaube mir.«
Volker beugte sich zu ihr, aber sie wich vor ihm zurück. Ungeduldig drehte er seine Augen nach oben und schnalzte mit der Zunge. Dann nahm er sie bei der Hand und zog sie zu sich heran. »Ich fürchte mich nicht vor deiner Schwester.«
»Nein! Volker, ich-«
»Schscht. Ich werde dich nicht verlassen. Ich dulde nicht, daß sie dich noch einmal so zurichtet. Du hast deine Tat abgebüßt, und jetzt soll sie dich in Frieden lassen.«
»Sie wird dich töten, glaube mir doch!«
Volker achtete nicht darauf. Statt dessen zog er sie noch weiter zu sich, daß er sie umarmen konnte. Sie versuchte, seinem Griff zu entkommen, aber er hielt sie fest. »Angelika«, sagte er, seine Augen wurden sanft.
»Nein, Volker. Sag es nicht, bitte!«
»Angelika. Ich liebe dich.«
Ein Kuß landete auf ihren Lippen und sie konnte sich nicht länger gegen ihre Zuneigung wehren. Als sie sich voneinander trennten, atmete sie schwer. »Ich liebe dich.«
Plötzlich erlosch das Licht. Erschreckt klammerte sich Angelika an Volker fest. Er selbst starrte verwirrt in die Dunkelheit. Vorsichtig tastete er sich mit Angelika zur Tür vor. Er probierte den Lichtschalter. Auch nach mehrmaligem Schalten tat sich nichts. »Verdammt, da ist irgendwo eine Sicherung raus«, fluchte Volker. »Wo ist der Sicherungskasten?«
»Das ist keine Sicherung«, widersprach Angelika ängstlich. »Charlotte kommt.«
»Bist du sicher?«
»Sie wird uns nicht entkommen lassen. Volker, ich spüre, wie sie immer näher kommt. Nichts kann sie jetzt noch aufhalten. Ihre Macht ist zu groß.«
»Wenn sie zu uns kommt, wird sie es mit uns beiden zu tun bekommen. Wir werden es schon schaffen.« Immer noch umgab sie Dunkelheit. Langsam gingen sie durch den Flur hindurch und fanden sich im Wohnzimmer wieder. Es war vollkommen still um sie herum. Normalerweise hätten sie die Geräusche von den restlichen Wohnungen hören müssen, aber es drang kein Laut zu ihnen herein. Auch das Licht der Stadt draußen schien völlig ausgelöscht. Aneinandergeklammert Schutz suchend standen sie in der Dunkelheit.
Plötzlich wurden sie auseinandergerissen. Volker taumelte in eine Ecke des Zimmers, Angelika in die andere. Grelles Licht flammte an der Stelle auf, wo sie gerade gestanden hatten. Wie aus dem Nichts materialisierte sich die Gestalt, die Volker schon einmal zuvor gesehen hatte. Ihr Gesicht ähnelte dem Angelikas bis auf wenige Kleinigkeiten. Genau wie sie hatte sie mitellanges schwarzes Haar und helle blaue Augen. Doch in diesen Augen brannte der Haß wie ein loderndes Feuer. Sie blickte zuerst ihre Schwester, dann ihn selbst an. »Endlich ist die Zeit gekommen, in der ich meine Rache finde, die Zeit, in der ich meinen fleischlichen Leib zurückerhalte!« schrie Charlotte. »Das lange Warten hat ein Ende. Ihr werdet eure Strafe nun bekommen!«
»Volker! Vorsicht!« schrie Angelika, als Charlotte gerade ihre Faust hob und in seine Richtung stieß. Er konnte sich gerade noch ducken, bevor ein grünlicher Flammenblitz über ihn hinwegfegte und in der Wand hinter ihm einschlug. Ein schneller Blick zeigte ihm, daß sie zu einem weiteren Schlag ausholte. Er wartete, bis sie ihre Faust schwang und warf sich zur Seite. Ein erneuter Blitz zersprengte einen weiteren Teil der Wand. Ein kurzer spitzer Schrei ließ Volker aufblicken. Angelika hatte sich von hinten