Linnet
(Eine Kurzgeschichte von Dario Abatianni (C)31.03.1993)
Schritte hallten, dunkle Schatten huschten, ein Abfalleimer klapperte, als ein Mann etwas hineinwarf und den Deckel zuknallte. Ängstlich zuckte Linnet mit den Barthaaren und wartete, daß die nächtliche Stille in die Gasse zurückkehrte. Der Mann entfernte sich langsam, und Linnet beeilte sich, zu dem Abfallhaufen zu kommen, der sich neben der großen Mülltonne auftürmte. Er hatte nie ganz verstanden, warum die Menschen manche Dinge hineinwarfen und andere daneben liegen ließen. Aber das konnte ihm ja nur recht sein, denn so kam er heute wieder zu einem reichlichen Abendessen. Das heißt, wenn ihm keiner zuvorkam und das Beste wegschnappte. Nicht zum ersten Mal ärgerte er sich über seine Winzigkeit, die ihm seinen Namen eingebracht hatte, aber auch klein zu sein hatte seine Vorteile. Sicher, man mußte ziemlich aufpassen, wohin man seine kleinen Pfoten setzte, aber dafür kam er durch jedes kleine Loch in einer Mauer oder zwischen zwei großen Gegenständen, wenn er mal auf der Flucht war, was ihm nicht selten passierte. Deshalb trippelte er mit flinken Schritten an die Stelle, wo vor ein paar Augenblicken noch der Mann gestanden hatte und begann, den Haufen nach Eßbarem zu untersuchen. Er fand ein paar Salatblätter und eine Menge weggeworfenes Gemüse, das ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Geschickt nahm er ein großes Stück einer Mohrrübe zwischen die Zähne und huschte damit zurück in sein Versteck, um es dort in aller Ruhe zu verspeisen.
Nachdem er endlich satt war, das erste Mal in der letzten Zeit, suchte er sich einen bequemen Schlafplatz, um die restliche Nacht zu verbringen. Eine ausgefranste alte Matratze lud ihn zu einem Nickerchen ein, und er grub sich dankbar in ihre warme Wolle. Sekunden später war er eingeschlafen.
Linnet blinzelte in der hellen Morgensonne, die in die Gasse hineinschien. Prüfend zuckte seine feine Nase in der Luft, aber er konnte nichts Ungewöhnliches ausmachen. Vorsichtig, immer auf der Hut vor Katzen oder ähnlichen unfreundlichen Wesen, verließ er seine Schlafstätte und begann, an den Häuserwänden entlangzuhuschen, bis er den Eingang zum unterirdischen Kanalsystem fand und dort hineinschlüpfte. Er hatte nur wenige hundert Schritte getan, als eine massige Gestalt ihm den Weg versperrte. Linnet erstarrte wo er war und schnupperte voraus.
»Verzieh dich, Kleiner, aber ein bißchen dalli«, warnte die struppige braune Ratte und bleckte die langen gelben Nagezähne.
»Oh, ich glaube, ich muß irgendwo falsch gelaufen sein«, versuchte Linnet sich zu verteidigen. »Ich wollte nicht stören. Ich bin schon wieder weg.« Er wirbelte herum und huschte den Weg zurück, den er gekommen war. Leider hatte er in der Eile seinen langen Schwanz vergessen, und so erhielt sein Gegenüber einen Schlag ins Gesicht, als Linnet sich umdrehte. Als er das wütende Fluchen des anderen hinter sich hörte, beeilte er sich, davonzukommen. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihm, daß er wohl zu langsam war, denn nach und nach holte der ruppige Kerl auf. Panisch äugte Linnet nach möglichen Verstecken oder schmalen Löchern, aber hier schien es keine zu geben. Er konnte nichts tun als rennen, rennen und rennen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die große Ratte den Kleineren eingeholt hatte. Linnet spürte einen Schlag an seiner linken Flanke, und er wurde Hals über Kopf in die Abwasserrinne geschleudert. Als er prustend und nach Luft schnappend wieder auftauchte, hörte er nur noch das dröhnende Lachen der Ratte, als er gemächlich den Kanal hinuntertrieb, glücklicherweise in die richtige Richtung.
Linnet ließ sich treiben bis er sicher war, daß er ohne Gefahr aus dem Wasser kommen konnte und paddelte mit schnellen Schlägen seiner Füße zum Rand der Rinne. Dort zog er sich aus dem Wasser und ruhte sich einen Moment aus. Er stank erbärmlich, aber das mußte er eben ertragen. Erst einmal machte er, daß er wegkam. Glücklicherweise herrschte nun die warme Jahreszeit, und er konnte sich wohl irgendwo draußen einen warmen Platz suchen, an dem er sein graues Fell trocknen konnte. Er lief noch eine Weile durch die Kanalisation, bis er endlich an einen Ausgang kam, an dem das Rohr in einen flachen Fluß mündete. Dort krabbelte er an ein grasbewachsenes Ufer und setzte sich in die Sonne. Während er die warmen Strahlen genoß, beobachtete er die Menschen, die am anderen Ufer entlangspazierten und offensichtlich genausoviel Freude an der Wärme hatten, wie er. Als sein Fell endlich einigermaßen trocken war, putzte er sich gründlich und machte sich wieder auf den Weg. Zuerst suchte er in der näheren Umgebung um das Rohr herum nach etwas Futter, da er aber dort nichts finden konnte, kletterte er auf den Rand der Öffnung und ließ sich hineinrutschen, um sein Fell diesmal trocken zu halten. Langsam schlenderte er den Kanal entlang und suchte sich seinen Weg in die Innenstadt, wo er sich einigermaßen Zuhause fühlte. Zuhause. Ja, das hatte er sich immer gewünscht. Die meisten der anderen Ratten lebten in einem Rudel, manche waren über achtzig Tiere groß. Nur er konnte nie Zugang zu einem dieser Rudel erreichen, dafür war er einfach nicht stark genug. Seit seine Gruppe bei einer großen Ausrottungsaktion beinahe vollständig ums Leben kam, waren nur er und Spotty, ein guter Freund von ihm, mit einigermaßen heiler Haut davongekommen. Aber dann hatten sie eine Begegnung mit dieser verdammten rotgetigerten Straßenkatze, und sie hatten sich seitdem aus den Augen verloren. Linnet fehlte der leichte Humor seines Freundes, der ihn immer wieder aufgeheitert hatte, besonders jetzt hätte er ihn gut gebrauchen können.
