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(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)16.07.1994)
Es war wie immer, Christian kam zu spät. Ungeduldig wanderte Sonja in ihrer kleinen gemütlichen Wohnung auf und ab, während der Fernseher unbeachtet vor sich hinflimmerte. Sie hatte sich schon langsam mit dieser kleinen Macke ihres Freundes abgefunden, aber an diesem Abend wäre sie doch gerne pünktlich gewesen. Lina, ihre beste Freundin, feierte heute ihren achtzehnten Geburtstag. Sonja konnte sich schon vorstellen, was an diesem Abend im Hause der Cagliellos los sein würde. Linas Eltern waren für eine Woche auf Geschäftsreise, also würde niemand da sein, um die Party zu überwachen. Und eine Party erster Klasse versprach es zu werden. Das Cagliello-Haus war eine mittlere Villa, mit unendlich vielen Zimmern und riesigen Räumen. Rosario und Elena, Linas Eltern, besaßen eines der größeren Hotels der Stadt und zwei weitere in Lecce, ihrer Heimatstadt in Italien. Lina sah ihre Eltern nur selten, immer dann, wenn gerade keine geschäftlichen Dinge zu erledigen waren. Die restliche Zeit über verbrachte sie damit, zusammen mit Sonja in die Disco zu gehen, um sich nach einem lohnenswerten jungen Mann umzusehen, den sie näher kennenlernen mochte. Soweit Sonja wußte, hatte es bereits mehrere solcher »näheren Bekanntschaften« gegeben, doch bisher war noch nichts Festes daraus hervorgegangen. Ganz anders bei ihr selbst, sie hatte sich dort zum erstenmal verliebt, und seitdem waren sie und Christian ein Paar.
Als sie jetzt darüber nachdachte, verstand sie immer noch nicht, wie das hatte passieren können. Wieso hatte sie sich gerade in ihn verguckt? Sie war an diesem Abend eigentlich überhaupt nicht darauf aus gewesen, jemanden kennenzulernen. Wie üblich hatte Lina irgendwann gegen acht angerufen und ihr mitgeteilt, daß sie wieder einmal Langeweile hatte. Sonja besaß damals gerade seit einem halben Jahr ihre eigene Wohnung und hatte sich noch nicht an die Stille um sich herum gewöhnt. Es war schon eine ganz andere Sache, ihre Mutter und die beiden kleineren Geschwister nicht mehr ständig um sich zu haben. Aber wenigstens waren nun die ewigen Streitereien mit ihrer Mutter vorbei. Hier konnte sie endlich ihr eigenes Leben aufbauen, ohne daß sie darauf achten mußte, ob das was sie gerade tat, nicht vielleicht auf Ablehnung stoßen würde. Dennoch war sie immer wieder froh darüber, eine solch temperamentvolle und unternehmungslustige Freundin zu haben, die sie regelmäßig mitriß. Sonja war immer wieder fasziniert von dem listigen Funkeln in Linas dunkelbraunen Augen, wenn sie etwas ausheckte. Sie waren schließlich in die Disco gegangen, wo sie sich bei einem Bier an der Theke unterhielten. Eigentlich konnte man es kaum unterhalten nennen, sie quatschten eigentlich nur allerhand dummes Zeug und lachten dabei Tränen. Irgendwie war es daher schon ein Wunder, daß sie Christian überhaupt hereinkommen gesehen hatte. Aber wahrscheinlich wäre er ihr wohl früher oder später ohnehin aufgefallen. Er trug komplett schwarze Lederklamotten, die an vielen Stellen mit Nieten besetzt waren. Auf der Jacke war hinten ein silberner Adler eingestickt, der über einem aufgemotzten Motorrad schwebte. Seine braunen Haare waren mit Gel nach hinten gekämmt, und trotz des schummrigen Lichts in dem verräucherten Raum trug er eine schmale Sonnenbrille.