auf sie gestürzt und zu Boden gerissen. Charlotte machte eine heftige Bewegung, durch die ihre Schwester rücklings auf den Boden geworfen wurde. Nur Bruchteile einer Sekunde später stand Charlotte drohend vor Angelika. Doch Volker war ebenfalls auf den Beinen. Ein wuchtiger Schlag von seinem Ellbogen ließ sie zu Boden gehen. Beinahe sofort drehte sie sich um und schlug Volker kräftig ins Gesicht, als er sich gerade auf sie werfen wollte. Kurzzeitig standen ihm nur rote Blitze vor den Augen, er ließ sich zur Seite fallen, um Atem zu holen. Jetzt, da sie ein wenig Licht hatten, verlor die Nacht viel von ihrem Schrecken. Dennoch war das, was sie hier sahen furchterregend genug. Charlotte hatte sich wieder aufgerappelt, ihre kampflustigen Schreie hallten durch den Raum. Wieder zuckte ihre Faust vor, diesmal auf ihre Schwester gezielt. Volker sah, das sie nicht mehr würde ausweichen können. Er schrie ihr eine Warnung zu, doch in diesem Augenblick war sie schon verschwunden. Es gab eine Explosion, und der Wohnzimmertisch stand in Flammen. Angelika war nirgends zu sehen, auch Charlotte blickte sich suchend im Raum um. Volker beeilte sich, in ihren Rücken zu kommen. Er verschränkte die Finger beider Hände, hob sie über den Kopf und ließ sie auf den Nacken der Frau niedersausen. Mit einem überraschten Aufschrei taumelte sie nach vorne. Als sie sich aber umdrehte, zischte sie ihn feindselig an. Ihr war nicht anzumerken, daß sie schon schwere Schläge einstecken mußte, wohingegen er schon beinahe keine Luft mehr bekam, aus Angst und Erschöpfung. Beides schien seine Gegnerin nicht zu belasten.
Unvermittelt tauchte Angelika hinter ihrer Schwester auf. Sie hob ihre Hände, und plötzlich bewegte sich der brennende Tisch nach oben. Volker bemühte sich, nicht hinzustarren, damit Charlotte nichts davon mitbekam. Statt dessen vollführte er einen Scheinangriff und lenkte seine Widersacherin so ein paar Sekunden ab. Angelika hatte den Tisch mittlerweile bis kurz unter die Decke gehoben und ließ ihn nun mit einem lauten Krachen auf ihre Schwester fallen. Ein paar Flammenzungen schlugen umher, und Charlottes Körper wurde unter den brennenden Teilen vergraben. Volker rannte zu Angelika hinüber, die sich an die Wand zurückzog. Nur einen Atemzug darauf fielen die brennenden Trümmer des Tisches auseinander und Charlotte richtete sich wieder auf; sie sah unversehrt aus. Ein wilder Schrei entfuhr ihrer Kehle, die Feuerzungen um sie herum verloschen und Volker stieß Angelika zur Seite, als ein weiterer Flammenblitz auf sie zuschoß. Die junge Frau stürzte zu Boden, aber Volker wurde von dem Blitz an der Seite erwischt. Der Druck schleuderte ihn herum, heißer Schmerz durchschoß seinen Körper. Bevor seine Füße wieder den Boden berühren konnten, prallte er schon gegen die Wand, wo er stöhnend zu Boden ging. Charlotte begann zu lachen. Sie genoß das kleine Spielchen, das sie mit ihren Opfern spielte. Noch einmal richtete sie ihr Feuer gegen ihre Schwester, aber Angelika hatte Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Sie fuhr mit ihren Händen in der Luft herum und baute eine weiß leuchtende Wand auf, von der das Feuer abprallte und durch den Raum schoß. Mit einem dumpfen Aufschlag setzte es die Gardinen in Brand, die sofort lichterloh aufflackerten.
