Nur drei Tage lang
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)27.06.1993)

1.

Martinas lange blonde Haare flatterten im Wind, während Dieter seinen Golf Cabrio über die verlassene Landstraße steuerte. Aus dem Radio klang Three Steps to Heaven von Eddie Cochran und wurde abgelöst von Roy Orbisons Pretty Woman. Sie waren nun seit drei Stunden unterwegs. Die Sonne schien aus dem wolkenlosen Himmel auf die beiden herab, und dieser Tag versprach, noch heißer zu werden als der gestrige. Zu ihrer Rechten konnte Martina ausgedehnte Felder sehen, die in einiger Entfernung an einem Dorf endeten. Durch die Landschaft zog sich eine Reihe Hochspannungsmasten, die im weit entfernten Wald verschwanden. Ein paar Kühe weideten auf einem eingezäunten Grasstück in der Nähe eines kleinen Bauernhofes. Auf der linken Seite reichte ein Wald bis an die Straße heran. Nur selten kamen ihnen andere Autofahrer entgegen, und gelegentlich überholten sie einen Traktor, der mit etwa fünfundzwanzig Stundenkilometern vor ihnen herfuhr.

Eine weitere Stunde später erreichten sie eine Straßenkreuzung, an der ihr Zielort ausgeschildert war. Denzlingen 14 km teilte ihnen das gelbe Straßenschild mit. In der Nähe dieser kleinen Stadt gab es einen hübschen Campingplatz, und dort hatten Martina und Dieter vor, für drei Tage ihr kleines Zelt aufzuschlagen, das im Augenblick noch zusammengerollt im Kofferraum des Wagens lag.

Es war Dieters erster größerer Ausflug, seit er sie kennengelernt hatte. Vor drei Monaten, also im März, war er mit ein paar Freunden in der Stadt unterwegs gewesen, um noch irgendwo etwas zu trinken. Es war Georg, der die anderen schließlich davon überzeugte, daß sie den Rest des Abends, oder besser der Nacht, auch in der Disco verbringen könnten. Also waren sie dorthin gefahren. Sie bezahlten den Eintritt und bekamen jeder eine Getränkekarte. Georg, Michael und Karsten gingen schon die Treppe hinunter, wo der Tanzsaal war und wo die Musik, die hier an der Bar kaum über Zimmerlautstärke zu hören war, einem von mehreren kräftigen Lautsprecheranlagen in die Ohren getrieben wurde. Dieter setzte sich an die Theke und bestellte sich ein Alster, während er der Musik zuhörte und sich die auf der Schiefertafel über der Bar angeschriebenen Angebote durchlas. Robert brachte ihm sein Bier und machte einen Vermerk auf Dieters Getränkekarte, daß er sein Freigetränk nun bekommen hatte. Dieter steckte die Karte weg und sah sich wieder in der Bar um. Es gefiel ihm hier wesentlich besser als unten im überfüllten Tanzsaal, wo mehr Rauch als Sauerstoff in der Luft zu sein schien. Hier, wo gelegentlich mal ein Flipperautomat seine Anwesenheit verkündete oder jemand ein paar Münzen in ein Geldspielgerät steckte, war es bei weitem angenehmer. Während er sich umsah, bemerkte er ein junges Mädchen, das ein paar Plätze weiter in Richtung des Tanzsaales an der Theke saß. Sie war ein Mädchen von der Art, bei dem einem das Herz einen Schlag aussetzt und man sich an seinem Getränk verschluckt. Genau das passierte Dieter in diesem Augenblick. Dann bemerkte er, daß sie weinte.

Er wußte bis heute nicht, wie er den Mut dazu aufgebracht hatte, aber er hatte sein Alster unbeachtet auf der Theke abgestellt, war von seinem Hocker gerutscht, und ehe er es richtig mitbekam, war er schon auf dem Weg. Er setzte sich auf den Platz neben ihr hin und überlegte, was er jetzt tun sollte. Dann beschloß er, sich nicht so viele Gedanken zu machen, sondern einfach spontan die Dinge ihren Lauf nehmen lassen.

»Brauchst du ein Taschentuch?« fragte er. Puh, der erste Satz ist geschafft.

Sie sah ihn verblüfft an und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nein, es geht schon, danke.«

»Möchtest du was trinken? Ich lade dich ein.« Dieter haßte es, auf eine solche Art ein Gespräch anzufangen, aber er hatte einfach das Gefühl, als wäre das diesmal genau das Richtige. Als sie nickte und ihm eine Tonne Steine vom Herzen gefallen waren, bestellte er für sie und sich jeweils ein Alt und gab Robert seine Karte. Dieter war neugierig, was sie wohl so traurig gemacht hatte. Nein, traurig war vielleicht das falsche Wort. Sie sah eher verzweifelt aus. Sicher ging es um eine Beziehung zwischen ihr und irgendeinem Kerl, der sie sitzengelassen hat, oder etwas ähnliches. Dieter konnte es sich nicht vorstellen, ein Mädchen mit diesen wundervollen blauen Augen und einer solchen Figur sitzenzulassen. Vielleicht konnte er es ihr ja sogar beweisen. Als Robert die beiden Gläser vor ihnen abstellte, hob Dieter seines, um mit ihr anzustoßen. Sie blickte ihn an und er hob eine Augenbraue. War da ein kleines Lächeln? Schließlich hob auch sie ihr Glas. »Ich bin Dieter«, sagte er.