Sie erinnerte sich daran, daß sie gar nicht mehr mitbekam, was Lina zu ihr sagte, und daß sie nur noch auf den etwa einsachtzig großen Typen starrte, der von vielen anderen mit Handschlag und lautem Gejohle begrüßt wurde. Sein Gang war arrogant, die Art, wie er die anderen begrüßte sprach von völliger Herablassung. Schließlich setzte er sich an einen der Tische, wo er gleich darauf ein Getränk spendiert bekam. Lina hatte sie schließlich aus ihrer Trance gerissen, indem sie ihr eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Sonja? Geht's dir noch gut?«
Sie zuckte erschreckt zusammen und wäre beinahe vom Hocker gekippt. »Lina! Großer Gott, mein armes Herz.« Sie legte dramatisch eine Hand vor die Brust. »Tu das nie wieder, ja?«
»Was denn?« wollte ihre Freundin wissen. »Eigentlich habe ich mich nur gefragt, wen du die ganze Zeit so anstarrst.«
»Niemanden. Ich hab einfach nur nachgedacht.«
»Dann kann ich seit heute abend Gedanken lesen. Was findest du an diesem Macho?«
»Gar nichts. Wie kommst du darauf? Er ist mir halt aufgefallen, ist ja wohl auch kein Wunder, so wie der rumläuft.«
Angelina hatte ein ironisches Lächeln aufgesetzt. »Das wäre dann aber das erste Mal gewesen, daß du mit einer solchen Meinung hinterm Berg gehalten hast. Ich denke nur an diesen Blondie letzte Woche-«
»Das war ja wohl auch was ganz anderes«, gab Sonja zurück. »Der hat sich ja aufgeführt, als gehöre ihm der Laden hier. Und außerdem sah der wirklich lächerlich aus, mit seinen weißen Cowboystiefeln.«
»Wogegen schwarze Stiefel natürlich viel geschmackvoller sind.«
»Ach halt doch die Klappe.«
Irgendwie war sie dann doch noch mit Christian zusammengekommen. Auf der Tanzfläche hatte sie ihn bemerkt, wie er mit seinen Freunden verschiedene Mädchen anbaggerte. Eigentlich hätte sie das ja abstoßen müssen, aber sie war irgendwie fasziniert von ihm. Dann keimte eine gewisse Durchtriebenheit in ihr auf. Sie wollte wissen, was hinter dieser coolen Fassade wirklich steckte. Die meisten der Mädchen, die von der kleinen Männergesellschaft angesprochen wurden, wandten den Blick schüchtern ab, oder grinsten, aber Sonja hatte etwas anderes vor. Sie tanzte sich langsam zu den Jungs hinüber und blickte Christian dann geradewegs ins Gesicht. Seine Reaktion hatte sie vorausgesehen. Er blickte sich um, ob sie tatsächlich ihn ansah, dann setzte er sofort wieder die Machomiene auf, während er zu ihr herüberschlenderte. Aber so einfach wollte sie es ihm nicht machen. Sie zog sich ins Gewühl der Tanzenden zurück, bis sie außer Sicht war. Einen Augenblick später eilte sie dann auch schon die Treppe hinauf, von deren oberen Absatz aus sie die gesamte Tanzfläche überblicken konnte. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er sie oben entdeckte. Daraufhin war sie wieder verschwunden und wartete nun mit Lina an der Theke, die alles beobachtet hatte.
Er war tatsächlich nach oben gekommen, um sich mit Sonja zu unterhalten. Sie verabredeten sich für den nächsten Abend, an dem er ohne seine coole Aufmachung erschien. So, wie er wirklich war, faszinierte er sie noch mehr, und sie war sich sicher, daß ihr erster Eindruck von ihm richtig gewesen war. Seitdem dauerte ihre Freundschaft an, wenn auch mit kleinen zeitlichen Schwierigkeiten.
Sonja blickte gerade auf die Uhr, als es klingelte. Etwas wütend, gleichzeitig aber auch erleichtert ging sie zur Tür und drückte auf den Summer. Unten klapperte es, und wenig später kam Christian die Treppe herauf. Sie bat ihn herein und schloß die Tür.
»Wartest du schon lange?« fragte Christian mit einem Kuß auf ihrer Wange.
»Unwesentlich«, meinte sie und ging ins Wohnzimmer, um den Fernseher abzuschalten. »Höchstens eine halbe Stunde.«
»Ich wollte mich eigentlich ja auch beeilen, aber mir ist was dazwischengekommen.«
Sonja kam zurück, mit ihrer weißen Lieblingsjacke bekleidet. »Schon gut. Aber laß uns jetzt fahren, bevor wir noch eine Stunde zu spät dran sind.«
Zusammen gingen sie die Treppe hinunter und stiegen in Sonjas Twingo, der am Bürgersteig geparkt stand. Die Straßen waren zu dieser Zeit schon recht leer, langsam aber sicher kündigte sich der Sonnenuntergang an. Sie brauchten nicht lange, um zu Lina zu kommen, etwa eine Viertelstunde nach ihrer Abfahrt folgten sie dem langen Weg, der zum Cagliello-Haus führte. Auf der Parkbucht vor dem Eingang hatten bereits drei andere Wagen ihren Platz gefunden. Drinnen war schon laute Musik im Gange, anscheinend waren sie die letzten.