Volker rappelte sich unter Schmerzen wieder auf. Er erkannte, daß sie sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen sollten, wenn sie nicht bei lebendigem Leibe verbrennen wollten. Aber er bezweifelte, daß sie die Möglichkeit dazu bekamen, solange Charlotte sie in ihrer Gewalt hatte. Mit neu entfachtem Mut der Verzweiflung sprang er hoch, ignorierte seine Schmerzen und warf sich wieder auf sie. Er rang sie zu Boden und hielt ihre Arme fest. Sie wehrte sich gegen seinen Griff mit unglaublicher Kraft, doch es gelang Volker, sie festzuhalten. Seltsamerweise wurden ihre Befreiungsversuche immer schwächer. Jetzt war auch Angelika wieder da. Gemeinsam hielten sie jetzt die strampelnde Frau fest, die wilde Schreie ausstieß und sie verfluchte. Doch ihre Kräfte nahmen immer weiter ab, schon bald konnte Volker sie problemlos alleine festhalten. Ihre Schreie wurden zu einem verzweifelten Heulen, das sich immer weiter steigerte. »Volker! Laß sie los! Geh weg von ihr, schnell!« schrie Angelika. Er löste seinen Griff und stürzte zusammen mit ihr zur Zimmertür. Als sie gerade den Raum verlassen hatten, gab es einen blendend hellen Lichtblitz, und sie wurden durch den Flur geschleudert. Mit einem lauten Krachen prallte er gegen die zerstörte Eingangstür und blieb benommen auf dem Dielenboden liegen. Das Feuer, das aus dem Wohnzimmer herausschoß, versengte seine Haare, aber es ging so schnell, wie es gekommen war. Jetzt brannten die Flammen nur noch im Zimmer selbst, sie beide aber waren in Sicherheit.
*
Als die Feuerwehr eintraf, standen sie beide eng umschlungen auf dem Bürgersteig. Es hatte sich mittlerweile eine ziemliche Menschenmenge angesammelt, die fasziniert auf die züngelnden Flammen starrte, die aus dem ersten Stock schlugen. Angelika und Volker schenkten den anderen Menschen um sich herum keine Beachtung, sie hatten sich selbst, das war ihnen genug. Die restlichen Bewohner des Hauses waren ebenfalls auf der Straße, beobachteten angespannt die Arbeit der Feuerwehr, die den Brand schon bald unter Kontrolle hatte. Außer der Wohnung im ersten Stockwerk kam nicht viel zu Schaden, lediglich im Treppenhaus waren Schwelspuren an den Wänden zu erkennen.
Eine Frage hatte Volker seit sie endlich dem Feuer entkommen waren beschäftigt: Warum hatte Charlotte so schnell ihre Kräfte verloren? »Sie hatte ihre Magie schon verbraucht, um mich zu peinigen«, hatte Angelika geantwortet. »Deshalb fehlte ihr am Schluß die Kraft, sich zu wehren. Wir haben wirklich großes Glück gehabt.«
»Fräulein Maler!« rief Helga Gehrmann von der anderen Straßenseite und kam auf sie zugeeilt. »Welch ein Glück, Ihnen ist nichts passiert.«
»Nein, mir geht es gut, dank dieses jungen Mannes hier.« Sie lächelte Volker so dankbar an, daß dieser errötete. »Er hat mich aus dem Zimmer gerettet. Mein Leben hat er gerettet.«
Helga blickte Volker bewundernd an. »Sie sind ein wirklich mutiger Mann, Volker. Es wäre wirklich eine Tragödie gewesen, wenn Ihnen beiden etwas zugestoßen wäre. Wie ich sehe, haben Sie nur ein paar kleinere Wunden davongetragen.« Sie legte den Kopf schief und betrachtete Angelika genauer. »Also ehrlich, Fräulein Maler«, sagte sie dann. »Ich hätte schwören können, daß Sie blonde Haare haben.«
ENDE