Na ja, es war wohl unnötig, solchen Überlegungen nachzuhängen, das störte nur die Konzentration. Und das konnte tödlich sein. Also setzte er energisch einen Fuß vor den anderen und zählte seine Schritte, um auf andere Gedanken zu kommen.
Als er den Kanal durch einen kleinen Tunnel verließ, war es bereits Mittag geworden, und die Stadt war voller Menschen. Flink huschte Linnet in ein kleines Gebüsch und von dort aus in eine schmale Seitengasse, in der es wesentlich ruhiger zuging. Dort fand er auch recht bald ein Plätzchen, an dem er sich ausruhen konnte und rollte sich zu einer kleinen pelzigen Kugel zusammen.
Er schreckte auf, als er brutal zur Seite gestoßen wurde. Sofort war er hellwach und rannte ein paar Schritte, bis er innehielt und zurückblickte. Eine größere Ratte, etwa dreimal so groß wie Linnet, blickte ihn aus ihren schwarzen Augen drohend an. »Was hast du hier zu suchen? Das ist mein Schlafplatz.«
»Das konnte ich ja nicht wissen«, entgegnete Linnet mit fester Stimme, die seine Angst zu verbergen suchte. Und ein wenig ironisch fügte er hinzu: »Es stand ja nirgendwo ein Name drauf.« Im nächsten Augenblick war er um eine Hausecke verschwunden und wartete auf die Geräusche einer Verfolgung, aber es blieb still. Statt dessen hörte er leises Gelächter. Verdutzt hielt er inne und schlich zur Ecke zurück. Er spähte herum und sah den anderen, wie er es sich in seiner Schlafmulde bequem machte. In seinen Augen blitzte etwas wie Humor auf, das gar nicht zu seinem ernsten Verhalten passen wollte. Dann legte sich die große Ratte hin und Linnet war sicher, daß er schon bald tief und fest schlief. Vorsichtig schlich er sich näher heran, nachdem er einige Zeit lauschend und beobachtend an der Hausecke verbracht hatte. Der andere rührte sich nicht. Er machte noch ein paar Schritte, aber immer noch regte sich nichts. Linnet beschloß, sich in der Nähe einen Platz zu suchen, denn vielleicht hatte der große Kerl ja eine versteckte Futterstelle oder so etwas. Jedenfalls schien er nicht zu einem Rudel zu gehören, und das weckte seine Neugier am meisten. Nach kurzer Suche fand er einen gemütlichen Fleck und legte sich hin.
Es war schon Abend, als sich der Körper der großen Ratte bewegte. Linnet war nur Augenblicke vorher aufgewacht, weil die Schritte eines Menschen gefährlich nahe an seinem Schlafplatz vorbeigelaufen waren. Den anderen schien es allerdings nicht sonderlich zu beunruhigen, denn als er endlich aufwachte, waren die Schritte längst weit weg. Linnet beobachtete seinen Gegenüber, wie dieser sich streckte und herzhaft gähnte. Nachdem er sein Fell geschüttelt und ein wenig glattgestrichen hatte, brach er so plötzlich auf, daß Linnet ihn beinahe aus den Augen verloren hätte. Er wanderte scheinbar ziellos durch verschiedene Gassen und Hinterhöfe, bog mal hier, mal dort ab, und immer war Linnet hinter ihm. Sie waren schon eine beträchtliche Strecke gelaufen, als der andere endlich vor einem großen Lattenzaun Halt machte. Er schien dort etwas zu suchen, und als er es gefunden hatte, rannte er ein kleines Stück an den Brettern entlang und schlüpfte durch ein kleines Loch in Bodennähe. Einen Augenblick später war er außer Sicht.
Linnet wartete einen Moment und näherte sich dann vorsichtig dem Loch. Ängstlich riskierte er einen Blick durch den Zaun und entdeckte ein Paradies. Hinter dem Zaun erstreckte sich ein weitläufiger Hof, in dem zahlreiche Holzkisten herumstanden. Die Kisten waren offen und so konnte Linnet deutlich die dort gelagerten Fleisch- und Obstvorräte sehen, die wohl einer ganzen Rattenkolonie ein Jahr lang Futter bescheren konnten. Jetzt, im weißen Licht der Hoflampen, sahen die Kisten sehr verlockend aus, und Linnet huschte auf die andere Seite des Zaunes.