»Martina.« Sie stießen an.

So hatte alles angefangen. Später waren sie dann noch auf die Tanzfläche gegangen, und die Zeit, bis die Disco zumachte, verging für Dieter im Fluge. Vor der Tür sog er kräftig die saubere Nachtluft ein, die ihm wohltuend durch die Lungen strömte.

»Soll ich dich nach Hause bringen?« fragte Dieter und setzte dabei einen so hoffnungsvollen Blick auf, daß sie lachen mußte.

»Ja, gern. Ich wohne in der Brunnenstraße.«

»Ich hab zwar keine Ahnung wo das ist, aber ich denke, du kannst mich hinführen.« Dieter schloß die Beifahrertür des Golfs auf, und sie stieg ein, während er auf der anderen Seite Platz nahm. Sie dirigierte ihn durch die Stadt bis zu ihrer Wohnung. Sie lag in einer netten Gegend, kleine Straßen, hübsch bemalte Häuser, Rasenflächen vor den Wohnungen, und auf den Balkons wuchsen Blumen. »Es war ein toller Abend«, sagte Dieter.

»Ja. Danke fürs fahren.« Sie drückte ihm flüchtig einen Kuß auf die Wange, und Dieter wurde es warm. »Ruf mich mal an«, sagte sie, ehe sie die Tür schloß und zu einem der Häuser ging, wo sie hinter einer Glastür verschwand.

Und ob ich sie anrufen werde. Dann fiel ihm ein, daß er ihre Nummer gar nicht hatte. Gerade als ihm das klar wurde, fiel sein Blick auf ein Stück Papier, daß wie zufällig auf dem Beifahrersitz lag. 24169, ab sieben. Alles klar.

Mit singendem Blut fuhr Dieter wieder los und erreichte nach wenigen Minuten die Autobahnauffahrt, wo er mit offenem Verdeck und laut aufgedrehtem Radio der Welt verkündete, wie glücklich er war.

2.

Gleich hinter dem Ortseingangsschild nach Denzlingen kündigte ein weißes Schild den Campingplatz an, und Dieter folgte den Anweisungen. So war es kein Problem, die richtigen Straßen zu finden. Wenig später erreichten sie ihr Ziel. Dieter parkte den Wagen und begann, ihre Sachen auszuräumen, während sich Martina um die Anmeldung und die Bezahlung kümmerte. Als sie zurückkam, hatte Dieter gerade die Zeltplane auf dem Boden ausgebreitet. Gemeinsam stellten sie ihr kleines Zelt auf und räumten die Luftmatratzen hinein. Als sie sie aufbliesen, brachten sie sich gegenseitig zum Lachen, und so brauchten sie beinahe eine Viertelstunde, bis beide Matratzen zu voller Größe aufgepumpt waren. Danach brachten sie die Schlafsäcke hinein.

Der Campingplatz war beinahe leer. Nur am weit entfernten anderen Ende waren noch zwei weitere Zelte auszumachen. Die Hauptsaison hatte noch nicht begonnen, und Dieter war sehr froh darüber. Auf einem überfüllten Campingplatz war meist mehr Ärger als Ruhe zu erwarten.

Nachdem alles fertig war, stärkten sich die beiden erst einmal mit den belegten Brötchen, die sie sich von zu Hause mitgebracht hatten. Martinas Mutter hatte sie eigenhändig geschmiert und darauf bestanden, daß sie noch vor dem Mittag gegessen wurden, bevor sie aufweichten. Nach dem Essen zog Dieter das Zelt von außen zu und brachte das kleine Vorhängeschloß an, das eher zur Erkennung als zur Verhinderung eines Einbruchs diente. Die beiden stiegen in den Wagen und fuhren in den Ort, um noch ein paar Sachen einzukaufen.

Mit Krakauern, Kartoffeln und Alufolie kehrten sie schließlich am Abend zu ihrem Zelt zurück. Dieter parkte und stieg aus. Mit einer großen Geste schloß er das Zelt auf.

»Bitte einzutreten, Mademoiselle«, näselte er und verzog das Gesicht zu einer höflichen Dienermiene.

»Vielen Dank, James«, erwiderte Martina grinsend und brachte ihre Sachen ins Zelt, bevor er ihr folgte. Sie verstaute das Essen in einer Ecke und legte sich auf ihre Luftmatratze, um ein wenig von der Hitze auszuruhen. Er legte sich auf seine und starrte an die Zeltdecke. Ihre Hände trafen sich zwischen den Matratzen, und gemeinsam entspannten sie sich, bis die Sonne hinter dem Wald, der an den Campingplatz grenzte, verschwand und sich angenehm kühler Schatten über ihrem Zelt ausbreitete. Dieter richtete sich auf, schlug die Zelttüren auf und band sie so fest. Dann klappte er das Mückennetz vor dem Eingang aus und legte sich wieder hin. Lange allerdings blieb er nicht liegen, denn ihm war wieder eingefallen, was sie alles bei sich hatten. Er richtete sich mit einem Grinsen auf den Ellbogen auf und griff zu der großen Kühltasche, die hinter ihm an der Zeltwand stand. Er holte zwei langstielige Gläser und eine Flasche heraus. Martina hatte sich ebenfalls aufgesetzt und beobachtete ihn, wie er für sie und sich selbst je ein Glas mit Mumm-Sekt füllte. Die Flasche stellte er wieder in die Kühltasche zurück, bevor er mit Martina anstieß. »Auf unseren ersten Abend«, prostete Dieter.

