Lichterfahrt
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)08.11.1994)
»Zwei, sieben, eins, null«, murmelte Miriam vor sich hin, während sie die Zahlenkombination ihres Fahrradschlosses einstellte. Als das Schloß dann mit hörbarem Schnappen aufsprang, wickelte sie die Kette ab und befestigte ihr Trekking-Rad an einem der Eisenpfosten. Vor etwa fünf Minuten war sie auf der Fähre angekommen, gerade noch rechtzeitig. Jetzt legten sie bereits ab, das leichte Schaukeln des Bodens wurde kurzzeitig stärker, bevor es sich wieder beruhigte. Ein Haufen Menschen stand am Heck der Fähre. Sie winkten ihren Freunden und Bekannten zu, die am Ufer zurückgeblieben waren und die Abfahrt beobachteten. Ein lautes Signalhorn ertönte zum Abschied, dann schwenkte die Fähre in ihren Kurs ein und beschleunigte auf das normale Reisetempo. Sie hatten jetzt noch etwa zweieinhalb Stunden Fahrt vor sich, inzwischen würde es wohl dunkel werden. Miriam war froh, daß sie ihren großen Rucksack zur Gepäckaufbewahrung hatte geben können, er wäre in dieser Zeit wohl mehr als lästig geworden. Nur die handliche Reisetasche mit ihren Papieren und dem Geld trug sie bei sich. Damit machte sie sich jetzt auf den Weg zu der kleinen Cafeteria, die sich in der Mitte der Fähre befand.
Die Tür zu dem Lokal öffnete sich auf leichten Zug nach außen. Der laue Wind, der draußen etwas für Kühle sorgte, wurde hier angenehmerweise durch die Glaswände abgehalten. Eine alte Music-Box spielte sanfte Lieder, einige der Fahrgäste hielten sich einzeln oder in kleineren Gruppen an der Theke und den Tischen auf. Miriam suchte sich einen freien Platz aus, stellte ihre Tasche neben sich ab und bestellte sich etwas zu trinken.
Sobald das Schiff auf der Insel ankam, wollte sie ihre Reise bis zur nächsten Siedlung fortsetzen. Sie war nun bereits eineinhalb Wochen per Bahn und Fahrrad unterwegs, weitere eineinhalb Wochen standen ihr noch bevor, dann mußte sie wohl oder übel nach Hause zurückkehren. Viele verschiedene Städte hatte sie schon gesehen, überall gab es etwas anderes zu entdecken. In einer niederrheinischen Kleinstadt war sie ein paar interessanten Menschen begegnet, die ihr die sehenswerten Teile ihres Heimatortes gezeigt hatten. Etwa hundertzwanzig Kilometer weiter war sie dann in einer größeren Stadt abgestiegen, wo sie noch mehr Leute und noch mehr Sehenswürdigkeiten fand. Ihre Neugier fand keine Grenzen, immer wieder war sie gespannt darauf, was sie als nächstes sehen würde, was in der folgenden Stadt zu finden war. Am meisten war sie allerdings von diesem Landstrich im Bereich der Nordseeküste angetan gewesen, die Stille auf den abgelegenen Feldwegen war unbeschreiblich. Sie fühlte sich irgendwie frei und ungebunden, wenn sie hier herumfuhr. Schließlich hatte sie sich überlegt, eine der Inseln zu besuchen. Dort würde sie mit Sicherheit noch mehr Frieden und Freiheit finden.
Miriam nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse, als sie einen jungen Mann bemerkte, der in ihre Richtung blickte. Da sie ihn nicht kannte, stellte sie die Tasse ab und tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den Fremden aber weiter. Er hatte eine Tasse mit Tee vor sich auf dem Tisch, doch das Getränk hatte er nicht angerührt. Langsam bekam sie ein ungutes Gefühl. Irgend etwas hatte dieser Mann vor, oder er wollte etwas von ihr. Miriam hatte allerdings keine Lust, sich mit einem Unbekannten auf etwas einzulassen. Sie trank ihren Kaffee aus und verließ die Cafeteria. Draußen blies ihr wieder der Wind ins Haar. Sie stellte sich an die backbord gelegene Reling und blickte in den Sonnenuntergang. Ein paar Möwen kreisten über der Fähre, das Rauschen der Wellen mischte sich mit ihren heiseren Rufen zu der unverwechselbaren Kulisse, wie sie nur hier zu finden war. Miriam atmete tief durch, die kühle Luft erfrischte sie. Entspannt lauschte sie den Geräuschen des späten Tages.
»Ich wünsche Ihnen einen guten Abend«, sagte plötzlich eine tiefe Männerstimme hinter ihr. Überrascht drehte sie sich zu dem Sprecher um. Es war der Fremde aus der Cafeteria, er war ihr gefolgt. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ich wollte mit Ihnen reden.«
»Worum handelt es sich?« fragte Miriam und musterte den Mann eingehend. Eigentlich war er eher ein Durchschnittstyp, etwa einsachtzig groß, schlank, mit braunen Haaren und Augen, eine runde Brille ließ seine Gesichtszüge etwas weicher wirken. Er trug eine leichte Jacke und Jeans, also das, was hier die meisten gegen die Kälte angezogen hatten.
»Ich habe Sie drinnen gesehen, und da dachte ich, Sie wären die Richtige, um meine Geschichte zu hören.« Er stützte sich mit beiden Händen neben ihr am Geländer ab.
»Ist es denn so wichtig, daß jemand Ihre Geschichte hört?«
Er zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort. »Eigentlich macht es keinen Unterschied, ob ich meine Geschichte erzähle oder nicht, aber ich möchte es gerne. Und wenn ich schon darüber reden will, dann mit jemandem, der mir sympathisch erscheint.«
Miriam blickte ihn belustigt an. »Und ich bin Ihnen sympathisch?«
»Ja, das sind Sie.« Er wandte sich ihr zu. »Verstehen Sie, ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen. Aber mir ist es wichtig, daß noch jemand von den bevorstehenden Ereignissen erfährt.«
»Das hört sich an, als würde es sich um etwas Größeres handeln.«
Der Fremde nickte. »Das ist es auch. Aber ich möchte das nicht hier besprechen, es wäre mir lieber, wir könnten uns im Café weiter unterhalten. Einmal ist es dort gemütlicher, und zweitens weht einem der Wind nicht die Worte vom Mund weg.«
So gingen sie also wieder hinein. Miriam wunderte sich über das merkwürdige Verhalten des jungen Mannes. Einerseits wirkte er nachdenklich, verschlossen und höflich, andererseits konnte er es scheinbar nicht erwarten, jemandem seine Geschichte zu erzählen. Wenn es wirklich eine solch bedeutende Sache war, warum blieb er dann so ruhig? Um das herauszufinden, mußte sie ihm wohl erst einmal zugehört haben. Zuerst hatte sie vermutet, er suche nur nach einer charmanten Reisebegleitung, aber ein solcher Auftritt war wohl doch etwas zu dick dafür.