Die Tür stand offen, Sonja ging mit Christian durch den Flur in das Wohnzimmer, aus dem die Musik kam. Drinnen vergnügten sich die restlichen Partygäste, tanzten, aßen und tranken. Lina saß mit zwei ihrer Schulfreundinnen auf der Couch und schwatzte. Auf dem Marmortisch vor ihr waren eine Menge Gläser und Flaschen aufgestellt, die wohl für die bereits jetzt schon sehr ausgelassene Stimmung verantwortlich waren. Dann bemerkte Lina die beiden Neuankömmlinge. »Sonja! Christian! Hi!« Sie stand auf und kam zu ihnen herüber. »Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr.«
»Das glaubst du aber auch nur«, gab Sonja zurück. »Deinen Achtzehnten werde ich wohl kaum verpassen wollen. Herzlichen Glückwunsch.« Sonja umarmte ihre Freundin, wobei sie darauf achtete, ihr Geschenk sorgfältig hinter dem Rücken verborgen zu halten. Nachdem Christian ebenfalls gratuliert hatte, machten sie es sich auf den bereitstehenden Sesseln am Tisch bequem.
»Was möchtet ihr trinken?« fragte Lina mit einem verschmitzten Lächeln.
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, meinte Christian und legte etwas auf den Tisch. Sonja schloß sich ihm einen Augenblick später an. »Mach sie auf, wenn du dich traust.«
»Und ob ich mich traue!« Lina beugte sich über den Tisch und begann eifrig, die beiden kleinen Pakete auseinanderzuwickeln. »Oh, Wahnsinn!« rief sie entzückt aus, nachdem sie eines der Geschenke ausgepackt hatte. »Hey, stark! Noch eins«, fügte sie hinzu, nachdem sie mit dem zweiten fertig war. Sie stellte die kunstvollen Designergläser vor sich auf den Tisch. »Die sehen ja toll aus! Wo habt ihr die denn her?«
»Kleines Geheimnis«, meine Sonja grinsend. »Auf jeden Fall haben wir lange danach gesucht.«
»Na los, dann müssen wir sie jetzt auch einweihen.« Flink goß Lina in jedes Glas einen Schluck Batida und füllte den Rest mit Kirschsaft auf. Sonja lehnte dankend ab und nahm sich ein Glas Sprite. »Auf ein weiteres Jahr mit meinen besten Freunden«, sagte Lina mit erhobenem Glas.
»Von mir aus«, meinte Christian und hob das seine. »Auf ein weiteres Jahr.«
»Prost«, sagte Sonja. Sie stießen gemeinsam an.
Nachdem Sonja ihr Glas wieder abgestellt hatte, spürte sie ein leichtes Kribbeln in ihrem Körper. Es kam garantiert nicht von ihrem Getränk, es fühlte sich mehr wie ein schwaches Zittern an. Einen Moment später war es auch schon wieder verschwunden. Etwas verwundert blickte sie in die Runde, konnte aber nichts feststellen, was ungewöhnlich wäre. Also dachte sie nicht mehr weiter darüber nach, sondern genoß statt dessen die wundervolle Atmosphäre.
Der Abend flog an ihnen vorbei. Sie tanzten, unterhielten sich und machten kleine Spielchen. Lina war schon bald ziemlich angeheitert, und auch Christians Augen bekamen ein leicht glasiges Aussehen. Den meisten der übrigen Gäste ging es nicht anders. Besonders, nachdem sie das Städte-Spiel hinter sich hatten, bei dem jeder in der Runde nacheinander eine Stadt nannte und der Nächste eine weitere, die mit dem Endbuchstaben der vorigen beginnen mußte. Fiel einem die Stadt nicht schnell genug ein, mußte man ein Gläschen Apfelkorn trinken. Es dauerte natürlich nicht lange, bis sie alle soweit waren, daß sie das Spiel abbrechen mußten, weil es keinen Sinn mehr hatte.
Jetzt, gegen halb drei Uhr nachts, lagen die meisten der Gäste irgendwo und schliefen. Lina, Christian und Sonja waren noch wach, genau wie Antonio und Peter, die nüchtern geblieben waren, um die anderen nach Hause zu fahren. Zusammen brachten Sonja, Lina und Christian die Schlafenden in ihre Autos und wünschten den beiden Fahrern noch eine gute Nacht, als sie davonfuhren.