»Auf unseren ersten Abend«, wiederholte sie, und gemeinsam tranken sie einen Schluck.

Martina erinnerte sich an den ersten Abend, an dem sie bei Dieter gewesen war. Während sie noch bei ihren Eltern wohnte, hatte Dieter, der ein Jahr älter war als sie, bereits eine eigene kleine Wohnung. An diesem Abend hatte er sie von zu Hause abgeholt, weil sie gemeinsam essen gehen wollten. Also fuhren sie zu einem griechischen Restaurant, das Dieter gut kannte, und dort hatte sie sich endgültig in ihn verliebt. Sie hatte zuvor angenommen, es wäre nur eine weitere Schwärmerei, die irgendwann vorbei sein würde, so wie die Sache mit Rolf, aber nun hatte sie erkannt, daß es mit Dieter ganz anders war. Er war all das, was sie an den anderen vermißt hatte. Er hatte Humor, war zuvorkommend und, was das wichtigste war, er hatte noch nicht den Versuch gemacht, sie ins Bett zu kriegen. Es war nicht so, daß sie das nicht wollte, aber die Tatsache, daß er sie nicht drängte, machte ihn so liebenswert.

Nach dem Essen waren sie zu ihm gefahren, weil er eine »kleine Überraschung« für sie hätte. Neugierig sah sie sich in dem kleinen Wohnzimmer um, während Dieter durch eine Tür verschwand, hinter der sie sein Schlafzimmer vermutete. An einer Wand stand ein Fernseher, daneben eine Stereo-Anlage, deren Boxen den Raum von links und rechts einsahen, an der gegenüberliegenden Wand eine Sitzgruppe um einen kleinen Glastisch. Sie setzte sich in einen der Sessel und wartete.

Es dauerte nicht lange, bis Dieter zurückkam. In der Hand hielt er ein kleines Kästchen, das er nun vor sie auf den Tisch legte, während er ihr gegenüber Platz nahm. »Möchtest du es aufmachen?« fragte er.

Anstelle einer Antwort nahm sie das kleine Kästchen und öffnete es behutsam. Darin funkelte ein schmaler Silberring in einem dunkelblauen Samtkissen. »Ist der für mich?« fragte sie, als sie ihn aus dem Kistchen holte und sorgfältig betrachtete.

»Ja, ich hoffe er gefällt dir.«

»Er ist wunderschön.« Sie steckte ihn an den Finger.

Dieter stand auf und ging zur Stereo-Anlage. Er legte eine CD ein, und Augenblicke später erklangen leise die ersten Akkorde von Phil Collins' In the Air tonight, während Dieter in die Küche ging und mit einer Flasche und zwei Gläsern zurückkam. Auch an jenem Abend war es Mumm-Sekt gewesen, und sie erinnerte sich noch genau an die perfekte Mischung aus Musik, Licht und Liebe, die dem Abend eine knisternde Atmosphäre gebracht hatte. In der Nacht, nachdem er sie nach Hause gebracht hatte und sie alleine im Bett lag, zehrte sie von dieser Atmosphäre und sehnte sich nach dem nächsten Besuch bei ihm.

Sie leerten ihre Gläser, und als die erste Kühle der Nacht hereinbrach, zog Dieter die Reißverschlüsse des Zelteinganges zu. Später, als sie sich zum Schlafen hinlegten, war es im Zelt wieder so heiß wie am Nachmittag.

3.

Sie schliefen bis weit in den Tag hinein. Martina erwachte zuerst, und so bemerkte sie auch als erste, daß das Thermometer in ihrem Zelt bereits fünfundzwanzig Grad anzeigte. Die Luft war stickig, und Martina öffnete den Reißverschluß des Ausgangs. Angenehm frische Luft strömte herein und weckte Dieter sanft. Das erste, was er sah war, daß Martina mit dem Kopf voran aus dem Zelt lugte. Er hob leise seine linke Hand und griff ihr dann plötzlich an den Hintern. Sie stieß einen kurzen Schrei aus und drehte sich hastig um. Ihre Augen blitzten, und sie stürzte sich auf ihn.

»Wie kannst du es wagen, mich am frühen Morgen so zu erschrecken!« rief sie entrüstet, und sie mußte ihre ganze Kraft aufwenden, um Dieters Hand unter Kontrolle zu bekommen. Er bekam sie jedoch zu fassen und zog sie mit dem Rücken an sich, wobei er den rechten Arm besitzergreifend um sie legte. Dann blickte er auf seine Armbanduhr.

»Für den frühen Morgen ist es allerdings sehr spät«, meinte er und strich ihr mit der anderen Hand leicht durchs Haar. »Es ist schon halb eins durch.«

Eine Viertelstunde später breiteten sie ihre Decke vor dem Zelt aus und frühstückten. Der Tag versprach sehr heiß zu werden, und so beschlossen sie, in der Stadt noch ein paar Flaschen Mineralwasser für ihre Wanderung mitzunehmen. Also fuhren sie nach dem Frühstück wieder in den Ort und kauften ein.