Der Fremde suchte einen Tisch für sie aus und rückte Miriam den Stuhl zurecht, bevor er sich selber ihr gegenüber niederließ. »Möchten Sie etwas trinken?« fragte er. »Ich lade Sie ein.«
Also doch ein Rendezvous? dachte sie. »Ja, einen Kaffee, bitte.«
Er bestellte eine Tasse Kaffee und einen Tee und wartete, bis es ihm gebracht wurde. »Sie werden sich bestimmt schon fragen, worum es eigentlich geht«, begann er wieder. »Sie werden gleich alles erfahren, aber erlauben Sie, daß ich mich zuerst vorstelle: Mein Name ist David Herzog, ich bin unterwegs zu meinen Ferienhaus.«
»Miriam Kerner«, stellte sie sich vor. »Ich bin auf einer Radtour quer durch Norddeutschland.«
Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Dann wollen wir mal. Als erstes: Ich bin nicht verrückt, gehöre keiner religiösen Sekte an, auch leide ich nicht an Wahnvorstellungen oder etwas in der Art. Ich sage das deswegen, weil sich meine Geschichte vielleicht ziemlich verdreht anhören wird. Auch wenn Sie etwas verwirren sollte, oder Sie etwas nicht so ohne weiteres glauben können, lassen Sie es mich Ihnen erzählen. Ich schwöre, daß jedes Wort wahr ist.«
Das wird ja immer mysteriöser, dachte Miriam. Warum kommt er nicht endlich zur Sache? Laut sagte sie allerdings: »Von mir aus, erzählen Sie ruhig. Ich werde Sie nicht unterbrechen.«
Es fiel ihm offensichtlich schwer, den Einstieg in seine Erzählung zu finden, er nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse, bevor er endlich zu seiner Geschichte ansetzte. »Es ist nun schon eine Woche her. Ich hatte gerade meinen letzten Arbeitstag hinter mich gebracht und auf den Urlaub vorbereitet. Zwei Wochen hatte ich mir frei genommen, damit ich mich nach längerem wieder einmal ein wenig ausruhen konnte. Wie fast an jedem Abend bin ich schließlich noch in mein Stammlokal gegangen, um mich mit ein paar Freunden zum Skatspielen zu treffen. Im Prinzip lief alles wie gewohnt, wir spielten eine Runde nach der anderen, tranken ein oder zwei Gläser Bier und hatten eine Menge Spaß. Aber dann, es muß so kurz vor eins gewesen sein, geschah etwas, das mich ein wenig aus dem Konzept brachte. Ich hatte gerade die Karten gegeben und sortierte, als sich plötzlich eines der Bilder auf den Karten veränderte. Es war der Herz-Bube gewesen, aber das ist wohl nicht so wichtig. Von größerer Bedeutung war wohl das Bild, das sich jetzt auf der Karte befand: Es war eine Erdkugel, wie man sie von Bildern aus dem Weltraum her kennt. Aufgenommen aus zweihunderttausend Kilometern Entfernung. Dann sah ich mir die übrigen Karten an. Sie zeigten alle so merkwürdige Bilder. Wenn ich daraus ein Daumenkino gemacht hätte, würde ich sehen können, wie die gute alte Erde durch eine riesige Explosion zu Staub im Weltall zerfällt.«
Trotz ihres guten Vorsatzes unterbrach Miriam seine Erzählung. »Sie meinen, auf Ihren Spielkarten sind Bilder von der Explosion der Erde erschienen? Einfach so?«
»Ich sagte Ihnen ja schon, es wird etwas seltsam klingen«, sagte David geduldig. »Aber es ist wirklich geschehen. Wenn Sie mich weiter anhören, verstehen Sie vielleicht, daß ich mit jemandem sprechen wollte.«
»Es wird mir zwar schwer fallen, aber ich werd's versuchen.«
»Danke. Nun, es erschienen also diese Bilder. Zuerst war ich ziemlich perplex, zudem alle anderen an meinem Tisch schon darauf warteten, daß ich weiterspielte. Nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, waren auch diese Bilder wieder verschwunden. Ich hab mich schließlich verabschiedet, weil ich meinte, ich brauchte etwas Schlaf. Zuhause bin ich dann sofort ins Bett gegangen, ich fühlte mich nach diesem Erlebnis etwas schwach. Aber in den nächsten Tagen verfolgten mich diese Bilder überallhin, ich sah sie im Fernsehen, fand sie in meinem Portemonnaie auf den Geldscheinen, ich hörte im Radio vom bevorstehenden Weltuntergang... Kurz gesagt: Ich glaube, daß unsere Erde in absehbarer Zeit untergehen wird und mit ihr unsere gesamte Zivilisation. Ich weiß nicht wann oder auf welche Weise, aber ich bin mittlerweile absolut überzeugt von meiner Vermutung. Natürlich klingt das etwas abwegig, aber ich weiß, es wird geschehen.«
Miriam sagte eine Weile nichts. Diese Nachricht mußte sie erst einmal verdauen. Natürlich glaubte sie nicht an die Apokalypse, jedenfalls nicht in ihrem Leben, aber irgendwie war es faszinierend, mit welcher Überzeugung David von dieser Sache sprach. Ganz im Gegensatz dazu saß er jetzt seelenruhig am Tisch und trank einen Schluck Tee. Sie konnte sich vorstellen, wenn sie dieser Meinung wäre, sie würde bestimmt nicht so ruhig bleiben können. »Um ehrlich zu sein, ich bin platt. Ich meine, ich habe jetzt alles Mögliche erwartet, aber das haut mich um. Sie meinen also, die Welt geht unter?«
David nickte. »Ich bin fest davon überzeugt.«
»Und ist sonst noch jemand dieser Meinung? Irgendwelche Wissenschaftler, Forscher oder so?«
Er lachte leise. »Ich habe es noch niemandem außer Ihnen erzählt. Es hätte ohnehin keinen Zweck, irgendwelchen Akademikern diese Sache anzuvertrauen. Es klingt schließlich ziemlich überzogen, ich habe auch keine Beweise für die Geschichte, aber trotzdem wird es geschehen. Es dauert auch nicht mehr lange. Deswegen will ich ja zur Insel, ich will zu meinem Ferienhaus. Wenn ich nämlich den Weltuntergang schon miterleben soll, dann dort, wo ich mich wohl fühle.«
»Es scheint Ihnen ja sehr ernst damit zu sein.« Miriam konnte es sich kaum vorstellen, daß jemand solche Gedanken hegen könnte.
Er nickte. »Absolut.« Er schwieg eine Zeitlang. »Jetzt, nachdem Sie meine Erzählung gehört haben, was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie bitten würde, bis zum Zeitpunkt X bei mir zu bleiben?«
Hatte sie die Geschichte schon sprachlos gemacht, dann war sie jetzt vollends verwirrt. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Na ja, auch für mich ist das alles unbegreiflich. Man merkt es mir zwar wohl nicht an, aber ich bin ziemlich fertig. Deshalb möchte ich die letzten Tage nicht alleine sein und warten. Ich glaube, wenn ich mit jemandem reden kann, dann wird alles weniger schlimm werden.«
»Und Sie erwarten von mir, daß ich Ihnen diese Geschichte abkaufe?«
Er zuckte mit den Schultern. »Zumindest hoffe ich es. Klar, es klingt unglaublich, aber es ist wirklich so. Ich weiß, was Sie denken. Sie glauben, ich suche nur ein Mädchen, um mit ihr ins Bett zu steigen. Glauben Sie mir, das ist das letzte, woran ich im Moment interessiert bin. Mir geht es nur um ein wenig Gesellschaft. Mehr ist es nicht, ich schwöre es Ihnen.«
»Sie erwarten also von mir, daß ich mit Ihnen in Ihr Ferienhaus komme und dort so lange warte, bis die Welt untergeht?«
»Ich erwarte nichts, ich kann Sie nur darum bitten. Ansonsten muß ich den Tatsachen alleine ins Auge sehen, und ich weiß nicht, ob ich das durchstehen kann.«
Miriam beugte sich vor. »Ist das denn nicht ohnehin egal, wenn in ein paar Tagen sowieso alles den Bach runtergeht?«
»Prinzipiell haben Sie recht, aber ich weiß, daß ich die Sache miterleben muß und nicht alleine. Deshalb brauche ich Sie. Begleiten Sie mich, bitte.«
Miriam schüttelte den Kopf. Einem solchen Typen war sie noch nie begegnet. Irgendwie war sie von ihm fasziniert, von seiner Geschichte, seinem Auftreten. Aber andererseits war der Gedanke doch sehr abwegig, einfach zu ihm in seine Ferienwohnung zu gehen, um den Untergang der Welt zu erwarten. Wie konnte man eine solche Geschichte nur glauben?