»Dachte ich's mir doch«, vernahm er eine Stimme hinter sich, und Augenblicke später wurde er zu Boden gedrückt, er konnte sich nicht mehr wehren. »Du glaubst wohl, du könntest den alten Streuner so leicht überlisten, was? Ich hatte von Anfang an das Gefühl, daß mir einer an den Fersen hängt, und mich wundert kaum, daß es sich dabei um dich handelt. Ich war wohl vorhin nicht deutlich genug gewesen. Aber weil ich kein Freund unnötiger Gewalt bin, gebe ich dir noch eine Chance. Zisch ab, bevor ich es mir noch anders überlege.«
Nachdem Linnet wieder frei war, wischte er durch das Loch nach draußen. Wieder hörte er das seltsame Lachen des Fremden, und auch dieses Mal konnte er nicht anders, als sich umzudrehen und langsam zu dem Loch im Zaun zurückzukehren. Streuner war noch da. Seine Augen blitzten ihm eine stumme Warnung zu, als Linnet seinen Kopf abermals durch das Loch steckte. Diesmal nahm er sich vor, nicht klein beizugeben, zumal dort genug Futter war. So setzte er eine Pfote auf den Hof hinter dem Zaun und wartete auf Streuners Reaktion. Zu seiner Überraschung setzte dieser ein leichtes Grinsen auf und wandte sich ab.
»Na gut, meinetwegen komm mit«, sagte er, während er sich entfernte, »du gibst ja sonst sowieso keine Ruhe.« Linnet traute seinen Ohren nicht, aber er folgte dem alten Streuner bis zu einer der Kisten, deren Inhalt im künstlichen Licht verlockend schimmerte. Ohne zu zögern sprang Streuner an den Holzplanken hinauf und war schon über dem Rand der Kiste verschwunden, bevor Linnet wußte, was geschehen war. Flink krabbelte er hinterher und fand den anderen, wie er sich genüßlich über ein Stück Fleisch hermachte, das in einem durchsichtigen Material eingepackt war. Fasziniert beobachtete er ihn, wie er geschickt mit den Zähnen einen Riß schnitt und das herrliche Aroma des Fleisches herausströmte.
»Darf ich mir auch etwas nehmen?« fragte Linnet. »Darf ich? Ja?«
»Nimm dir, was du willst, aber mach keinen Krach«, erwiderte der Streuner, ohne ihn anzusehen. Voller Freude begann Linnet, eine der Verpackungen mit seinen Zähnen zu bearbeiten, wie er es bei seinem Gegenüber gesehen hatte. Als er endlich ein ausreichend großes Loch geschaffen hatte, stürzte er sich auf das willkommene Festmahl und fraß sich satt. Der Streuner fraß langsamer, aber insgesamt verputzte er beinahe die doppelte Menge. Linnet war bereits damit fertig, sich sein Fell zu putzen, als der andere endlich zu fressen aufhörte und sich ebenfalls zu waschen begann. Geduldig wartete der jüngere, bis Streuner fertig war. Linnet war für sein Alter sehr klein geblieben. Er erlebte bereits sein drittes Halbjahr und war schon voll ausgewachsen. Dennoch war er höchstens halb so groß wie die anderen Ratten seines Alters. Deshalb fühlte er sich in der Gegenwart des Streuners besonders klein, denn dieser war gut eine Kopflänge größer als die anderen Ratten, die er kannte, sogar noch größer als der bullige Kerl, der ihn gestern in der Kanalisation ins Wasser gestoßen hatte. Wäre Streuner da schon bei ihm gewesen, hätte es sich der Idiot gewiß zweimal überlegt, bevor er ihn angegriffen hätte. Streuner hätte ihm sicher geholfen. Hätte er das? Er hatte ihn zwar an seinen Futterplatz gelassen, aber mußte das bedeuten, daß er ihn beschützen würde? Linnet bezweifelte das. Sicher wollte er nur seine Ruhe haben und hatte ihm deshalb erlaubt, hier zu fressen. Er mußte sich wohl oder übel damit abfinden, daß ein Winzling wie er es war, keinen so großen und starken Freund haben konnte, auch wenn er es sich sehr wünschte.
Sie saßen noch einige Zeit still auf der Kiste, bis der Streuner endlich aufstand und auf den Boden hüpfte. »Machs gut, Kleiner. Laß dich nicht unterkriegen.« Schon huschte er über den Hof und war bald im Halbdunkel verschwunden.
Linnet sprang auf und quiekte: »Warte! Streuner! Ich komme mit! Warte doch!« So schnell er konnte, hastete er hinterher, aber der Streuner war schon nicht mehr zu sehen. Enttäuscht hielt er kurz hinter dem Loch an und blickte in die leere Gasse vor sich. Er meinte ein leises Lachen zu hören, aber das konnte er sich ebensogut eingebildet haben. Traurig wanderte er an den Holzbrettern entlang und suchte sich einen Schlafplatz unter einem Dornengebüsch. Kurz bevor er einschlief kam ihm der Gedanke, daß er morgen nur zum Futterplatz gehen brauchte, und er würde den Streuner wahrscheinlich wieder treffen. Aber ob dieser das so gut fand?
Am nächsten Abend war Linnet wieder an der Futterstelle, aber der Streuner war nirgends zu sehen. Er stillte seinen Hunger in einer Obstkiste, wo er eine Menge schmackhafter Früchte fand und reicherte sein Mahl mit ein paar Nüssen an, die er in einer anderen Kiste fand. Danach wanderte er über den großen Platz und hielt nach Streuner Ausschau, aber er konnte ihn nicht finden. Wahrscheinlich war das nicht Streuners einziger Futterplatz, und heute fraß er wohl ganz woanders. So beschloß er, an den nächsten Abenden wieder hierher zu kommen. Zumindest würde er in der nächsten Zeit nicht mehr hungern, soviel hatte ihm die Begegnung mit dem anderen jedenfalls schon mal eingebracht.
Aber in den darauffolgenden fünf Tagen sah er keine Spur von der alten Ratte, nicht einmal die Schwanzspitze. Linnet hatte sich mittlerweile damit abgefunden, daß er den Streuner wohl nie wiedersehen würde. Also wanderte er nachts in der Gegend herum und suchte Zerstreuung, indem er gelegentlich ein paar Mäuse erschreckte, die wenigstens kleiner waren als er, und abwechselnd schlief und fraß. Die Tage schleppten sich dahin, und mehr denn je wünschte Linnet sich Gesellschaft und sei es nur jemand wie der Streuner, ruppig zwar, aber auf seine Art auch freundlich.