Kurz vor zwei Uhr verließen sie dann mit Proviant in ihren Rucksäcken den Zeltplatz, um in dem nahegelegenen Wald eine Wanderung zu machen. Die Temperatur hatte jetzt dreißig Grad erreicht, und der Himmel war wolkenlos. Gelegentlich spendete eine leichte Brise etwas Abkühlung, die die beiden dankbar entgegennahmen. Bis zum späten Nachmittag folgten sie dem Sandweg, der sie durch den Wald führte, bevor sie auf einer Bank rasteten. Überall um sie herum waren die Geräusche des Waldes zu hören. Vögel zwitscherten, der Wind spielte mit dem trockenen Laub, und ab und zu hörten sie, wie ein kleines Tier durch das Unterholz hastete. Martina hatte bereits eine Flasche ihres Vorrates geleert und brach gerade die zweite an, als der Wind plötzlich merklich kühler und der Himmel eine Schattierung dunkler wurde. Sie blickten sich fragend an. Bis vor ein paar Minuten hatten sie noch klaren Sonnenschein. Mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch erhob sich Martina, und gemeinsam gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Wenn sich tatsächlich ein Schauer näherte, würden sie allerdings niemals den Weg rechtzeitig zurück schaffen.

Die ersten Regentropfen fielen zehn Minuten später. Zuerst kamen sie nur vereinzelt, kurz darauf aber entwickelte sich der Regen zu einem wahren Wolkenbruch. Dieter und Martina suchten unter den Bäumen des Waldes Schutz, aber auch dort waren sie vor den Regentropfen nicht sicher. In einiger Entfernung machte Dieter einen dunklen Schatten im Wald aus; er sah noch einmal genauer hin. Dort war eine Höhle.

»Komm, Martina«, drängte er. »Da hinten können wir uns unterstellen.« Hastig eilten sie durch den Wald. Völlig durchnäßt erreichten sie den Eingang der Höhle. Vor ihnen fiel der Regen in dichten Schleiern zur Erde.

Bei genauerer Betrachtung entpuppte sich die Höhle als ein simples Loch, das in eine Anhöhe hineingegraben worden war. Der Sandboden unter ihren Füßen war noch feucht, und gelegentlich kamen ein paar Klumpen loser Erde von der Decke. Haarige Wurzeln kleiner Pflanzen hingen von oben herab, der Geruch nach feuchtem Torf beherrschte den Ort. Überall lagen Aststücke herum, die von kleinen Bäumen stammten, und auch eine Menge finger- bis faustgroßer Steine waren zu finden. Diese Höhle konnte noch nicht lange bestehen. Egal, dachte Dieter, solange wir hier den Regen abwarten können.

Die Tropfen fielen nun in stetigem Strom, es bestand wenig Aussicht, daß sich das Wetter vor einer Stunde bessern würde. Martina fröstelte in ihren feuchten Sachen und Dieter bot an, aus den Ästen ein kleines Feuer zu machen. Sie stimmte zu und sammelte Steine auf, um eine Feuerstelle zu bauen. Dieter schichtete die Äste zu einem ordentlichen Haufen auf und legte etwas Papier hinein, das er als Zunder benutzte. Bald brannte ein helles Feuer, das die Höhle wärmte.

Martina war es in ihren klammen Klamotten entschieden zu unbequem, so zog sie sich kurzerhand aus und breitete ihre Sachen über ihrem Rucksack zum Trocknen aus. Dieter, den diese Idee zu faszinieren schien, entledigte sich ebenfalls seiner Kleidung und folgte Martinas Beispiel.

»Ich glaube, das ist der richtige Moment, um die Kartoffeln zu backen«, schlug Martina vor. »Wir packen sie in Folie und werfen sie ins Feuer. Das haben wir als Kinder immer gemacht.« Während sie sprach, holte sie die Packung mit der Alufolie heraus, und Dieter suchte nach den Kartoffeln. Kurz darauf lagen sechs kleine glänzende Pakete in der Glut. Dieter legte noch ein paar Äste nach. Immer wieder blickte er zu seiner Freundin hinüber, und jedesmal stellte er fest, wie sehr der flackernde Schein des Feuers auf ihrer Haut ihn reizte. Er stand auf und ging zu ihr hinüber um sich neben sie zu setzen. Mit seiner rechten Hand umfaßte er ihre Schultern, und sie lehnte sich an ihn. Er genoß das leise Kitzeln ihrer Haare auf seiner nackten Brust und die sanfte Umarmung. Eine halbe Stunde lang saßen sie da und blickten ins Feuer.

»Ich finde, das ist das Beste, was ich in meinem Leben gegessen habe«, erklärte Dieter, der gerade in eine fertig gebackene Kartoffel biß. »Irgendwie paßt das alles zusammen.«

»Ja«, stimmte Martina zu. »Es gibt für ein Lagerfeuer nichts besseres als das hier. Weißt du, ich finde, das mit dem Regen war vielleicht doch nicht so schlimm.« Ihre leuchtenden Augen blickten in die seinen. »Noch nie hat mir ein Lagerfeuer so gut gefallen wie dieses.«

»Mir geht's genauso.« Sie zogen sich wieder an, da ihre Sachen bereits getrocknet waren. »Das ist eine komische Höhle hier, oder. Es sieht irgendwie aus wie in einem großen Kaninchenloch oder so was. Jedenfalls ist hier überall nur Erde, als wäre der Gang direkt in den Boden gegraben worden.«

»Außerdem scheint er recht lang zu sein«, ergänzte Martina, während sie auf den weiterführenden Tunnel wies. »Jedenfalls scheint das Feuer nicht bis dahin.«

Dieter stand auf und löschte die kleinen Flammen mit ein paar Handvoll feuchter Erde. »Zumindest regnet es nicht mehr. Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen, sonst wird es dunkel bevor wir zurück sind.«

Sie gingen durch den regennassen Wald wieder auf den Weg zu, den sie vor knapp zwei Stunden verlassen hatten. Hier und da hatten sich recht große Wasserpfützen gebildet, und sie umgingen sie, um nicht wieder nasse Füße zu bekommen. Langsam aber stetig schwand das Licht und sie waren heilfroh, als sie ihr Zelt noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichten.