*
»Ich weiß zwar nicht, warum ich das tue, aber ich bin wohl entschieden zu neugierig.« Miriam saß neben David im Wagen, während sie durch die Nacht über die Landstraße fuhren. Das Trekking-Rad hatten sie im Kofferraum des Volvo verstaut, ihr Rucksack lag hinten auf dem Rücksitz.
»Warten Sie ab, Sie werden noch viel zu sehen bekommen, bevor alles zuende geht.«
Miriam verdrehte die Augen. »Hören Sie. Ich weiß, daß Sie alles das nur wegen Ihrer komischen Erlebnisse tun, aber können Sie nicht einen Augenblick lang aufhören, davon zu erzählen?«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie langweile. Worüber möchten Sie reden?«
»Keine Ahnung. Über Apfelpreise in China vielleicht. Oder über Sie. Ich möchte gerne mehr über jemanden wissen, mit dem ich jetzt ein paar Tage zusammen bin.«
»Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Ich bin kein besonderer Mensch. Als Kind war ich ein durchschnittlicher Schüler, die Hauptschule habe ich erfolgreich bis zur 10B hinter mich gebracht, und danach gings dann in die Lehre. Ich habe mir eine Karriere als Bankkaufmann ausgesucht, auch nichts Aufregendes. Jetzt bin ich dreiundzwanzig, ledig und kurz vor dem Abschluß mit allem. Oh, Verzeihung. Ich sollte ja nicht mehr darüber reden. Was ist mit Ihnen? Wie haben Sie gelebt?«
Sie dachte einen Moment lang nach. »Ich habe nicht viel von meiner Kindheit gehabt. Seit ich denken kann sind wir viel umgezogen. Nirgends waren wir lange genug, damit ich mir einen richtigen Freundeskreis aufbauen konnte. Ich wurde von einem Gymnasium aufs andere geschickt, überall mußte ich mich mit dem veränderten Umfeld abfinden. Deshalb bin ich jetzt auch so viel auf Reisen. Mein Beruf, ich bin Grafik-Designerin, bringt mir im Endeffekt auch nicht viel Abwechslung. Immer das ewige Einerlei geht mir langsam ziemlich auf den Keks. Vielleicht bin ich ja auch deswegen mit Ihnen gekommen. Es verspricht ja wirklich interessant zu werden.«
»So könnte man es auch ausdrücken.« David lenkte den Wagen in eine Nebenstraße und wenige Augenblicke später konnte Miriam das leichte Glitzern des Meeres sehen. Der fast volle Mond schien auf die nächtliche Landschaft hinab, so daß sie die Umgebung schemenhaft erkennen konnten. Weiter hinten, am Ende der Straße, stand ein kleines Haus, nur wenige hundert Meter vom Strand entfernt. Rundherum wuchsen einige wenige Bäume, deren Äste sich im leichten Wind hin- und herbewegten. Eine weitere Straße führte einen aufragenden Hügel hinauf, dessen dem Meer zugewandte Küste mehr eine Steilwand war. Mitten auf diesem Hügel stand ein runder Turm. Selbst in diesem schummrigen Licht war zu erkennen, daß er mit abwechselnd hellen und dunklen Streifen bemalt war. Oben auf seiner Spitze befand sich eine Art Geländer.
»Ist das ein Leuchtturm?« fragte Miriam und deutete auf den dunklen Schatten.
David nickte. »Das stimmt. Aber er ist schon seit langem nicht mehr in Betrieb. Keine Ahnung, warum er da noch steht.«
»Sind Sie schon mal dort gewesen?«
»Nein. Ich habe ihn immer nur von hier unten aus betrachtet. Ich weiß auch nicht, ob man überhaupt hineinkommt.«
Sie waren indessen an dem Haus angekommen. Gemeinsam brachten sie ihre Sachen hinein. David ging vor und machte Licht, dann zeigte er ihr die Räume. Die kleine Wohnung war gemütlich eingerichtet. Das Wohnzimmer war groß, überall hatte man Holzvertäfelungen an den Wänden und Decken angebracht. Die Küche war klein aber praktisch, das Schlafzimmer gemütlich. Auch ein Gästezimmer mit einem Bett und einem Kleiderschrank gab es. Dort legte Miriam ihre Sachen ab.
Als sie wieder in den Wohnraum kam, stand eine große Flasche auf dem Tisch. David kam gerade mit zwei langstieligen Sektkelchen von einem Glasschrank an den Tisch und stellte sie ab. Dann zog er einen Korkenzieher aus der Tasche. »Das ist für unseren ersten Abend hier draußen«, sagte er. »Das heißt, wenn Sie sich setzen und mit mir anstoßen möchten.« Er füllte das erste Glas mit dem perlenden Moët et Chandon Sekt und goß dann das zweite ein.
»Danke, gern.« Miriam nahm Platz, und David reichte ihr das Getränk.
»Auf eine schöne Zeit«, sagte er. »Auf daß wir noch Gelegenheit haben werden, uns besser kennenzulernen.«
Mit einem melodischen Klingeln stießen die Gläser zusammen. Sie tranken in kleinen Schlucken. David hatte ein gemütliches Kaminfeuer angezündet, das leise knisternd vor sich hinflackerte. Durch die halb geöffnete Terrassentür drang das verhaltene Rauschen des Meeres zu ihnen herein. Das Mondlicht schimmerte auf den Kronen der leichten Wellen, der feine Salzgeruch mischte sich mit dem Duft des Feuers und dem Perlen des Sektes in ihren Adern. Doch trotz all dieser Eindrücke kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem verlassenen Leuchtturm zurück.
Sie wurde wach, als jemand leise an ihre Tür klopfte. »Miriam. Es ist acht Uhr, du solltest langsam aufstehen. Das Frühstück ist fertig.«
Vorsichtig öffnete sie die Augen. Helles Sonnenlicht flutete durch das breite Fenster in den kleinen Raum. »Ja, danke«, sagte sie dann. »Ich bin gleich soweit.« Widerwillig verließ sie das warme Bett und suchte sich ihre Sachen für die Morgentoilette zusammen. Dann verließ sie das Gästezimmer und ging ins Bad.
Der Abend gestern war wirklich schön gewesen. Sie hatten gemeinsam noch ein paar Gläser Sekt getrunken, der ruhigen Musik gelauscht und sich gegenseitig voneinander erzählt. Man konnte wirklich nicht sagen, daß David ein knauseriger Mensch war. Er hatte einen guten Geschmack, was die Einrichtung betraf. Sie hatte sich gleich in der ersten Stunde hier wohl gefühlt. Außerdem hatte er so eine zuvorkommende Art, sie begann sich wirklich für ihn zu interessieren. Schon nach kurzer Zeit hatte sie ihm das »Du« angeboten, da sie vermutete, daß er zu höflich dafür war, es selbst zu tun. Seitdem waren sie sich gegenüber noch offener geworden.