Am nächsten Abend erlitt er einen kleinen Schock, als er bemerkte, daß die Kisten verschwunden waren und er statt dessen einen leergeräumten Hof vorfand. Er war verzweifelt. Seine beste Nahrungsquelle war nun einfach verschwunden! Was sollte er nun machen? Er hatte sich so an das reichliche Futter gewöhnt, daß er beinahe vergessen hätte, wo er sich sonst sein Futter besorgen könnte. Als er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte, wanderte er in eine der Gassen hinein und hielt mit seiner scharfen Nase Ausschau nach etwas Eßbarem. Er stillte schließlich seinen Hunger an einem kleinen Haufen weggeworfener Pommes Frites und seinen Durst an einer Pfütze, die sich während des Regens am Nachmittag hier angesammelt hatte.
Auf dem Weg zurück zu seinem neuen Schlafplatz erblickte er vor sich eine Katze, die an den Mauern der Häuser entlangstrich. Sofort blieb er stocksteif stehen und wagte kaum zu atmen, denn jede Bewegung würde seinen sicheren Tod bedeuten. Zitternd wartete er, während der Kater gemütlich von einer Seite zur anderen schlenderte und in aller Ruhe die Abfallhaufen durchwühlte, die hier sehr zahlreich herumlagen. Wieder wünschte Linnet sich die Unterstützung eines ganzen Rudels, denn dann wären sie sofort in zehn verschiedene Richtungen davongelaufen und der Kater hätte sich nicht für eine von ihnen entscheiden können. So aber konnte er nur in eine einzige Richtung rennen, und da war es klar, für welche Richtung sich die Katze entscheiden würde. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis die Katze außer Sicht war. Leider schien es der Kater nicht sehr eilig zu haben. Er setzte sich auf eine der Mülltonnen und begann, sich ausgiebig zu putzen. Das konnte dauern, wie Linnet wußte, aber er wußte ebenfalls, daß die meisten Katzen von dieser Beschäftigung so eingenommen waren, daß sie eine kleine Bewegung nicht bemerkten. Vorsichtig wagte er sich ein paar Schritte vor, um freie Bahn zur Flucht zu haben. Der Kater wusch sich weiter. Er hatte ihn noch nicht bemerkt. Noch ein Stück vor, ein weiterer Blick zu der Katze, und immer weiter. Jetzt hatte Linnet nur noch die leere Gasse vor sich und machte sich zur Flucht bereit. Sein Herz klopfte wild in seinen Ohren als er loslief.
Bruchteile von Sekunden später hatte ihn die Katze erspäht. Linnet hörte ihren Jagdschrei dicht hinter sich und das leise Klicken der Krallen auf dem Steinpflaster. Angst durchflutete ihn, als er weiterrannte. Er mußte ein schützendes Gebüsch oder ein kleines Loch in einer Mauer erreichen, denn auf lange Strecken war der Kater wahrscheinlich schneller als er. Linnet huschte unter ein paar Kartons, die in einer Nische aufeinandergestapelt waren und versuchte, sich dort zu verstecken. Wenige Augenblicke vergingen, bis er die ersten Kratzgeräusche hörte. Dann sah er eine Pfote unter dem Rand des Kartons hervorschnellen, und instinktiv zog er sich bis an den hinteren Rand seines Versteckes zurück, wo ihn die Krallen nicht erreichen konnten. Leider würde es nicht lange dauern, bis der Karton entzweiriß und er wieder um sein Leben laufen mußte. Er entschied sich dafür, selbst für einen Ausweg zu sorgen und begann, so schnell er konnte an der hinteren Wand des Kartons zu nagen. Dieses unerwartete Geräusch ließ die Katze einen Augenblick innehalten, dann hörte Linnet, wie sie den Karton umrundete und auf seiner Seite nun ebenfalls zu kratzen begann.
Mist, dachte er, und zog sich wieder zurück. Wieder kamen die Klauen der Katze in sein Versteck hinein, aber diesmal hatte Linnet einen Ausweg. Er huschte so leise er konnte durch das Loch hindurch, wo er hineingekommen war und rannte dann wieder durch die Gasse. Unglücklicherweise hatte der Kater Linnets Flucht bemerkt und war ihm schon wieder auf der Spur. Sekunden später sah er die Tatze seines Feindes auf sich zuschnellen und er konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen. Ein kräftiger Sprung brachte ihn außer Reichweite der tödlichen Krallen, und er landete in einem Haufen Papier- und Stoffetzen, die ihn beim Vorwärtskommen behinderten. Kurz darauf war der Kater schon wieder bei ihm. Diesmal konnte Linnet nicht ausweichen und bekam einen heftigen Schlag auf den Rücken. Er quiekte vor Schmerzen laut auf und wand sich aus den Klauen der Katze. Eine andere Pfote verstellte ihm den Weg und da er keinen Ausweg sah, versenkte er seine langen Nagezähne tief in die Pfote seines Feindes. Er hörte den wütenden Aufschrei der Katze und beeilte sich, wegzukommen, aber er war noch immer nicht schnell genug. Sekunden später hatte ihn wieder eine Tatze erwischt, und er war gefangen. Warum die Katze in diesem Augenblick wieder einen Schmerzensschrei ausstieß, erfuhr Linnet erst ein paar Augenblicke später.