4.

Ziemlicher Aufruhr weckte Martina mitten in der Nacht. Draußen waren aufgeregte Stimmen zu hören. Eine scheinbar recht große Anzahl von Leuten leuchtete mit Taschenlampen umher, und leise war das Weinen eines kleinen Mädchens zu hören. Martina richtete sich auf und beugte sich zum Reißverschluß vor. Sie öffnete ihn so leise wie möglich, damit Dieter nicht wach wurde und blickte hinaus.

Draußen liefen tatsächlich mehr als zehn Menschen herum, die mit ihren Taschenlampen den Campingplatz ableuchteten. Die meisten der Leute hielten sich am weiter entfernten Ende des Platzes auf, aber eine kleinere Gruppe arbeitete sich in ihre Richtung vor. Martina beschloß, Dieter zu wecken und dann nachzusehen, was da genau los war.

»Dieter. Wach auf!« Sie schüttelte ihn leicht, bis er einen Ton von sich gab und sich zu ihr herumdrehte.

»Was ist denn? Warum-« Er unterbrach sich, als er der vielen Stimmen gewahr wurde. »Was zum Teufel ist denn da draußen los?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Martina. »Ich dachte, wir sollten uns mal umsehen.«

Minuten später kletterten sie aus dem Zelt heraus. Die Leute waren inzwischen bei ihrem Zelt angekommen und leuchteten in das Gebüsch dahinter. Dieter ging zu ihnen hinüber.

»Entschuldigen Sie«, wandte sich Dieter an einen der Männer. »Können Sie mir vielleicht sagen, was hier los ist?«

Der Mann drehte sich um und musterte ihn genau. Dieter wollte gerade protestieren, als er die Polizeiuniform erkannte, die der andere trug. »Ist das Ihr Zelt?«

»Ja, wieso?«

»Haben Sie in der Nacht etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?«

»Nein.«

»Waren Sie die ganze Nacht in Ihrem Zelt?«

»Ja. Warum fragen Sie das alles?«

Der Polizist schwenkte seine Lampe wieder in die Richtung des Gebüsches und wandte sich ab. »Ich würde Ihnen raten, Ihren Urlaub abzubrechen. Hier in der Gegend scheint sich ein Verrückter herumzutreiben. Er hat das Zelt am anderen Ende des Platzes überfallen. Nur ein kleines Mädchen hat es überlebt. Die Eltern allerdings...« Er schwieg und beobachtete angestrengt das Gebüsch, als ob er damit klarstellen wollte, daß er keine Fragen mehr beantworten würde.

Martina und Dieter waren sich darin einig, daß sie dem Rat des Polizisten folgen und den Platz verlassen sollten. Zusammen machten sie sich daran, das Zelt auszuräumen und die Decken im Wagen zu verstauen. Eine halbe Stunde später waren sie bereit aufzubrechen. Dieter schaltete die Scheinwerfer ein und startete den Wagen. Langsam ließ er den Golf über den Platz fahren und verließ das Grundstück durch das Tor. Wieder auf der Straße, beschleunigte er auf fünfzig Stundenkilometer und fuhr die Straße, die am Campingplatz vorbeiführte, entlang. Martina war gerade im Begriff wieder einzudösen, als Dieter plötzlich hart in die Bremsen trat und sie in den Sicherheitsgurt geworfen wurde. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie einen massigen Tierkörper vor sich auf der Straße liegen, wegen dem Dieter gebremst hatte. Es war im Licht der Scheinwerfer nicht zu erkennen, was es für ein Tier war, aber sein Körper nahm die gesamte Breite der zweispurigen Straße ein. Dieter löste seinen Gurt, um aussteigen zu können. Martina folgte.

Als sie ausgestiegen war, erkannte sie, daß sich der Körper bewegte. Das schwarze Fell des Wesens hob und senkte sich, als ob es atmete. Sie machte noch ein paar vorsichtige Schritte nach vorn. Plötzlich wirbelte das Tier herum, so daß Martina in zwei schwarze Augen starrte, die gefährlich in der Nacht blitzten. Sie erstarrte, und konnte sich vor Angst nicht mehr bewegen. Vor ihr bleckte das Wesen die Zähne, zwei mehr als zwanzig Zentimeter lange Schneidezähne blitzten im Scheinwerferlicht des Wagens, dessen Motor noch immer hinter ihr brummte. Ihr Verstand weigerte sich, diesen Anblick zu glauben. Aber es war da. Es sah aus, wie eine riesenhafte Ratte, die ihnen den Weg versperrte. Von ihrer rechten Seite hörte sie Dieter rufen: »Martina! In den Wagen! Schnell!« Sie konnte sich nicht rühren.