»Guten Morgen, David«, sagte sie, als sie sich an den Frühstückstisch setzte. »Ich habe wunderbar geschlafen. Und du?«
»Könnte kaum besser sein«, erwiderte er und reichte ihr den Brotkorb. »Ich bin gerne hier draußen, die Luft macht immer wieder einen neuen Menschen aus mir.«
Miriam nahm sich eine Scheibe Paderborner und legte sie sich auf den Teller. »Und hungrig macht sie auch. Ich beneide dich wirklich. Dieses Häuschen würde ich liebend gerne gegen meine Stadtwohnung eintauschen. Wenn man nur nicht so weit von allem weg wäre...«
»So weit nun auch wieder nicht«, entgegnete David. »Ein paar Kilometer weiter ist ein Dorf, da kaufe ich immer ein, wenn ich hier bin. Ich bin heute morgen schon dort gewesen. Natürlich, eine solche Auswahl wie in der Stadt kann man nicht erwarten, aber man bekommt immerhin alles, was man zum Leben braucht.«
»Das Leben auf einer Insel hat eben seinen ganz eigenen Reiz«, sagte Miriam abwesend. »Die Stille rundherum, nur das Meer und die Möwen, wie im Paradies. Ich könnte es mir ohne Weiteres vorstellen, den Rest meines Lebens hier zu verbringen.«
»Das wird wohl problemlos möglich sein«, sagte David leise, wie zu sich selbst. »Aber wir hatten uns ja geeinigt, nicht mehr über diese Angelegenheit zu sprechen.« Er schwieg eine Weile. »Was hältst du von einem kleinen Spaziergang? Wir packen etwas zu essen ein und lassen uns bis zum Abend nicht mehr hier sehen.«
»Gehen wir am Strand entlang?«
»Wohin du willst. Ich kenne mich hier gut aus. Du sagst mir einfach, was du sehen möchtest, und ich bringe dich dorthin. Wir haben hier auch wunderbare Felder und Wiesen. Hier kann man stundenlang herumlaufen, ohne daß es langweilig wird.«
»Ich werde gleich ein paar Brote schmieren«, bot sich Miriam an. »Es gibt nämlich eine Menge, was ich gerne erkunden möchte.« Sie konnte es kaum erwarten, aufzubrechen. Es faszinierte sie, die Umgebung zu Fuß zu durchstreifen, besonders, da sie eine solch angenehme Begleitung hatte. Direkt nach dem Frühstück bereitete sie den Picknickkorb vor, während David die restliche Ausrüstung zusammensuchte. Kurz nach elf Uhr verließen sie dann das Haus und machten sich auf den Weg.
David führte sie zuerst in die Richtung, aus der sie gestern abend gekommen waren. Sie folgten der schmalen Straße bis zu einem Feldweg, der querfeldein zwischen einer Baumreihe und der Küste verlief. Ein sanfter Hügel, auf dem ein kleines Wäldchen seinen Platz gefunden hatte, stieg sanft vor ihnen an. Auf diesen Wald hielten sie nun zu. Ein steter, leichter Wind wehte vom Meer herüber, Miriam sog gierig die frische Luft in ihre Lungen, sie wirkte tatsächlich belebend. David führte sie weiter, er erzählte ihr von seiner Kinderzeit auf der Insel. Er war erst mit zwölf Jahren aufs Festland übergewechselt, davor hatte er mit seiner Familie hier gelebt. Fasziniert hörte sie ihm zu, wie er von seinen kleinen Erlebnissen berichtete.
Sie brauchten beinahe eine Stunde, um den Gipfel des Hügels zu erreichen. Die Bäume schirmten sie ein wenig gegen den Wind ab, während sie die Decke für das Picknick ausbreiteten. Schließlich machten sie es sich gemütlich und verzehrten ein reichliches Mittagessen. Es war, wie Miriam schon ein paar Stunden zuvor gesagt hatte: Seeluft machte hungrig.
»Es ist unheimlich schön hier«, sagte Miriam, während sie über den Strand hinweg auf die leicht gewellte See blickte. Sie waren nun am Meeresufer angekommen. Die Küste fiel vor ihnen etwa fünfzig Meter ab, unten war ein kleiner Sandstreifen zu sehen. Die Sonne sank schon wieder dem westlichen Horizont entgegen. »Ich würde gerne zum Ufer hinuntergehen.«
»Es gibt da einen schmalen Weg, den wir problemlos gehen können. In weniger als zwei Minuten sind wir unten.« Er nahm Miriam bei der Hand bevor sie überhaupt richtig merkte, was geschah. Wahrscheinlich hatte er sich nichts bei dieser Geste gedacht, aber in ihr löste das alle möglichen Reaktionen aus. Sie hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten, als er sie einen schmalen Sandpfad bergab führte. Einmal mußte er sie stützen, denn an dieser Stelle wurde der Weg etwas steiler und der Boden unsicher. Schließlich erreichten sie den Strand.
Atemlos stand Miriam neben David und betrachtete die langsam untergehende Sonne. Sie standen lange dort, Seite an Seite, wie lange, das konnte Miriam später nicht mehr sagen. Es war jedenfalls schon beinahe dunkel, bis sie sich endlich wieder regten. »Das war einer der schönsten Tage meines Lebens«, sagte Miriam. »Ich fühle mich hier wirklich sehr wohl.« Gemeinsam wanderten sie am Meeresufer entlang durch den weichen Sand. Miriam hatte sich bei David eingehakt und genoß die Abendbrise. »Es fehlt nur noch eines, um mein Glück vollkommen zu machen.«
»Wenn ich es dir geben kann... Du brauchst es nur zu sagen.«
Sie lachte leise. »Oh ja, das kannst du.« Sie löste sich von ihm und ging ein paar Schritte voraus. Dann drehte sie sich mit ausgebreiteten Armen herum und ging rückwärts weiter. »Ich bin so glücklich. Alles hier ist perfekt. Was also wünsche ich mir noch? Vielleicht diese Insel? Vielleicht die Ewigkeit. Oder möglicherweise die ganze Welt?« Plötzlich wirbelte sie herum und rannte los. »Wenn du mich fängst, dann verrate ich's dir!«
Verdutzt blieb David einen Moment lang auf der Stelle stehen, aber dann warf er seinen Rucksack zu Boden und nahm die Verfolgung auf. Laut lachend floh Miriam an der Wasserlinie entlang, während David hinterherspurtete. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er sie erreicht hatte. Er schlang seine Arme um sie, wobei Miriam stolperte und zu Fall kam. Mit einem lauten Schrei landeten die beiden im kalten Wasser. Sofort versuchte sie, sich loszureißen, aber er griff noch einmal nach ihr und zog sie zu sich heran. Seine blauen Augen blickten sie sanft an. Behutsam strich er ihr eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Miriam, du bist wunderschön.«
Verlegen senkte sie die Augenlider. »David, ich-«
»Nein, sag jetzt nichts. In der Cafeteria hast du mich schon fasziniert, im selben Augenblick habe ich gewußt, daß du die Richtige bist. Ich spürte es.« Seine tiefe Stimme bohrte sich in ihr Herz. »Und jetzt weiß ich, daß mich mein Gefühl nicht betrogen hat.«
»Aber, was ist mit dem Weltuntergang? War das dann doch alles nicht wahr?«
Er hob ihr Kinn sanft mit seiner Hand an. »Was macht es schon, wenn alles auseinanderfällt. Ich habe dich gefunden, das ist alles, was zählt. Ich weiß, lange Zeit werden wir nicht haben, aber lieber ein paar Tage Leben mit dir und dann untergehen, als eine Ewigkeit auf dich verzichten.«
»David, warum sagst du so was?«
»Weil es die Wahrheit ist.« Dann gab er ihr einen Kuß. Miriams Herzschlag beschleunigte sich sofort, dann gab sie dem aufsteigenden Gefühl nach. Sie legte ihre Arme um ihn. Leidenschaftlich küßten sie sich noch einmal, dann aalten sie sich eine Zeitlang im seichten Wasser. Schließlich hob David sie auf seine Arme und brachte sie an den Strand. Dort genossen sie ihre Zuneigung in vollem Umfang. Die tiefe Verbundenheit, die sie fühlten, überstieg alles bisher dagewesene.