Die Katze ließ von ihm ab und wandte sich blitzschnell um. Dort versuchte sie, etwas zu erhaschen, schien aber nicht sehr erfolgreich zu sein, denn sie sprang mal hierhin, mal dorthin, ohne etwas in ihren Klauen zu halten. Linnet hatte keine Ahnung, warum sich die Katze so aufführte, aber er war froh, daß er am Leben geblieben war. Wieder schrie der Kater und zuckte zurück. Irgend etwas hatte ihn wohl gebissen. Linnet huschte ein wenig zur Seite, und dann sah er den Streuner, wie dieser geschickt vor den Klauen der Katze umhertänzelte. Linnet nutzte die Gelegenheit zur Rache und biß dem riesigen Tier in den rechten Hinterlauf. Mit einem Aufschrei fuhr der Kater wieder herum, doch der Streuner hatte sich mit einem mächtigen Satz auf seinen Rücken katapultiert und biß ihn in den Nacken. Wütend schüttelte sich das Tier und der Streuner wurde im hohen Bogen davongeschleudert. Jedoch schien der Kater für heute genug zu haben, er machte sich die Gasse hinunter davon. Linnet sah dem Tier nach, bis er ein rauhes Lachen hörte.
»Lauf nur, du feiges Aas! Und erzähl deinen Freunden von mir! Überlege es dir lieber zweimal, bevor du dich mit mir anlegst. Haha!« Der Streuner stolzierte auf Linnet zu und gab ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter. »Dem haben wir's aber gezeigt. Ich glaube der wird sich so schnell nicht mehr hier blicken lassen. Herrlich, das hat mir wirklich Spaß gemacht.«
»Wo kommst du denn her?« fragte Linnet. »Ich meine, ich bin froh, daß du da bist, aber du warst schon lange nicht mehr an der Futterstelle.«
»Och, ich war hier und da.« Seine Augen leuchteten, der Kampf schien seine Lebensgeister wieder geweckt zu haben. »Aber ich bin immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
»Ja, zum Glück. Übrigens, an der Futterstelle gibt es nichts mehr. Die haben alles weggebracht.«
»Na das ist ja wunderbar!« Der Ausdruck in Streuners Gesicht verriet, daß er sich wirklich freute. Er schien sogar darauf gewartet zu haben, daß das passierte. Linnet war vollkommen verwirrt.
»Warum freust du dich darüber? Es gibt da jetzt kein ordentliches Futter mehr.«
»Ja, aber das bedeutet nur, daß in ein paar Tagen wieder neue Sachen da sind! Und die sind immer die Besten.« Streuner sagte das mit einer solchen Bestimmtheit, daß Linnet ihm sofort glaubte. »Na komm, Kleiner. Wir sollten uns einen Schlafplatz suchen, du siehst müde aus.«
Linnet nickte und zusammen wanderten sie die Gasse hinunter.
Mitten in der Nacht wachte der Streuner auf. Irgend etwas war anders. Er streckte die Nase in die Luft, um zu erforschen, was ihm so merkwürdig vorkam, aber er roch nichts Bedrohliches. Er wollte sich gerade herumrollen um weiterzuschlafen, als er bemerkte, daß sich dieser kleine Kerl an ihn geschmiegt und zusammengerollt hatte. Das war es also, das Gefühl, nicht alleine zu sein. Das hatte ihn geweckt. Er widerstand dem Impuls, die kleine Ratte wegzustoßen und legte sich wieder hin. Wo sollte das nur enden?
Als Linnet wach wurde, war der Streuner schon auf den Beinen. Er hatte so fest geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Er fühlte sich erfrischt und ausgeruht. Die warmen Sonnenstrahlen trockneten die Straßen und sorgten für gute Laune. Linnet gähnte und streckte seine müden Glieder. Dabei stach ihm etwas in den Rücken, und er erinnerte sich an die Kratzer, die ihm die verdammte Katze zugefügt hatte. Das würde er wohl noch wochenlang spüren. Wo war Streuner? Wahrscheinlich war er bereits unterwegs, um etwas zu fressen. Er vermutete, daß er ihn in der Nähe des Holzzaunes finden würde, und er hatte Recht. Nicht weit davon entfernt sah er eine wohlbekannte Gestalt in einem Bretterstapel umherhuschen. Als Linnet sich näherte, stieg ihm ein süßer Geruch in die Nase und er lief schneller. Offensichtlich hatte Streuner etwas Eßbares aufgetrieben.
»Guten Morgen, Streuner«, grüßte Linnet. »Gut geschlafen?«
»Wie? Ja. Guten Morgen, Kleiner.«
»Linnet.«
»Was?«
»Ich heiße Linnet.«
»Hm, ja. Passend. Hast du Hunger? Ich habe hier einen köstlichen Fund gemacht. Absolut vom Feinsten.« Er bot Linnet etwas von dem braunen Klumpen an, der so süßlich roch. Linnet ließ sich das nicht zweimal sagen und langte kräftig zu. Der volle süße Geschmack erfüllte sein Denken, und er biß sich ein weiteres Stück ab. Es schmeckte köstlich. Nachdem er und Streuner satt waren, machten sie sich auf die Suche nach Wasser. In diesem Teil der Stadt war es nicht schwer, etwas zu Trinken zu finden, denn an allen Ecken standen große Tonnen, in denen sich das Regenwasser sammelte. Auch in den Metallbehältern auf den Abfallhaufen fand man gewöhnlich genug Wasser. Die beiden stillten ihren Durst und machten es sich dann wieder bequem, um die Mittagshitze zu verschlafen.