Die Musik spielte noch leise, der tiefe sonore Gesang von Crash Test Dummies Mmm mmm mmm mmm begleitete den sanften Ausklang der Feier. Lina entspannte sich auf der Couch, ihre langen schwarzen Locken fielen über die Lehne bis fast zum Boden hinunter, während Sonja und Christian es sich auf einem der Sessel gemütlich gemacht hatten. Wie nach jeder Feier dieser Größenordnung gab es auch hier eine Menge aufzuräumen. Zusammen brachten sie schließlich das gebrauchte Geschirr in die Küche und stellten es in die Spülmaschine. Die Salatreste und die übrig gebliebenen Schnittchen wurden sorgfältig abgedeckt in den Kühlschrank gestellt, damit sie nicht in der sommerlichen Wärme schlecht wurden. Schließlich sammelten sie die umherliegenden Kissen ein, stellten die Blumenvasen wieder an ihre Plätze und gingen mit dem Staubsauger über den Teppich, damit es nicht mehr allzu schlimm aussah. Es war bereits halb vier, als sich Sonja und Christian von Angelina verabschiedeten und nach Hause fuhren.
Sonja wurde wach, als sie Schritte hörte, die sich ihrem Bett näherten. Sie tastete nach dem Lichtschalter, konnte aber den Nachttisch nicht finden. »Wer ist da?« fragte sie. Christian konnte es nicht sein, er war gleich nachdem sie hier angekommen waren, nach Hause gegangen. Angst keimte in ihr auf. »Wer sind Sie?« fragte sie noch einmal, aber sie bekam keine Antwort. Nur die Schritte waren weiterhin zu hören. Furchtsam setzte sie sich in ihrem Bett auf und suchte nach der Tischlampe. Jetzt vernahm sie die Geräusche direkt neben sich. Endlich fand sie den Schalter, das Licht vertrieb die ungewissen Schatten aus dem Raum. Doch die Gestalt, die an ihrem Bett stand, verschwand nicht einfach so. Es war ein Mann in dunklem Anzug, der nun langsam seine Hände nach ihr ausstreckte. Panisch schrie sie laut auf, packte die Tischlampe und warf sie dem Fremden vor den Kopf. Glas klirrte, ein dumpfer Aufschlag folgte, dann kehrte wieder Stille und Dunkelheit ein. Zitternd kroch Sonja langsam auf die gegenüberliegende Seite des Bettes und versuchte, kein Geräusch zu machen, sie wagte nicht einmal zu atmen. Immer noch herrschte absolutes Schweigen. Von draußen waren die nächtlichen Geräusche der Kleinstadt zu hören, sonst rührte sich nichts. Langsam tastete sie sich rückwärts bis zur Tür vor, wo sie den Lichtschalter fand. Doch das Licht funktionierte nicht. Sie drückte den Schalter mehrmals hoch und runter, doch nichts geschah. Verdammter Mist, fluchte sie in Gedanken. Behutsam öffnete sie die Tür in den Flur und verließ schnell das Schlafzimmer. Hier stand ihr Telefon. Sie hob den Hörer ab und wählte, hielt aber bei der zweiten Ziffer inne. Und wenn es nun doch Christian war und ich ihn nicht erkannt habe? Oh Gott, dann habe ich ihn womöglich verletzt. Dieser neue Gedanke ließ sie auflegen und in die Küche gehen, wo sie ihre Taschenlampe aufbewahrte. Leise schlich sie sich wieder zum Schlafzimmer zurück, diesmal mit dem schützenden Licht der Lampe. Vorsichtig öffnete sie die Tür und lauschte. Immer noch herrschte Stille. Es war niemand zu sehen.
Neben dem Bett, in dem sie gerade noch gelegen hatte, befand sich ein Durcheinander aus zerbrochenem Glas, Porzellan und Drähten, in der Steckdose neben ihrem Bett hingen noch die Überreste des Anschlußkabels, das sie bei ihrem Wurf auseinandergerissen hatte. Die blanken Kupferenden waren dabei aneinandergeraten und hatten den Kurzschluß verursacht. Sonja schob sich eine ihrer langen blonden Strähnen aus dem Gesicht. Es sah so aus, als hätte sie gerade einen Traum erschlagen.