Gemeinsam lagen sie nebeneinander im Sand und betrachteten den aufgegangenen Vollmond. Miriam hatte ihren rechten Arm über Davids Brust gelegt, und er hielt ihn sanft fest. »Ich war noch nie so glücklich wie heute nacht«, sagte sie leise. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich nach einer Erfahrung wie dieser gesehnt habe. Ich will bei dir bleiben. Ich fahre nicht wieder zurück.« David sagte nichts, sondern strich ihr liebevoll über das zerzauste dunkelblonde Haar. »Das hier ist meine Welt, die Insel, dein Haus, der Leuchtturm... David! Was ist mit dem Leuchtturm? Wollen wir nicht mal dorthin gehen? Ich möchte ihn zu gerne aus der Nähe sehen.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht? Da werden wir nicht viel sehen.«
Miriam drehte sich zu ihm auf die Seite. »Besser jetzt als nie. Wer weiß, vielleicht können wir es morgen gar nicht mehr.«
»Du glaubst mir also?«
Übermütig sprang sie auf. »Nein, natürlich nicht!« Damit war sie auch schon wieder verschwunden. Bis David reagiert hatte und aufgestanden war, befand sie sich schon bei dem Rucksack, den er zuvor liegengelassen hatte. »Wie lange werden wir bis dorthin brauchen?« fragte sie, nachdem er sie erreicht hatte.
»Wenn wir uns beeilen, eine Viertelstunde. Aber ich schätze, unter zwanzig Minuten werden wir's kaum schaffen.«
»Dann laß uns gehen, bevor es wieder hell wird.«
Ihre Befürchtung war natürlich unbegründet, da sie gerade Mitternacht überschritten hatten. Trotzdem nahm David das Gepäck sofort auf den Rücken, und gemeinsam gingen sie Hand in Hand am Ufer entlang. Der Sandstrand endete nach wenigen hundert Metern und machte einer felsigeren Küste Platz. Hier brachen sich die leichten Wellen mit weiß schäumender Gischt. In einiger Entfernung konnte sie einen dunklen, hoch aufragenden Schatten auf einem Hügel erkennen, der sich gegen den nächtlichen Himmel abhob. David führte sie in einer geraden Linie auf die Anhöhe zu. Bald schon erklommen sie die steiler werdende Steigung. Der Turm wuchs vor ihnen in die Höhe, langsam konnten sie auch Einzelheiten erkennen. Der Eingang war nicht mehr als eine schmale Holztür, rechts und links davon hingen alte Leuchten, sie sahen wie Petroleumlampen aus.
Schließlich standen sie direkt vor dem Eingang. Die Tür war zu, allerdings war es offensichtlich, daß sie kein größeres Hindernis darstellen würde. Eines der Scharniere war aus der Verankerung gerissen, die untere Hälfte des Holzes moderte vor sich hin, und die Schrauben des Schlosses sahen rostig und brüchig aus. »Der Turm hat auch schon mal bessere Zeiten gesehen«, sagte David und betrachtete sich das Schloß genauer.
»Kannst du die Tür aufmachen?« fragte Miriam aufgeregt.
Prüfend rüttelte David an der Klinke. »Ich denke schon. Sie scheint nicht mal verschlossen zu sein. Anscheinend klemmt da nur was.« Er drückte die Klinke hinunter und stemmte sich gegen das Holz. Hörbar rutschten die morschen Bretter einige Zentimeter nach innen, stießen aber dann wieder irgendwo an. Noch einmal drückte er, aber außer einem leichten Knarren tat sich nichts mehr. »Jetzt hängt sie richtig fest«, erklärte er. »Ohne Gewalt wird sich da kaum was machen lassen.« Probehalber gab er der Tür einen weiteren Stoß, der auch nichts mehr brachte.
»Warte, ich helf' dir.« Miriam kam ebenfalls an die Tür heran und drückte sie nach innen. Wie es zu erwarten war, änderte sich auch dadurch nichts. »Dann müssen wir sie eben aufbrechen«, meinte sie.
»Du kommst auf Ideen«, gab er zurück. »Das ist Einbruch, auch wenn der Turm verlassen ist.«
»Bald ist das doch sowieso egal, wenn es stimmt, was du sagst. Außerdem, wer wird hier schon was bemerken? Es ist doch außer uns weit und breit niemand in der Nähe. Komm, wir kriegen diese Nuß schon auf.«
David mußte lachen. »Also ehrlich. Das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Aber gut, von mir aus. Knacken wir die Nuß.« Er trat einen Schritt zurück und warf sich dann mit seinem vollen Gewicht gegen das Holz. Es knackte einmal kurz, und der Spalt, der in den dahinterliegenden Raum führte, öffnete sich ein kleines Stückchen mehr.
»Ja!« rief Miriam triumphierend. »Noch einmal, los! Gleich sind wir drin!«
»Dein Enthusiasmus ist ermutigend«, sagte er grinsend und machte sich für den zweiten Stoß bereit. Ein weiteres Mal knackte es, und die Tür sprang zitternd auf. Eine Menge aufgewirbelten Staubes kam ihnen entgegen. Miriam mußte husten und zog sich mit der Hand vor dem Mund vom Eingang zurück. David schützte seinen Kopf mit einem Arm und spähte in die staubige Dunkelheit. Vom Inneren des Turmes war nichts zu erkennen. Miriam kam wieder zu David und versuchte, etwas auszumachen. Langsam machte sie einen Schritt voraus durch die Tür, doch David hielt sie zurück. »Warte, nicht so schnell. Es könnte alles morsch sein da drinnen. Wir sollten vorher Licht machen.«
»Wie denn? Ich glaub' nicht, daß es hier so was wie Strom gibt.«
David hatte sich in der Zeit den Rucksack abgenommen und wühlte jetzt darin herum. »Strom haben wir vielleicht nicht, aber ich habe mir etwas anderes mitgebracht.« Er zog eine grüne Plastikflasche heraus. »Brennspiritus. Den habe ich immer im Rucksack, falls ich ein Feuer machen muß. Und ich denke, damit kriegen wir auch diese alten Petroleumlampen zum leuchten.« Daraufhin nahm er eine der Lampen aus ihrer Halterung, füllte den Spiritus ein und legte die Flasche dann in den Rucksack zurück. Dann tastete er mit der freien Hand in seinen Jackentaschen herum. »So was Blödes«, maulte er. »Jetzt habe ich alles dabei, nur kein Feuerzeug.«
Eine kleine Flamme leuchtete an seiner Seite auf. »Aber ich«, sagte Miriam und reichte ihm ihr silbernes Zippo. »Vor einem Monat habe ich mir das Rauchen abgewöhnt, aber dieses Ding trage ich trotzdem immer noch bei mir. Macht der Gewohnheit.«
»Das nenne ich mal Glück«, sagte David und hielt den Docht der Lampe in die kleine Flamme. Gleich darauf fing er Feuer, und David stülpte den Glaskolben wieder über die Halterung. »Nicht schlecht, jetzt können wir's wagen.«
Trotz des flackernden Lichtes der Lampe war nicht viel zu erkennen. Es lag immer noch sehr viel Staub in der Luft, der sich aber langsam abzusetzen begann. David hielt die Lampe vor sich, während er vorsichtig in den Turm hineinging. Miriam folgte dichtauf. Das erste, was sie sahen, war eine breite Wendeltreppe, die anscheinend einen Großteil des Raumes ausfüllte. Eine Stahltür führte von hier aus weiter, jedoch ließ sich diese absolut nicht öffnen. So beschlossen sie, die Holztreppe hinaufzugehen, um sich die oberen Räume anzusehen. David ging wieder voraus. Miriam zählte indessen die Stufen, die sie hinaufgingen. An mehreren Stellen mußten sie auf ihren Weg achten, da ab und an eines der Bretter lose war oder ein Loch hatte. Sie hatte gerade bis einhundertdreiundzwanzig gezählt, als sie vor einem Treppenabsatz ankamen. Auch hier versperrte ihnen eine Metalltür den weiteren Weg. Miriam schob David sanft zur Seite und legte ihre Hand auf den Türgriff. Zu ihrem Erstaunen öffnete sie sich ohne Probleme.