Mit einer unglaublich schnellen Bewegung sprang das Ungetüm sie an und riß sie zu Boden. Martina schrie auf. Ihr Kopf schlug auf das Straßenpflaster, und einen Augenblick lang sah sie rote und gelbe Punkte vor ihren Augen tanzen. Als sie wieder bei Besinnung war sah sie, wie Dieter von einer Seite herangerannt kam und sich auf das Tier stürzte. Mit einer beinahe verächtlichen Bewegung seines langen Schwanzes schleuderte es ihn ein paar Meter über die Straße, wo er leblos liegenblieb. Dann wandte sich der Kopf der Kreatur wieder ihr zu. Sie spürte das Gewicht des Körpers auf ihrem und den heißen Atem in ihrem Gesicht. Die langen Zähne glänzten furchteinflößend. Martina wollte schreien, aber ihre Stimme war weg. Sie öffnete stumm den Mund und versuchte sich zu befreien. Ihr Kopf dröhnte. Sie bemerkte, wie ihr Blick verschwamm. »Dieter!«

5.

Um ihn herum war alles still. Nur das leise Brummen eines Motors war zu hören. Er lag auf dem Rücken, und Schmerzen durchzogen seinen Körper. Sein Gesicht brannte, er hatte Mühe, seine Augen zu öffnen. Ein paar Meter weiter stand sein Wagen, die Scheinwerfer strahlten ihn an. Mühsam richtete er sich auf und blickte umher. Er war alleine.

»Martina?«

Er bekam keine Antwort. Er erinnerte sich an die Geschehnisse. Wie lange hatte er hier gelegen? Wo war seine Freundin? Hatte das Tier sie verschleppt? Oder hatte es sie...

Energisch schüttelte er den letzten Gedanken ab. Er mußte sie wiederfinden. Langsam stand er auf und wankte zu seinem Wagen hinüber. Dabei stieß er auf einen kleinen Blutfleck an der Stelle, wo Martina vorher gelegen hatte. Nach kurzem Zögern stieg er in den Wagen und parkte ihn am Straßenrand. Er schaltete die Scheinwerfer ab und nahm eine der Taschenlampen aus dem Handschuhfach, die sie für den Ausflug eingepackt hatten. Dann stieg er wieder aus und betrachtete die Gegend genauer. Ihm war, als wäre er hier schon einmal gewesen. Er versuchte sich zu erinnern. Ja, dies war der erste Teil der Strecke, die Martina und er am vorigen Tag entlanggewandert waren. Mit dieser Erinnerung kam auch der Gedanke an das runde Loch im Wald. »Das ist eine komische Höhle hier, oder. Es sieht irgendwie aus wie in einem großen Kaninchenloch oder so was.« Nun, bestimmt kein Kaninchenloch, eher eine Rattenhöhle. Dieter war sich nun ziemlich sicher, wo er seine Freundin finden würde.

Er brach sofort auf. Seine Taschenlampe hatte er ausgeschaltet, denn das klare Mondlicht genügte ihm, um den Weg zu finden, den sie entlanggegangen waren. Im Wald war es zwar um einiges dunkler als auf der Straße, aber er konnte deutlich den hellen Sandweg ausmachen, der sich durch das Gewirr aus Ästen und Gebüschen schlängelte. Aus allen Richtungen vernahm er die Geräusche des Waldes. Hier raschelte ein kleines Tier durch das Laub, da flatterte ein Vogel erschreckt auf und begann mit lauter Stimme zu schimpfen. Seine eigenen Schritte klangen ihm merkwürdig hohl in den Ohren.

Der Weg schien endlos lang zu sein. Er hatte keine Ahnung, wie weit er gegangen war. Aber er hatte das Gefühl, als wäre er schon mehrere Stunden unterwegs. Doch dann blickte er zum Mond hinauf und erkannte, daß sich dieser nicht sehr viel weiter bewegt hatte. Die Dunkelheit des Waldes und die Monotonie des Weges dehnten die Zeit ins Endlose.

Er war bereits wieder eine ganze Zeit gewandert, als er plötzlich zusammenschrak und auf der Stelle stehenblieb. Vor ihm auf dem Weg lag etwas. Mit bebenden Knien zwang er sich ein paar Schritte weiter. Er richtete die Taschenlampe auf das Ding vor sich und schaltete sie ein. Es war ganz eindeutig ein Tier, aber sein Körper war so grausam entstellt, daß Dieter sich abwenden mußte. Eine Warnung? dachte er. Nein, ich glaube nicht, daß dieses Monster Angst vor mir hat. Er kam zu dem Schluß, daß es sich wohl um eine verschmähte Beute der Kreatur handeln mußte. Er schaltete die Lampe wieder ab und setzte seinen Weg fort.

Endlich kam er an die Stelle, wo er und Martina vor dem Regen in den Wald geflohen waren. Jedenfalls sah dieser Ort so aus. In der Dunkelheit konnte er sich natürlich nicht sicher sein. Aber er beschloß, nun im Wald selber weiterzusuchen. Er hatte gerade zwei Schritte zwischen die Bäume gemacht, als er auch schon die Hand vor Augen nicht mehr sah. Er wartete ein paar Minuten, bis sich seine Augen an die hier noch schwärzere Dunkelheit gewöhnt hatten. Aber auch danach sah er nicht besonders viel. Er würde seine Taschenlampe benutzen müssen, wenn er einigermaßen schnell vorwärts kommen wollte. Dagegen sprach die Tatsache, daß das Wesen ihn dann nicht mehr übersehen konnte. Also entschied er sich für die Dunkelheit. Er mußte halt besonders vorsichtig sein.