Nachdem sie die Haustür überprüft, das Kabel ausgesteckt und die Sicherung im Flur wieder eingeschaltet hatte, kehrte sie zum Schlafzimmer zurück. Obwohl sie mittlerweile zu der Ansicht gelangt war, sich alles nur eingebildet zu haben, untersuchte sie den Raum gründlichst nach Zeichen von der Anwesenheit anderer Personen. Sie öffnete sogar ihren Kleiderschrank, um auch diese Möglichkeit auszuschließen. Endlich war sie zufrieden und löschte das Licht. Die Taschenlampe aber behielt sie bei sich, zur Sicherheit.
Am nächsten Morgen war sie erstaunt, wie schnell sie doch wieder eingeschlafen war. Der Schrecken hatte ihr eigentlich recht tief in den Knochen gesessen, selbst jetzt war sie noch ein wenig zittrig, als sie über ihr kleines Erlebnis nachdachte. Doch wahrscheinlich war sie so müde gewesen, daß ihr selbst das nicht den Schlaf rauben konnte. Nachdenklich musterte sie den kleinen Trümmerhaufen. Da war nichts mehr zu machen, die Lampe war hin. Auch der Schrank hatte eine dicke Delle abbekommen. In Gedanken versunken räumte sie die Scherben zusammen und warf sie in den Mülleimer. Sie beschloß, etwas zu essen und dann Christian anzurufen, um ihn nach seiner Meinung zu dem Vorfall zu befragen. Sie hatte sich gerade den Tisch gedeckt, als sie plötzlich ein leichtes Schwindelgefühl überkam. Sonja hielt sich an einem der kleinen Küchenstühle fest, um nicht zu stürzen. Schwarze Punkte flimmerten vor ihren Augen, und sie verlor beinahe das Bewußtsein. Sie öffnete die Augen und sah in das Gesicht des Mannes, der gestern nacht an ihrem Bett gestanden hatte. Ein Schrei kletterte ihre Kehle hinauf, doch sie brachte keinen Ton heraus, so als wäre sie stumm geworden. Dann bemerkte sie, daß sie sich nicht bewegen konnte, ihr Körper war gefesselt, sie lag auf dem Boden eines dunklen unbekannten Raumes. Ihre Hände waren hinter ihrem Kopf angebunden, die Fußgelenke an zwei Punkten von einem Seil fest umschlungen. Kurze Impressionen eines einsam gelegenen Landhauses flackerten in ihrem Geist auf, eine mit Staub und Spinnweben übersäte Steintreppe. Doch dann beugte sich der Mann über sie, Sonja spürte seine Hände über ihren nackten Körper gleiten, wie er ihre Haut betastete. Und dann war er über ihr, zwang sich in sie. Schmerzen wallten in ihr auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sonja erwachte auf dem Küchenfußboden, während jemand sie kräftig schüttelte. Voller Angst schrie sie auf und setzte sich gegen den vermeintlichen Angreifer zur Wehr. Doch schließlich wurden ihre Handgelenke gepackt, und sie hörte eine bekannte Stimme: »Sonja! Ich bin es, Christian! Wach auf! Sonja, bitte!«
Sie stellte ihre Befreiungsversuche ein und öffnete ihre Augen endgültig. Es war tatsächlich ihr Freund, sein Gesichtsausdruck zeigte starke Besorgnis und Verwunderung. Sonja holte tief Luft, und plötzlich brach sie in Tränen aus.
Es dauerte gut eine halbe Stunde, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Die Tränen waren mittlerweile versiegt, doch sie zitterte immer noch am ganzen Körper. Christian hatte sie ins Wohnzimmer gebracht, wo sie sich nun an den Tisch gesetzt hatte und einen heißen Tee trank. Er ließ sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen. Geduldig wartete er, einen Arm beruhigend um ihre Schultern gelegt, bis sie ihm sagen würde, was geschehen war. Als sie endlich soweit war, daß sie ihm alles erzählen konnte, sprudelte sie die Geschehnisse so schnell hervor, daß er sie mehrmals unterbrechen mußte, um alles mitzubekommen. Am Schluß waren sie nicht viel klüger als zuvor, beschlossen aber, der Sache auf den Grund zu gehen.
»Wie genau hat denn das Haus ausgesehen?« fragte Christian.