Langsam gingen sie in den Raum hinein. Er war wie erwartet kreisrund, uralte Möbel standen hier herum. Ein Schrank, ein niedriger Tisch mit zwei Stühlen, eine Kommode und eine Liege waren zu sehen. Im Schein der Lampe konnten die beiden auch ein paar Bilder an der Wand erkennen, allesamt zeigten Seefahrtsmotive. »Das ist ja toll«, sagte Miriam begeistert. Unbewußt flüsterte sie, obwohl hier niemand außer ihnen sein konnte. »Sieh dir all diese alten Möbel an! Und die Bilder. Hier ist bestimmt zwanzig Jahre niemand mehr gewesen.«
Sie sahen sich den Raum genauer an. Überall fanden sich kleinere und größere Gegenstände nautischer Herkunft, mit denen die beiden nichts anfangen konnten. Die Fenster waren wie Bullaugen geformt, aber wesentlich größer. Man konnte von hier aus weit aufs Meer hinaussehen.
»Miriam! Sieh dir das an.« Er deutete an die Decke. »Siehst du! Da oben ist eine Klappe. Wahrscheinlich kommen wir da nach ganz oben, wo ursprünglich das große Licht für die Schiffe gewesen ist.«
»Stimmt. Aber wie kriegen wir das Ding auf? Wir bräuchten einen Haken oder so was, mit einer langen Stange.« Sie begann, sich in dem Raum umzusehen. Lange dauerte es auch nicht, bis sie ein geeignetes Werkzeug gefunden hatte; wahrscheinlich gehörte es sogar dazu. »Hier, versuch's mal damit.«
David nahm die Stange und hakte sie in die Metallöse an der Klappe ein. Dann zog er daran, anfangs leicht, dann aber etwas fester, als nichts geschah. Zuerst gab es ein leichtes Klacken, die Klappe löste sich um ein paar Zentimeter. Nach einem weiteren Ruck an der Stange klappte die Luke dann vollständig auf, und ein Schwall weißen Staubes prasselte auf die beiden verdutzten Gestalten hinunter.
»Igitt«, beschwerte sich Miriam. »Was ist das denn für ein Zeug?«
Hustend flüchtete David mit seiner Begleiterin ein paar Schritte nach hinten. Keine Sekunde zu früh, denn plötzlich fiel etwas aus der Luke nach unten in den Raum hinein. Nachdem sie wieder etwas sehen konnten, erkannten sie die Leiter, die nun mitten im Raum stand und ins nächste Stockwerk führte. Sie klopften sich den weißen Staub so gut es ging von der Kleidung, und David versuchte, mit der Lampe die obere Etage auszuleuchten. Von hier unten konnte man allerdings nicht allzuviel sehen. »Miriam, ich gehe jetzt rauf. Ich weiß nicht, ob die Leiter uns beide trägt, deswegen warte am besten unten. Ich rufe dich, wenn du nachkommen kannst.«
»Ist gut.« Sie beobachtete David, wie er mit der Lampe in der Hand die Leiter hinaufstieg. Dann verschwand er durch das Loch. Wenige Augenblicke später hörte sie ihn, wie er über ihr herumlief.
»Oh, mein Gott!« rief David plötzlich. »Unfaßbar! Miriam, komm rauf, das mußt du dir ansehen!«
»Was? Was ist es?« fragte sie, während sie sich daran machte, die Leiter zu erklimmen. Sie streckte gerade ihren Kopf in den neu gefundenen Raum hinein, als sie schon sah, was er meinte. Die Wände dieses Raumes waren vollständig aus Glas, rundherum verlief draußen eine Art Sims mit einem Geländer, in der Mitte befand sich eine merkwürdige Apparatur, die wahrscheinlich zur Signalgabe gedient hatte. David stand draußen auf dem Sims und blickte sich um.
»Schau dich doch nur mal um«, sagte er, als Miriam zu ihm hinausgegangen war. »Du kannst von hier oben aus wirklich die ganze Insel sehen. Na ja, fast. Aber die Aussicht ist gewaltig.«
Miriam folgte seinem Vorschlag und sah auch die atemberaubende Weite, die sich aus dieser Höhe vor ihr auftat. Im hellen Mondlicht waren die Wälder und Orte der Insel deutlich zu sehen. Das Meer auf der anderen Seite glitzerte wie ein zweiter Sternenhimmel. »Es ist wunderschön«, sagte sie. »Ich weiß, ich habe gesagt, das Thema wäre für mich gestorben, aber ich glaube, jetzt möchte ich doch ein bißchen darüber reden. Ich glaube nach wie vor nicht daran, daß etwas geschehen wird, aber wenn ich mir vorstelle, daß all diese wunderbaren Dinge einmal verschwinden werden, blutet mir das Herz.«
»Alles findet einmal sein Ende«, antwortete David. »Irgendwann ist es soweit. Tja, und wir beide werden es noch erleben, ganz bestimmt.«
»Aber warum bist du dir da so sicher? Du hast doch nicht mehr, als ein paar Bilder und Vorstellungen, von denen noch nicht einmal klar ist, daß sie wirklich da waren.«
»Das stimmt schon, aber da ist noch etwas anderes. Eine Art Gefühl. Es steckt in mir drin. Irgendwie fühle ich, wie das Ende näherkommt. Und es wird nicht mehr lange dauern. Vielleicht geschieht es früher, als wir denken.«
»Ich will aber nicht, daß es geschieht«, sagte Miriam. »Besonders gerade jetzt nicht, wo ich doch zum ersten Mal jemanden gefunden habe, der mir wichtig ist. Gerade diese Zeit möchte ich so lange wie möglich genießen können.« Sie hatte sich an ihn gelehnt, und er umarmte sie locker. »Ich glaube es nicht, aber ich fürchte mich trotzdem vor der Möglichkeit.«
»Ich werde bei dir sein«, sagte er. »Die ganze Zeit und darüber hinaus. Wir beide schaffen das schon.« Nachdenklich blickten sie über das Meer. Plötzlich richtete David sich auf. »He, mir ist etwas eingefallen. Du hast mich auf eine Idee gebracht.«
»Ich? Wieso?«
Er lachte. »Du mit deinen verrückten Einfällen hast mir gezeigt, daß man alles machen kann, wenn man nur will. Jetzt habe ich etwas, das ich versuchen möchte. Was denkst du: Kriegen wir den Leuchtturm wieder in Betrieb?«
Sie machte sich entrüstet von ihm frei. »Jetzt willst du mich aber verarschen, oder was? Wie stellst du dir das denn vor?«
»Eigentlich ganz einfach. Diese Apparatur hier diente doch damals dazu, den Schiffen den Weg zu weisen. Warum sollte das denn heute nicht mehr möglich sein? Paß auf, es wird uns bestimmt einen Heidenspaß machen. Wir versuchen jetzt einfach mal herauszufinden, wie das Ding hier funktioniert.« Damit ging er wieder hinein und studierte den Aufbau des Mechanismus.
Miriam zuckte mit den Schultern. »Also gut. Warum nicht. Leuchten wir den Schiffen, die da so einsam und führerlos in den Weiten des Ozeans herumschippern.« David mußte über den hochtrabenden Ton in ihrer Stimme lachen, und auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gemeinsam machten sie sich jetzt daran, das Rätsel zu lösen.
Wie es sich herausstellte, handelte es sich um ein recht einfaches System. Es beruhte in der Hauptsache auf der Verbrennung eines Gemisches aus hell leuchtendem Gas. Die dabei entstehende Hitze wurde genutzt, um die Blende zu drehen, die dann für das Blinken des Turmes sorgte. Alles war noch vorhanden, die Blende ließ sich auch noch bewegen. Doch sie hatten keine Gasflasche. Also kletterten sie wieder hinunter und suchten im Wohnraum nach etwas Ähnlichem.