Schritt für Schritt tastete er sich durch den Wald, eine Hand vor seinem Gesicht als Schutz vor herausstehenden Zweigen, die andere Hand suchte am ausgestreckten Arm nach Baumstämmen und Gebüschen. So bewegte er sich langsam in die Richtung, in der er die Höhle des Untiers vermutete. Plötzlich trat sein rechter Fuß ins Leere, und er konnte nicht mehr schnell genug reagieren. Er stürzte, konnte sich aber noch mit seiner rechten Hand am Boden abstützen. Ein spitzer Zweig stach in seine Handfläche, und er unterdrückte einen verräterischen Aufschrei. Einen Augenblick verhielt er sich still und lauschte. Außer den normalen Waldgeräuschen war nichts zu hören. Behutsam zog er seinen Fuß aus dem Loch heraus, in das er getreten war und setzte seinen Weg vorsichtig tastend weiter fort.

Er stolperte noch eine ganze Weile voran, bis er ein Geräusch hörte, das nicht zum Wald gehören konnte. Es war das Geräusch eines Steines, der wiederholt auf einen anderen geschlagen wurde. Allerdings war der Rhythmus der Schläge nicht regelmäßig. Es war vielmehr ein gelegentliches Geräusch, niemals genauso laut wie bei dem Mal davor. Dieter folgte dem Geklapper, bis er vor einem großen runden Fleck schwärzerer Dunkelheit stand, von dem das Geräusch ausging. Er hatte die Höhle gefunden.

Leise schlich er sich in den modrigen Gang hinein. Vor sich konnte er leises Kratzen und das gelegentliche Klappern hören. Vorsichtig folgte er dem Tunnel, der tiefer ins Erdreich führte. Er bemerkte, daß der Gang leicht abfiel, und auch die Temperatur ging etwas zurück. In diesem Augenblick hörte er einen anderen Laut, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er hörte das leise Schluchzen einer jungen Frauenstimme. Er erstarrte und mußte sich beherrschen, um nicht sofort loszurennen, blind in das Dunkel, in den Tod. Er atmete tief durch und ging wieder weiter. Das Schluchzen wurde mit jedem Schritt lauter, aber immer noch war er zu weit entfernt, um genaueres ausmachen zu können. Plötzlich verstummte das klappernde Geräusch. Wieder hielt Dieter an. Vor sich vernahm er ein leises Schlurfen, gefolgt von einem Aufschrei, der aber, zu Dieters großer Erleichterung, kein Schmerzensschrei war, und dann war da nur noch Stille. Wieder setzte er sich in Bewegung. Er fühlte, daß er schon sehr nahe war.

6.

Wind wehte ihr ins Gesicht. Heftige Stöße schüttelten ihren Körper. Sie fühlte dichtes Fell um sich, starke Muskeln, die sie festhielten. Sie wagte nicht, ihre Augen zu öffnen. Sie hörte die Krallen des Wesens auf dem Sandweg, wie sie die kleinen Steine fortwirbelten, und einen Atemzug später schwenkte der Körper des Untiers herum. Sie brauchte nur einen Augenblick um zu erkennen, daß sie nun im Wald waren. Zweige und Blätter peitschten ihr ins Gesicht, und sie versuchte, ihren Kopf mit den Armen zu schützen. Aber sie konnte ihre Arme nicht bewegen, so vergrub sie ihr Gesicht in dem dichten Fell des Wesens. Sie hatte furchtbare Angst vor dem, was mit ihr geschehen sollte. Wo wurde sie hingebracht? Wie lange würde sie noch am Leben sein?

Sie erreichten einen weiteren Sandweg, auf dem gerade ein kleineres Tier kauerte. Im Vorüberhasten schlug die Ratte mit ihrer freien Vordertatze aus, und das kleine Wesen flog den Weg entlang. Augenblicke später waren sie schon wieder zwischen den Bäumen.

Den Rest des Weges taumelte sie in einem Zwischending aus Bewußtlosigkeit und Schlaf herum. Sie sah Dieter, wie er leblos auf der Straße lag, die Zähne des Wesens, als es sich zu ihr hinunterbeugte, sie fühlte einen scharfen Schmerz an ihren Hand- und Fußgelenken, und schließlich fühlte sie gar nichts mehr.

Das erste, was sie beim Erwachen spürte war, daß die Schmerzen in ihren Gelenken immer noch da waren. Sie wollte sich bewegen, bemerkte aber, daß sie an Händen und Füßen gefesselt war. Sie lag auf dem Rücken in feuchter Erde, und ihre Arme und Beine waren an vier im Boden steckenden Stäben gebunden. Es herrschte absolute Dunkelheit um sie herum. Neben sich konnte sie hören, wie das riesige Tier in der Erde herumgrub. Gelegentlich schleuderte es einen Stein fort, der mit einem kurzen Klacken auf einem scheinbar bereits beträchtlichen Haufen landete. Martina versuchte, sich aus den Fesseln zu befreien, aber sie bemerkte schon sehr bald, daß es keinen Sinn hatte. Also beschloß sie, sich ruhig zu verhalten, um die Aufmerksamkeit des Tieres nicht zu erregen. Eine Ewigkeit später, so schien es ihr zumindest, hörte das Tier mit dem Graben auf. Plötzlich fühlte sie, wie sich etwas um ihren Hals legte, und sie stieß einen Schrei aus. Einen Augenblick später war es verschwunden, und Martina versuchte, die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Sie hörte, wie sich das riesige Tier neben ihr auf den Boden legte und einschlief.