»Es hatte nur ein Stockwerk, dann gleich darüber das Dach. Dafür war es sehr breit, knallrot angestrichen. Es stand gleich am Rand von einem Wald, ich meine auch, da wäre ein Bach gewesen. Und ein Feldweg, direkt am Haus vorbei.«
»Kennst du die Stelle?«
Sonja schüttelte den Kopf. »Ich hab das noch nie gesehen.«
Christian dachte einen Augenblick nach. »Ich wüßte auch nichts von einem solchen Haus. Hast du denn eine Ahnung, wo das gewesen sein könnte? Vielleicht grob die Richtung?«
»Nein. Absolut nicht. Aber vielleicht kann Lina uns helfen!« Ihre Augen begannen zu glänzen. »Sie kennt sich doch hier aus wie keine Zweite. Ich glaube es gibt nur wenige Stellen hier, wo sie noch nicht gewesen ist.«
»Dann rufen wir sie doch an«, schlug Christian vor.
»Wir sollten besser gleich hinfahren«, meinte Sonja. »Ich schätze, ich kann ihr das viel besser persönlich erklären.«
»Wie du meinst.« Christian stand auf. »Auf geht's, die Detektive sind bereit.«
»Mach dich nicht darüber lustig, Christian«, gab sie scharf zurück. Auch sie erhob sich. »Ich fand das weniger zum Lachen.«
»'tschuldige. Ich wollte dich nicht kränken. Ist mir so rausgerutscht. Wollen wir los?«
Sonja zog sich ihre Schuhe an, und gemeinsam stiegen sie wieder in ihren Kleinwagen, mit dem sie dann wie schon gestern zu Lina hinüberfuhren. Diese zeigte sich überrascht, sie so früh am Nachmittag schon wiederzusehen. »Ich hab gedacht, ihr würdet bis in die Puppen schlafen. Mein Gott, Sonja! Wie siehst du denn aus?« Sie bat die beiden, erst einmal reinzukommen, damit sie es sich im Wohnzimmer, das mittlerweile aufgeräumt war, bequem machen konnten.
Sonja war wirklich anzusehen, daß sie eine schlimme Nacht hinter sich hatte. Unter ihren grauen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, die blonden Haare hingen unordentlich durcheinander, und auf ihren Wangen konnte man deutlich die Spuren der getrockneten Tränen verfolgen. »Was ist mit dir los?« fragte Lina und setzte sich ihr gegenüber auf einen der Sessel.
»Eigentlich weiß ich das auch nicht so genau«, begann Sonja. »Aber ich werde versuchen, es dir zu erklären.« Stück für Stück erzählte sie die Ereignisse der vergangenen Nacht und des heutigen Morgens. Angelina hörte aufmerksam zu und unterbrach sie nicht ein Mal. Nachdem die Geschichte beendet war, fragte Sonja: »Hast du vielleicht dieses Haus schonmal gesehen? Ich meine, du warst doch hier schon bestimmt in jedem Winkel.«
»Hör mal, wollt ihr mich verarschen? Du kennst es nicht?«
»Deswegen bin ich ja hier.«
Lina hob eine Hand. »Schon gut, ich meine ja nur, weil ich weiß, von welchem Haus du sprichst. Da kommt es mit eben merkwürdig vor, daß du es noch nicht gesehen hast. So exakt, wie deine Beschreibung paßt, kann ich's kaum glauben.«
»Wo steht es?«
»Auf der anderen Seite des Waldes, drei Kilometer von hier, schätze ich. Mit dem Auto dürfte das in ein paar Minuten geschafft sein.« Scheinbar hatte Lina schon beschlossen, daß sie dorthin fahren sollten, obwohl weder Sonja noch Christian ein Wort davon erwähnt hatte. »Was denkst du werden wir da finden?«
Sonja zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht gar nichts, womöglich war alles einfach nur Einbildung. Ich bin wohl nur etwas überreizt.«
Energisch schüttelte Christian den Kopf. »Das sehe ich anders. Ich kenne dich, wenn du gereizt bist, das hat aber gar nichts mit deinem jetzigen Zustand gemeinsam.«
Sonja wollte schon protestieren, aber ihre Freundin schaltete sich in das Gespräch ein. »Chris hat recht. Da ist bestimmt mehr an der Sache. Ich hätte deine Geschichte wahrscheinlich auch als Streß gedeutet, wenn du mir nicht die Beschreibung gegeben hättest. Die war mir dafür doch etwas zu genau. Nenne es ein Gefühl, aber ich wette, es wird noch ein interessanter Tag werden.«