Auch hier gab es nichts dergleichen. Aber Miriam war auf einen anderen interessanten Fund gestoßen. »David. Komm mal her, ich hab einen Schlüssel gefunden.«
»Was für ein Schlüssel«, fragte er und kam mit der Lampe zu seiner Begleiterin herüber. Sie gab ihm den kleinen Metallgegenstand, und er sah ihn sich genau an. »Vielleicht paßt der zu unserer mysteriösen Tür unten«, überlegte er. »Sehen wir doch mal nach.«
Bald darauf hatten sie sich schon wieder auf den Weg nach unten gemacht. Dort blieben sie vor dem verschlossenen Eingang stehen. David steckte den Schlüssel in das Schloß und drehte ihn herum. »Ja!« rief Miriam, als das Schloß aufschnappte. »David! Er paßt wirklich!«
»Ja. Wollen mal sehen, was dahinter ist.« Er stieß die Tür mit leichtem Schwung auf und wurde direkt von einem stechenden Geruch nach Ammoniak begrüßt. »Pfui Spinne!« rief er und hielt sich die Nase zu. »Das ist ja schrecklich. Ich schätze, da sollten wir erst einmal lüften.« Er ging mit der Lampe ein Stück vom Eingang weg. »Ich hoffe, da hat sich nichts Explosives gebildet. Wenn da wirklich diese Gasflaschen drin sind, würde mich das nicht wundern.«
»Ich gehe mal rein. Bleib du inzwischen da mit der Lampe. Ich sehe schon genug.« Langsam tastete sie sich in den Raum vor. Die Luft war nur unter Mühen zu atmen, aber sie ging weiter hinein. Ein ganzer Haufen Kartons stand an der hinteren Wand aufgetürmt. Viele davon waren am Boden mit einer Art Kristallen bedeckt, die sich wohl aus einer ausgelaufenen Flüssigkeit gebildet hatten. Jeder der Kartons trug eine Aufschrift: Mg-Leuchtgas, Vorsicht, Feuergefährlich, Podero-Werke 1924. »Das müssen sie sein«, sagte Miriam leise zu sich. Sie zog einen der Kartons von den anderen weg und öffnete ihn. Darin befanden sich zwei kugelförmige Gebilde, ihrerseits noch einmal in Papier eingewickelt. »David! Ich hab sie gefunden!« Sie schloß den Karton wieder und schob ihn durch die Tür zu dem wartenden jungen Mann. »Hier. Leuchtgas. Aus den dreißiger Jahren! Mann, das ist ein Ding, was?«
»Klasse. Komm, wir bringen sie gleich rauf.« Wieder erklommen sie den Turm, sie malten sich jetzt schon alles Mögliche aus, was jetzt geschehen würde. Brannte dieses Zeug überhaupt noch? Würde die Mechanik des Turmes noch funktionieren? Sie konnten es kaum erwarten, es auszuprobieren.
David ging mit dem Karton in den Armen voraus, während Miriam die Lampe hielt. Oben im Wohnraum angekommen, stellte er die Kiste erst einmal ab. »Wir brauchen wahrscheinlich nur eine Flasche«, meinte er. »Ich bringe sie rauf, komm du mit der Lampe hinterher.«
Miriam ließ ihn vorklettern und ging dann hinterher. Gemeinsam stellten sie sich nun vor die uralte Konstruktion und wickelten das Papier von der kugelförmigen Flasche. Dann legten sie den Behälter vorsichtig in die passende Schale. Noch einmal holte Miriam ihr Feuerzeug heraus, doch diesmal wollten sie ein größeres Licht anzünden.
»Möchtest du?« fragte sie David.
Er winkte ab. »Nein, mach du nur. Ich sehe dir dabei zu.« Sein Blick ruhte auf der Oberfläche des Auslaßventils. Sie schimmerte hell, fast weiß. Miriam zündete das Feuerzeug an und näherte die Flamme dem Gegenstand vor ihr. »Sei vorsichtig«, warnte David. »Wenn es Feuer fängt, geh sofort einen Schritt zurück.«
Dann berührte die Flamme die Oberfläche. Zuerst geschah gar nichts. Dann verfärbte sich der erhitzte Bereich plötzlich dunkel, und es gab ein Geräusch, als wenn man eine Benzinpfütze in Brand setzt. Miriam zog ihre Hand weg und beobachtete die Flamme, die immer höher wuchs. Ein hellweißes Licht erstrahlte einen Moment später, weißlicher Rauch stieg auf und zog durch ein, offenbar für diesen Zweck angelegtes, Loch in der Decke ab. Dann wurde es sehr warm. David führte Miriam von der Maschine weg zu den Glaswänden. Wenig später hörten sie ein leises Knarren, dann begann sich die Metallblende plötzlich zu bewegen. Es dauerte nicht lange, bis sich die Blende gleichmäßig um den strahlenden Körper drehte. Der Leuchtturm war zu neuem Leben erwacht.
»Es funktioniert. Wir haben's geschafft.« Fasziniert beobachtete Miriam den sich drehenden Mechanismus. »Ob uns hier jemand sieht?«
»Wahrscheinlich gibt es noch ein paar Schiffe da draußen, aber sie werden sich kaum für unser Licht interessieren.«
»Laß uns nach draußen gehen«, meinte Miriam. »Ich möchte sehen, wie es von dort aus aussieht.«
Sie kletterten wieder in den Wohnraum hinunter und verließen dann den Turm über die Wendeltreppe. Bald schon standen sie wieder unter freiem Himmel und blickten zu der nun hell erleuchteten Brüstung hinauf. Der helle Lichtkegel schien durch leichten Nebel in die Nacht hinaus. Unermüdlich drehte er sich um die eigene Achse. Die beiden umrundeten den Turm und standen nun dem Meer zugewandt. Hier führte ein schmaler Pfad steil abwärts zum Ufer hin. Miriam war schon unterwegs, bevor David es richtig mitbekommen hatte. Verdutzt folgte er ihr.
Unten war der Boden felsig, durchsetzt mit vielen kleineren Löchern, in denen sich das Meerwasser gesammelt hatte. Das Wellenrauschen war hier viel lauter und wurde von der Steilwand, auf der auch der Leuchtturm stand, zurückgeworfen. Miriam wanderte langsam am Ufer entlang, bis David sie eingeholt hatte. Dann blickte sie hinauf. Der Anblick des kreisenden Lichtes war faszinierend. Miriam fühlte sich siebzig Jahre zurückversetzt, in die Zeit, als der Turm noch jede Nacht für die Sicherheit der Schiffe gesorgt hatte. Sie stellte sich vor, sie wäre mit David auf dieser Insel gestrandet und suchte nun nach einer Unterkunft vor dem nahenden Sturm. Dann sah sie einen dunklen Schatten in der Felswand. Es sah wie eine Höhle aus. »David!« Sie stieß ihn sanft an. »Was ist das da drüben?«
Er folgte ihrem ausgestreckten Arm und sah, was sie meinte. »Ich weiß nicht. Normalerweise geh ich hier nicht spazieren. Aber es sieht aus, als wäre dort eine Art Überhang.« Er blickte noch eine Zeit lang in dieselbe Richtung. »So wie ich dich kenne, willst du es sofort erforschen, was?«
»Das kannst du laut sagen«, gab sie lachend zurück. »Wenn du es noch nicht getan hast, werde ich es eben machen. Ich verstehe nicht, wie man hier leben kann, ohne die Umgebung erforscht zu haben.«
»Nein, das verstehst du wohl nicht. Dazu bist du zu neugierig, denke ich. Das fehlt mir fast völlig. Aber mittlerweile bekomme ich einen Einblick darin, was du so schön an solchen Expeditionen findest. Ich habe nie so etwas gemacht, irgendwie hatte ich nie den Drang, das Unbekannte zu erforschen. Jetzt macht es mir richtig Spaß.« Er blickte sie an. »Worauf warten wir also noch?«
Dann brachen sie in die Richtung der Höhle auf. Der Weg war nicht leicht, sie mußten sehr darauf achten, wo sie hintraten. Überall waren diese wassergefüllten Mulden, die umgangen werden mußten. Außerdem lag viel loses Gestein herum, das unter ihren Füßen wegrutschte. Doch das gab der ganzen Sache eine gewisse Spannung, die ihre Vorfreude noch größer werden ließ. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich vor dem Eingang zu einem kleineren Tunnel standen. Jetzt erst bemerkten sie, daß die Petroleumlampe ausgegangen war.