Sie wartete etwa fünf Minuten, bevor sie erneut versuchte, die Fesseln zu lösen. Ihre Gelenke taten ihr weh, und die Muskeln in ihren Armen und Beinen waren verkrampft. Bei jeder Bewegung durchzuckten sie Schmerzen. Sie mußte sich sehr beherrschen, um nicht laut aufzuschreien. Eine Zeit lang lag sie wieder reglos da, bis sie ein paar schlurfende Schritte hörte. Sie spannte sich an und lauschte. Es waren eindeutig die Schritte eines Menschen. Dann hörte sie ein Flüstern: »Tina? Bist du hier?«

Die Erleichterung, die sie in diesem Augenblick empfand, war mit nichts zu vergleichen. Dieter hatte sie gefunden. Sie versuchte, trotz ihrer aufgewühlten Gefühle leise zu sprechen. »Ja, sei leise. Ich bin hier vorne.«

Sie hörte weitere Schritte, und dann spürte sie, wie sich jemand an ihren Fesseln zu schaffen machte, bis sie endlich wieder frei war. Sie versuchte sich aufzurichten, konnte aber ihre mißhandelten Muskeln nicht unter Kontrolle bringen. »Dieter, ich kann nicht aufstehen.«

Sie spürte, wie sie hochgehoben wurde und Dieter sie auf dem Weg nach draußen stützte. Sie roch die frische Luft des Waldes und spürte das weiche Laub unter ihren Füßen. Irgendwie hatte sie ihre Schuhe verloren, und Dieter mußte sie bis zum Weg tragen, damit sie sich nicht an einem Zweig verletzte. Mittlerweile war der Morgen angebrochen, und die ersten schwachen Sonnenstrahlen erhellten den Wald. Martina und Dieter beeilten sich, so schnell wie möglich wegzukommen. Endlich konnten sie vor sich den Waldrand sehen, wo der Feldweg in die Straße mündete, auf der immer noch Dieters Wagen stand. Mit letzter Kraft schleppte Martina sich die restliche Strecke vorwärts und ließ sich erschöpft auf den Sitz fallen. Dieter stieg auf der anderen Seite ein und startete den Wagen. Sie beide hatten nur einen Wunsch: weg von hier!

Gerade als Dieter anfahren wollte, prallte etwas gegen die Beifahrerseite des Wagens. Der Golf wurde angehoben und auf die Seite gerollt. Martina schrie. Dieter hielt sich krampfhaft fest, um nicht aus dem Sitz zu fallen. Von draußen war ein gieriges Zischen zu vernehmen. Dann zersplitterte plötzlich das Fenster auf der Beifahrerseite, und die Scherben regneten auf Dieter hinab. Er versuchte, sich mit einem Arm zu schützen, verlor dabei den Halt und fiel mit dem Rücken auf die Tür. Einen Augenblick lang blieb ihm die Luft weg. Ein bepelzter Arm griff nach Martinas Hals und hielt sie fest. Ihr Schrei erstickte. Dieter versuchte sich aufzurichten, aber sein Rücken hatte scheinbar ernstere Verletzungen davongetragen. Mit einem Aufschrei sank er zurück.

Martina bekam keine Luft mehr. Sie versuchte, die krallenbewehrte Klaue von ihrem Hals zu lösen, doch ihre Kräfte nahmen rapide ab. Schon bald tanzten ihr schwarze Punkte vor den Augen herum, und ihre Lungen schienen bersten zu wollen. Als sich mit einem Mal der Griff um ihren Hals lockerte, begriff sie nicht, wie das geschehen konnte. Dann knallte ein weiterer Schuß, und das Monster gab ein schrilles Quieken von sich. Der Arm zog sich zurück, woraufhin Martina sich sanft zu Dieter hinuntergleiten ließ. Sie versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Weitere Patronen wurden abgefeuert, und immer wieder war der Schrei des Wesens zu hören. Schließlich war es still.

Wenig später erschien der Kopf des Polizisten, der sie gestern abend gewarnt hatte, vor der Windschutzscheibe. Seine Pistole gab noch immer leichte Rauchfahnen ab. Sein Gesicht zeigte Unglauben. Gleich darauf war ein kurzes Rumpeln zu hören, und die Beifahrertür schwang nach oben auf. »Sind Sie in Ordnung?« fragte der Beamte. Nachdem beide genickt hatten half er ihnen, aus dem Wagen zu klettern. Dieter kam zuerst an die Reihe, da er wegen seines verletzten Rückens Martinas Hilfe benötigte. Wenige Sekunden später erschien der Polizist wieder an der Tür und half ihr heraus.

Schließlich standen Martina und Dieter Hand in Hand vor dem umgestürzten Wagen und betrachteten die still daliegende Kreatur. Plötzlich hob das Tier seinen Schwanz, und beinahe im selben Augenblick erklang ein weiterer Schuß. Martina vergrub ihren Kopf an Dieters Brust und begann zu weinen.

ENDE