Sie stiegen gemeinsam in den Twingo ein. Sonja war immer noch skeptisch, obwohl sie es als einzige am eigenen Leibe erfahren hatte. Aber Lina, die hinter Sonja Platz genommen hatte, beharrte so fest auf ihrer Vermutung, daß sie schließlich zugestimmt hatte. Zumindest hatten sie sie nicht ausgelacht, trotz ihrer wilden Erzählung über eingebildete Männer. Sie war wirklich froh darüber, solch gute Freunde zu haben. Sonja startete den Wagen und lenkte ihn nach Linas Anweisungen über die schmalen Wege, die sich hier an vielen Stellen gabelten und durch den Wald wanden. Zu beiden Seiten der Straße zogen die Bäume und Büsche rasch vorbei. Sie saß gefesselt und geknebelt auf dem Rücksitz des Wagens, in den der Mann sie vorhin gezerrt hatte. Er hatte ihr die Augen verbunden, so daß sie nicht sehen konnte, wohin sie fuhren. Die Zweige der Bäume, die dem Wegrand am nächsten standen, schlugen hörbar gegen die Scheiben des Autos, doch auch sie konnten es nicht aufhalten. Sie wußte nicht, wohin sie gebracht wurde, nicht, was mit ihr geschehen sollte. Alles was sie wahrnahm, war der Geruch nach Vanille, der im Wagen lag, die Musik aus dem Radio und das laute Brummen des Motors. Plötzlich ein schriller Schrei von hinten: »Sonja! Paß auf!« Es krachte furchtbar, sie brachen mit dem Wagen durch die den Weg begrenzenden Büsche, rollten seitwärts einen kleinen Abhang hinunter, und schließlich kamen sie mit der Fahrertür nach unten im Wald zum Stehen.
Lina gewann als erste ihr Bewußtsein zurück. Sie lag auf der Seite, immer noch im Sicherheitsgurt angeschnallt. Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen, anscheinend hatte sie sich nichts gebrochen. Sie löste den Gurt aus der Halterung und brachte sich in eine günstigere Position. Sonja lag unter ihrem Freund begraben, der bei dem Unfall aus dem Gurt gerutscht war. Nur eines seiner Beine hing immer noch darin. Ihre Freunde atmeten noch, wie Lina kurz darauf erleichtert feststellte. Behutsam schüttelte sie Christians Schulter, bis sich dieser langsam regte. »Chris, komm zu dir!«
»Was ist passiert? Wo bin ich?«
»Du liegst auf Sonja, wenn du's genau wissen willst. Wir sind von der Straße abgekommen. Jetzt beeil dich, bevor sie noch erstickt.«
Christian begriff schließlich, in welcher Situation sie sich befanden und löste sich so schnell wie möglich aus dem Gurt, damit er Sonjas Körper entlasten konnte. Dann stand er auf und öffnete das Fenster der Beifahrertür. Indessen versuchte Lina, ihre Freundin wachzubekommen, doch sie zeigte keine Regung. Mit Christians Hilfe hob sie Sonjas schlaffen Körper aus dem Fenster hinaus, um sie auf dem weichen Boden des Waldes abzusetzen. Nun bemühten sie sich gemeinsam um den Zustand des Mädchens.
»Ein sehr interessanter Tag, also wirklich«, brummelte Lina. »So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt.«
Doch endlich regte Sonja sich. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und erwachte schließlich. Ihr Blick fiel auf den Wagen, der auf der Seite lag. »Ach du Scheiße«, flüsterte sie. »Christian! Was...«
»Wir hatten einen Unfall. Du hast wohl die Kontrolle über den Wagen verloren.« Behutsam umarmte er sie. »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?«
»Nein, nur mein Schädel, er dröhnt schrecklich. Ist euch etwas passiert?« Beide schüttelten den Kopf. »Gott sei Dank. Wie konnte das denn passieren? Ich bin doch gar nicht so schnell gefahren.«
»Du hast plötzlich das Lenkrad losgelassen und bist nach vorne gekippt. Bevor ich reagieren konnte, saßen wir auch schon im Wald.«
Sonja schwieg ein paar Augenblicke. »Ja, richtig, jetzt weiß ich's wieder. Ich war plötzlich in einem anderen Wagen, auf dem Rücksitz.« Sie berichtete ihnen von ihrem Erlebnis.