»Und was jetzt?« fragte Miriam leise. »Es ist ziemlich düster da drinnen.«
David nahm sie an die Hand. »Jetzt nur keinen Rückzieher machen«, sagte er. »Nun sind wir hier, dann gehen wir auch rein. Na los, es wird schon nichts passieren, ich werde dich beschützen.«
»So weit kommt's noch«, erwiderte sie entrüstet und ging voraus. »Also los, gehen wir«, rief sie ihm über die Schulter zu. David folgte ihr grinsend. So ganz verstand er sie immer noch nicht. Er hoffte, es blieb ihm noch genügend Zeit, sie besser kennenzulernen.
Bald schon war vor ihnen alles dunkel. Zum Glück war der Boden des Ganges einigermaßen eben, das machte das Laufen angenehmer. Sie tasteten sich an einer Wand entlang, bis vor ihnen ein kleiner Lichtfleck hinter einer Biegung auftauchte. Mutiger geworden gingen sie jetzt etwas schneller. Es dauerte nicht lange, bis sie den Ausgang erreichten. Jetzt blickten sie in eine größere Kaverne. Sie hatte keinen Boden, vielmehr war sie mit Wasser gefüllt, das durch einen großen gebogenen Eingang vom Meer her hereinströmte. Nur eine felsige, etwa drei Meter hohe Zunge stieß in das Becken hinaus. Das bleiche Licht des Vollmondes wurde von den Wellen reflektiert und beleuchtete sacht das Höhleninnere.
»Ist das nicht phantastisch?« Miriam ging ein paar Schritte auf den Steg hinaus. »Fast wie in einem Abenteuerfilm, oder?«
David nickte, blieb aber wo er war. Ihm war dieser Ort nicht geheuer. Er beobachtete seine übermütig herumschlendernde Partnerin, wie sie immer weiter auf den Steg hinausging, bis sie an dessen Ende angekommen war. Dort drehte sie sich um und blickte über das Meer. Dann stieß sie einen überraschten Schrei aus. »Was ist los?« rief David zu ihr hinüber.
»Auf dem Meer, da ist etwas!« kam es zurück. »Es sieht wie ein Segelschiff aus!« Sie begann, aufgeregt mit den Armen herumzufuchteln.
»Was? Das gibt es doch gar nicht. Bist du sicher?«
»Komm her und sieh selbst, wenn du mir nicht glaubst.« Sie starrte immer noch aufs Meer hinaus. Von seiner Position aus konnte David nichts erkennen. Also beschloß er, die Vorsicht beiseite zu lassen, was nützte das schon noch. Er ging über den Steg und gesellte sich zu Miriam. Jetzt sah er auch, was sie meinte. Ein dunkler Schatten näherte sich dem Eingang der Höhle. Er hatte tatsächlich die Form eines Schiffes, ein kleineres Segelschiff konnte so aussehen. Miriam nahm seine Hand und drückte sie. »Was bedeutet das?« fragte sie leise. »Warum kommt es genau hierhin?«
»Ich weiß nicht«, antwortete David. »Jedenfalls kann es nicht wegen des Leuchtturms sein. Es hält ziemlich genau auf diese Höhle zu. Und die würde er auch mit dem Licht kaum sehen können. Da weiß jemand ganz genau, wo er hinwill.«
»Sollen wir warten?«
Nach ein paar Sekunden sagte David: »Warum nicht? Dann wissen wir wenigstens, worum es geht. Vielleicht wird es ja interessant.«
So standen sie Hand in Hand auf dem Steinsteg, während das Schiff näherkam. Schließlich fuhr es in die Höhle ein und legte an. Gespannt warteten die beiden, aber nichts geschah. Niemand ließ sich blicken, keine Menschenseele kam von Bord. Der kleine Segler lag still im Wasser. Beinahe zehn Minuten warteten sie, bis Miriam dann das Wort ergriff. »Sollen wir an Bord gehen?«
David zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, was die vorhaben.«
»Wenn überhaupt jemand an Bord ist. Irgendwie ist mir das alles nämlich viel zu still.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Aber wer hat es dann so genau hier in die Höhle gesteuert?«
»Ich glaube, es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszukriegen«, sagte David und setzte einen Fuß auf die Reling. »Es wird sich schon noch alles klären. Sehen wir uns erst einmal um.« Er stieg auf das Deck und reichte Miriam die Hand, um ihr herüberzuhelfen. Sie fühlte sich an die Fähre erinnert, als der Boden unter ihren Füßen leicht schaukelte. An Deck war niemand, das war klar zu sehen. Also suchten sie den Zugang zu den Kabinen. Schließlich entdeckten sie eine niedrige Tür, hinter der sich eine schmale Treppe befand. Aber auch unten war niemand zu sehen. Die Zugänge zu den zwei Räumen, die es hier gab, standen alle offen, es gab hier eine Kombüse und eine kleine Koje mit zwei Liegen. Eine Besatzung fand sich nicht. Sie waren völlig alleine.
»Sehr komisch finde ich das aber nicht«, meinte Miriam. »Irgendwo muß doch jemand sein.«
»Anscheinend nicht«, erwiderte David. »Es klingt zwar unsinnig, aber das Schiff ist wohl von selbst in die Höhle gefahren.«
Sie wollte gerade etwas erwidern, als von draußen ein tiefes Grummeln hörbar wurde. Dann begann das Boot zu schaukeln. »Was ist das?«
»Schnell, an Deck! Da geht etwas vor!« Sie beeilten sich, nach oben zu kommen. Das Dröhnen wurde lauter, sie sahen, wie sich der Steg in rascher Folge hob und senkte. Die Wellen waren stärker geworden. Ab und an fiel ein Stein von der Höhlendecke. »Das sieht wie ein Erdbeben aus! Wir sollten schnellstens verschwinden.«
»Wie denn?«
Diese Frage beantwortete sich beinahe sofort von selbst. Das Boot begann, sich wie von Geisterhand gelenkt vom Steg zu lösen und drehte jetzt den Bug wieder dem Ausgang der Höhle zu. Ein leichter Windstoß, der durch die Kaverne ging, blähte die Segel, und das Schiff nahm Fahrt auf. Sie glitten nach draußen und trieben von der Küste weg auf Meer hinaus. Sprachlos beobachteten Miriam und David, wie die Taue der Segel plötzlich in hellem Glanz zu strahlen begannen. Der Leuchtturm sandte immer noch seine Signale über das Meer. Als sie sich zur Küste hin umdrehten sahen sie, wie durch das Beben große Teile des Landes zerstört wurden. Heller Feuerschein zeigte sich am Horizont. Wieder und wieder krachte und rumpelte es. Eine riesige Flammenzunge schoß in den Himmel. Vor ihren Augen versank die Insel mit lautem Gurgeln im Meer, doch wie ein Wunder blieben sie vom Sog des Wassers verschont und fuhren immer weiter über die See. Das Festland, das sie jetzt sehen konnten, war nur noch ein brennender Streifen. Erdspalten hatten sich geöffnet, und rotglühende Lava strömte über das Land, in dem bis vor ein paar Minuten die Menschen noch gelebt hatten.
»Mein Gott! Sieh dir das an, David! Das ist der Weltuntergang! Die Welt geht unter!«
David legte einen Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich. »Was hast du denn gedacht?«
ENDE