Am Abend machte sich das ungleiche Paar auf den Weg zu dem Loch im Holzzaun um zu sehen, ob die neuen Kisten schon draußen waren. Sie hatten Glück und wurden fündig. Erregt rannte Streuner auf den Hof, und Linnet hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, als er zwischen den verschiedenen Stapeln hindurchwischte. Anscheinend wußte er genau, was er suchte. Er hielt schließlich vor einem hohen Kistenstapel an und begann fast sofort, daran hinaufzuklettern. Ungeschickt folgte Linnet. Zwar konnte er gut klettern, aber die ungewohnte Höhe dieses Stapels machte ihn nervös. Oben angekommen fand er Streuner, wie dieser gerade an einem Stück grüner Paprika knabberte.
»Einfach köstlich«, meinte er mit vollem Mund. »Bedien dich, solange sie noch da sind. Morgen werden sie wahrscheinlich schon alle weggebracht haben. Der Rest steht hier noch länger rum.«
Paprika war auch Linnets Leibspeise, und so stürzte er sich mit Feuereifer auf eine der roten Paprikas, die er den Grünen bei weitem vorzog. Er genoß das wiedergekehrte dolce vita in vollen Zügen und schlug sich den Bauch voll. Die beiden waren so in ihre Mahlzeit vertieft, daß sie die Menschen zu spät bemerkten, die jetzt auf dem Hof herumgingen. Sie zuckten zusammen, als auf einer Seite des Hofes plötzlich ein Gabelstapler angelassen wurde und auf sie zukam. Erstarrt blickten sie sich an. Unfähig zu fliehen, beobachteten sie das laute Ungetüm, wie es sich ihrem Stapel näherte.
Glücklicherweise waren die Kisten so hoch aufgetürmt, daß die Menschen sie nicht entdeckten. Um so größer war ihr Schreck aber, als der Gabelstapler plötzlich die Kisten anhob und mit ihnen davonfuhr. Sie rutschten in der Kiste umher und hielten sich krampfhaft an den Paprikaschoten fest, um nicht herunterzufallen.
»Streuner! Was passiert jetzt?« schrie Linnet in Panik.
»Keine Ahnung«, gab der andere keuchend zurück. »Das ist mir noch nie passiert!«
Sie schwiegen und hielten sich verbissen fest, während der Gabelstapler auf einen Lastwagen zufuhr, der auf der anderen Seite des Hofes stand und auf sie wartete. Streuner erkannte die Gefahr, in der sie sich befanden und befahl Linnet, sich unter den Schoten zu verkriechen. Er selbst begann, sich einen Weg nach unten freizubuddeln.
Plötzlich hörte das Schaukeln auf, und einen Augenblick war alles still. Dann begriff Linnet, warum der Streuner ihm gesagt hatte, daß er sich verstecken sollte. Einer der Männer hob die Kiste, in der sie saßen, hoch und trug sie in den Lastwagen. Andere Kisten wurden nebeneinander hineingestellt, und kurz darauf fielen die beiden Türen des Wagens zu. Es herrschte absolute Dunkelheit. Gedämpft waren von draußen die Stimmen und Schritte der Männer zu hören.
»Streuner?«
»Ich bin hier.«
»Was passiert jetzt?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Seine Stimme verriet Unsicherheit. »Ich denke, wir sollten uns ruhig verhalten, bis die Menschen weg sind.«
Ängstlich lauschte Linnet auf die Geräusche der Männer, die draußen um den Wagen herum waren. Nicht einmal die unmittelbare Gegenwart seiner Leibspeise konnte seine Angst mildern. Weitere Stimmen erklangen, Schritte waren zu hören, dann ein dumpfer Knall, bei dem Linnet unwillkürlich zusammenzuckte. Schließlich war alles still.
Langsam und vorsichtig arbeitete sich Linnet aus den Paprika nach oben und holte tief Luft. Er hörte, wie neben ihm der Streuner aus den Schoten herauskletterte und sein Fell schüttelte. »Was machen wir nun?«
»Ich würde sagen, wir verschwinden«, meinte der Streuner in einem Tonfall, der was denn sonst zu sagen schien. »Ich werde mich mal nach einem Ausweg umsehen. Irgendwo hier kommt Luft herein.« Seine Stimme hatte sich bereits ein ganzes Stück entfernt und Linnet folgte ihr. Auch er roch die kühle Nachtluft, die an seiner Nase vorbeiwehte. Jedoch bevor sie den Ausgang finden konnten, gab es ein lautes Rumpeln, und der Boden begann zu vibrieren. Dumpfes Grollen folgte, und danach rutschte ihnen der Boden unter den Pfoten weg. Linnet griff um sich, damit er nicht stürzte, und er hörte Streuners erschreckten Aufschrei. Einen Augenblick später hatte sich das Brummen in ein gleichmäßiges Grollen gewandelt, das ab und zu abschwoll und dann wieder anstieg. Der Boden schwankte unberechenbar mal hierhin, mal dorthin, und gelegentlich gab es harte Stöße.
Es dauerte lange, bis sie sich an die neuen Umstände gewöhnt hatten. Linnet gelang es sogar, sich an ein paar saftigen Paprikaschoten zu versuchen, die er alle ein wenig anknabberte, und der Streuner hatte es sich in einer Ecke gemütlich gemacht, wo er vor sich hindöste.
So verging die Zeit, bis schließlich das Brummen mit einem kurzen Rumpeln verstummte und wieder alles still war. Nach der ganzen Zeit kam ihnen die Stille bedrohlich vor, und sie schreckten zusammen, als sie nochmals einen dumpfen Knall hörten. Kurz darauf waren wieder Menschenstimmen um sie herum, und ehe sie sich verstecken konnten, öffneten sich die beiden Flügel des Lasters. Licht flutete herein und blendete die beiden Ratten, während die Menschenstimmen lauter wurden. Plötzlich schrie einer von ihnen etwas, und Linnet konnte den Streuner gerade noch zur Seite stoßen, bevor ein flaches Holzbrett genau an der Stelle einschlug, wo er gesessen hatte. »Danke, Kleiner!« rief er und flüchtete nach draußen. Linnet beeilte sich, ihm zu folgen. Sie huschten unter dem Laster durch und hasteten über einen kurzgeschnittenen Rasen und in eine Hecke, wo sie vor weiterer Verfolgung sicher waren. Hinter sich hörten sie die aufgeregten Stimmen der Menschen.
In sicherer Entfernung blieben sie stehen. Jetzt erst erkannten sie, daß es Morgen war. Sie waren lange Zeit in diesem Ding eingesperrt gewesen, und scheinbar hatte man sie an einen anderen Ort gebracht. Hier jedenfalls gab es keine großen Häuser, keine Steinstraßen, keine Abfallhaufen. Im Moment befanden sie sich in einer Hecke, die einen Rasen und ein Getreidefeld voneinander trennten. Die Luft roch sauber und frisch. Für die beiden schien es, als wären sie im Paradies gelandet.
Dieser Eindruck änderte sich drastisch, als sie ein lautes Knurren vernahmen. Schlimmer noch als das Knurren war der Anblick des Hundes, der sich langsam näherte. Hier mußte wohl auch der Streuner zugeben, daß ein Rückzug der bessere Weg war, als anzugreifen. Mit einem kurzen Blick hatten die beiden ihren Entschluß gefaßt und rannten so schnell sie konnten durch das Gebüsch und in das Getreidefeld hinein. Der Hund hatte einige Probleme mit dem Gebüsch, und so ließen sie ihn schnell hinter sich. Allerdings waren sie im Feld auch sicherer aufgehoben. Die Menschen konnten sie nicht sehen, und der Köter würde hier ihre Spuren sehr schnell verlieren.
Die Tage vergingen. Außer ein paar Begegnungen mit dem Hund gab es nicht viel, das die beiden störte. Sie hatten genug zu fressen, einen sicheren Schlafplatz, und die Sonne schien warm und hell. Die einzigen Probleme gab es mit dem Wasser. Dafür mußten sie eine gefährliche Wanderung zu den Gebäuden auf der anderen Seite der Hecke unternehmen, da dort eine Regentonne stand, die immer gut gefüllt war. Das waren auch die Gelegenheiten, bei denen sie sich vor dem Hund in Acht nehmen mußten, mehr als einmal waren sie mitten in ihrer Beschäftigung zur Hecke geflüchtet. Heute aber, als sie wieder einmal auf dem Rand der Tonne saßen und mit ihren langen Schwänzen die Balance hielten während sie tranken, hörten sie ein anderes Geräusch. Sie blickten beide in die Richtung, aus der sie den Laut gehört hatten und sahen die halb geschlossene Scheunentür, aus der ein unterdrücktes Quieken zu hören war. Der Streuner und Linnet sahen sich an. Abenteuerlust packte sie, und sie hüpften von der Tonne auf den Hof zurück und näherten sich der Tür. Dort angekommen spähte Linnet um die Ecke und sah eine junge Ratte, die sich ängstlich in einer Ecke zusammenkauerte und um Hilfe rief. Nur ein kurzes Stück vor ihr lag der Hund und beobachtete das Tier. Offensichtlich konnte er es nicht erreichen, da sich die Ratte in einem kleinen Spalt zwischen zwei großen Metallbehältern gezwängt hatte, der zu schmal für seine dicke Pfote war. Also gab es noch andere Ratten hier. Linnet und der Streuner sahen sich an.
»Was sollen wir tun?« fragte Linnet nach einer Weile.
»Hmm. Sich mit dem Hund anzulegen dürfte Wahnsinn sein. Wir müssen ihn irgendwie überlisten.«
»Und an was hattest du da gedacht?«
Der Streuner setzte sich auf seine Hinterläufe und begann, sich die Barthaare und die Nase zu waschen. »Ich könnte so viel Lärm machen, daß das Vieh abgelenkt wird«, schlug er vor. »In der Zeit kannst du die Kleine da hinten holen und mit ihr abzischen.«
»Wie willst du das denn anstellen?«
»Laß mich nur machen, ich hab schon eine Idee. Sieh du nur zu, daß du auf diesen Metallkasten da kommst. Von da aus kannst du schnell nach unten und sie erreichen.«
Sie sahen sich an. Zwei Einzelgänger, die sich durch einen Zufall getroffen hatten und gemeinsam an einen fremden Ort kamen. Diese Fahrt hatte sie zu einem Team werden lassen. Beide hatten sich Gesellschaft gewünscht, Linnet ganz offen, der Streuner eher unterbewußt, aber mittlerweile nahmen sie die Gegenwart des anderen als selbstverständlich hin.
Der Streuner wandte sich ab und huschte so knapp hinter dem Hund vorbei in die Scheune, daß Linnet glaubte, das Vieh müßte ihn jeden Augenblick bemerken. Aber der Streuner hatte sich absolut still verhalten, und so kam er ungeschoren vorbei, während Linnet auf den Metallkasten kletterte. Streuner hatte Recht gehabt. Von hier aus war es ein Leichtes, schnell nach unten zu kommen. Angespannt wartete er auf das Ablenkungsmanöver des anderen.
Es dauerte so lange, daß Linnet erschreckt hochfuhr, als es im hinteren Teil der Scheune plötzlich ein ungeheures Getöse gab und mehrere aufgetürmte Gegenstände in sich zusammenfielen. Sofort wirbelte der Köter herum und starrte in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war. Linnet reagierte und ließ sich in die Tiefe schlittern, wo er vor einem verdutzten Rattenmädchen landete, das sich bis jetzt nicht gerührt hatte.
»Schnell jetzt«, flüsterte Linnet. »Er ist abgelenkt.« Damit wirbelte er herum und rannte um die Ecke, die andere Ratte folgte. Sie trafen sich mit dem Streuner auf dem Hof, der ein zufriedenes Gesicht aufgesetzt hatte.
»Na, das war ja wieder ein Spaß«, lachte er und rannte zu ihnen hinüber. »Laßt uns jetzt aber verschwinden, bevor die Töle auf die Idee kommt, uns zu suchen.«
Sie flitzten über den Hof und durchquerten die Hecke, bis sie schließlich im Getreidefeld stehenblieben und Atem holten. Jetzt hatte Linnet Gelegenheit, das Mädchen zu betrachten, und er kam zu dem Schluß, daß er sie näher kennenlernen mochte.
»Woher kommst du?« fragte der Streuner, gerade als Linnet es tun wollte. Linnet ärgerte sich ein wenig darüber, blieb aber still.
»Mein Rudel lebt auf der anderen Seite der Scheune«, antwortete sie. »Ich bin ja so froh, daß ihr gekommen seid. Ich schätze, der Hund hätte mich sonst erwischt. Wie kann ich das nur wiedergutmachen?«
Linnet wußte bereits wie, war aber zu schüchtern, es ihr zu sagen. »Nun, äh«, stammelte er. Der Streuner kam ihm zur Hilfe.
»Mein kleiner Freund Linnet und ich, wir leben nun schon seit einiger Zeit hier, aber ohne Rudel wird es einem schnell langweilig. Ich glaube du könntest uns so danken, indem du uns zu deinem Rudel bringst. Wir könnten dort bei eurem Oberhaupt um Aufnahme bitten.«
Linnet sah den anderen überrascht an. Wollte der Streuner tatsächlich wieder in einem Rudel leben? Linnet jedenfalls würde es, wenn er dann mit diesem entzückenden Mädchen zusammenkommen könnte. Aber Streuner? Er lebte schon so lange alleine, und Linnet bezweifelte, daß er sich jemals wieder an ein Rudel gewöhnen konnte.
»Einverstanden«, meinte sie. »Kommt mir nach, ich bringe euch hin.« Mit leichten eleganten Hüpfern führte sie die beiden anderen an der Hecke entlang und bog dann in einen Feldweg ein, der weit über das Land führte. Linnet war dicht bei ihr und bewunderte die Anmut in ihren Bewegungen. Er nahm jedes kleine Detail in sich auf, ihr dunkles, beinahe schwarzes Fell, die klaren glänzenden Augen, den kleinen weißen Fleck unter ihrem Kinn, der nur selten zu sehen war. Er fand es sehr schade, als sie ankündigte, daß sie bald da wären. Im unterirdischen Bau würde er ihre Schönheit nicht mehr bewundern können.
Sie bat die beiden, vor der Höhle zu warten, während sie ihren Führer holen ging. Eine Minute später kam eine große braun-weiß gescheckte Ratte aus dem Loch und blickte die beiden prüfend an.
Einen Augenblick lang stutzte er, als er Linnet sah, und dann erkannte auch Linnet ihn.
»Spotty!« rief er und rannte zu seinem alten Freund hin, den er das letzte Mal vor einem Halbjahr gesehen hatte.
»Das ist doch... Linnet! Was um alles in der Welt machst du denn hier?«
Die beiden alten Freunde beschnupperten sich ausgiebig, während der Streuner grinsend danebenstand und höflich wartete, bis die beiden sich ausreichend begrüßt hatten.
»Spotty, darf ich dir meinen Freund vorstellen? Das ist der Streuner.«
»Willkommen, Streuner«, sagte Spotty mit einem Kopfnicken. »Ich bin sehr froh, daß du dich uns anschließen möchtest. Aber kommt erst einmal herein, damit ich euch alles zeigen kann.«
Er ging vor in das Loch hinunter und Linnet beeilte sich, hinter ihm zu bleiben. Unterwegs fragte er nach dem Namen des Mädchens und erkundigte sich beiläufig, ob sie sich schon gepaart hätte. Er erfuhr, daß sie Ferry hieß und daß sie bisher noch keinen Partner gefunden hatte. Linnets Herz machte einen Luftsprung. Vielleicht sollte er der erste sein, der sich mit ihr paaren würde.
An diesem Tag bekam er jedoch keine Möglichkeit, sich Ferry vorzustellen, denn Spotty zeigte ihm den gesamten Bau und am Abend mußten er und der Streuner der Kolonie alles erzählen, wie sie sich getroffen hatten und auf welche Weise sie hierhergekommen waren. Schließlich bekamen sie jeder einen Bau zugewiesen, und so schliefen sie bald ein.
Als Linnet erwachte, hatte er ein ungutes Gefühl. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Langsam richtete er sich auf und schnupperte prüfend in der Luft des Baus herum. Nichts zu riechen, und auch hören konnte er nichts. Er beschloß, zu Streuner zu gehen und ihn zu fragen, ob er auch so ein sonderbares Gefühl verspürte. Aber der Streuner war nicht in seinem Bau. Die Sandmulde, in der er gelegen hatte, war noch warm, und Linnet folgte seinem Geruch, bis er an den Ausgang des Baus kam. Dort führte die Spur weiter bis zur Hecke, und von da aus ins Getreidefeld. Jetzt wußte Linnet, wo der Streuner war. Wie er es sich gedacht hatte, er konnte die Gesellschaft von so vielen Tieren nicht mehr ertragen, und so war er still und heimlich gegangen. Linnet war sehr traurig darüber, aber wenigstens hatte er seinen Freund wiedergefunden, vielleicht sogar noch einen zweiten.
Danke, Streuner. Ich werde dich nie vergessen.
ENDE