»Das hätten wir uns eigentlich denken können«, meinte Lina. »Wo hatten wir nur unseren Verstand?«
»Wahrscheinlich waren wir alle zu aufgeregt«, sagte Christian. »Was machen wir jetzt? Der Wagen ist jedenfalls erstmal hinüber.«
»Wie weit ist es noch bis zum Haus?«
»Ich fasse es nicht! Gerade eben ist sie aus einem Autowrack heraus, da will sie schon wieder weitermachen.« Lina verdrehte die Augen. »Na schön, ich bin mindestens genauso gespannt wie du. Zu Fuß schätze ich, sind wir in zehn Minuten da, spätestens in 'ner Viertelstunde.«
»Hoffentlich geht es dann meinem Kopf wieder besser.«
»Mensch, du hast Sorgen.«
Angelina führte die beiden, nachdem sie wieder oben an der Straße waren, den Weg entlang. Die Sonne hatte mittlerweile ihren höchsten Punkt überschritten und stand ihnen jetzt genau im Rücken, so daß ihre Schatten ihnen vorausgingen. Lauer Wind ließ die Blätter der Bäume rauschen und spielte mit ihren Haaren, während sie Lina folgten. Als Sonja ihre Freundin so betrachtete, wunderte sie sich wieder einmal, warum sie noch immer alleine war. Ein Mädchen mit ihrer Figur und mit diesem hübschen Gesicht hatte doch mit Sicherheit keine Schwierigkeiten, jemanden zu finden. Schon mehr als einmal war sie von einem netten jungen Mann in der Disco angesprochen worden, aber nie wurde mehr daraus, als ein kurzer Flirt. Daß sie nicht mehr Jungfrau war, hatte sie ihr bereits erzählt, Angst vor dem Sex konnte es daher auch nicht sein. Was sie eher annahm war, daß Lina befürchtete, ihr Temperament nicht mehr so zwanglos wie jetzt ausleben zu können. Teilweise hätte sie damit ja auch recht, aber andererseits gewann man dadurch auch etwas zu seinem Leben hinzu, das Sonja nicht mehr missen wollte, besonders im Moment, wo alles so durcheinander war. Christian war eine wirklich gute Stütze für sie. Dieser Gedanke brachte sie wieder zu ihren Erlebnissen zurück. Irgendetwas wollte nicht in ihren Kopf. Sie hatte diese Bilder gesehen, ohne Zweifel, doch was bedeuteten sie? Auch kamen ihr die Eindrücke, abgesehen von ihrem Auftreten allgemein, etwas merkwürdig vor, nur konnte sie nicht den Finger auf das legen, was sie störte. Während sie weiterging, ließ sie all ihre Visionen, wie sie die Bilder jetzt nannte, Revue passieren.
»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte Lina nach einer Weile, »müßten wir da vorne nach der Kurve aus dem Wald herauskommen. Dahinter gabelt sich die Straße. Von dort aus können wir das Haus dann schon sehen.«
»Weißt du, wer dort wohnt?« fragte Christian.
»Nein, keine Ahnung. Ich war hier zwar schon ein paarmal, aber sonst hab ich mit den Leuten hier nichts zu tun.« Sie gingen noch einige Minuten. »Was denkt ihr? Besteht irgendeine Gefahr für uns?«
»Solange wir nur auf der Straße laufen bestimmt nicht. Ich würde sagen, es würde erst problematisch werden, wenn wir tatsächlich dem Kerl begegnen, von dem Sonja gesprochen hat. Wenn er wirklich dort wohnt.«
Lina blicke zu Sonja hinüber, aber ihre Freundin schien in Gedanken versunken. »Bist du noch unter uns, oder siehst du wieder was, das uns entgeht?«
»Nein, ich bin wach«, antwortete Sonja abwesend. »Ich denke nur nach.«
»Da bin ich aber erleichtert. Du kannst einem nämlich einen ganz schönen Schrecken einjagen. Ich weiß zwar nicht, was ich an deiner Stelle tun würde, aber ich schätze, mir wäre das Ganze ziemlich unheimlich. Daß sich jemand in meine Träume einschleicht, oder wie man das nennen soll, stelle ich mir ganz schön gruselig vor. Besonders, wenn ich nichts dagegen-«
»Jetzt hab ich's!« rief Sonja aus und blieb stehen. »Das war es also!«
»Häh?« Lina blieb ebenfalls stehen, um ihre Freundin verständnislos anzublicken. »Was hast du? Sprich nicht in Rätseln.«
»Hab ich nicht vor«, antwortete Sonja. »Ich weiß jetzt, warum mir die Bilder in meinem Kopf so komisch vorgekommen sind.«
»Also, da würden mir gleich ein paar Gründe einfallen«, meinte Christian, der nun ziemlich verwirrt aussah. »Allein, daß es sie gibt ist doch schließlich schon komisch genug.«
»Das meine ich nicht«, erklärte Sonja. »Ich meine, mir ist etwas daran aufgefallen, wie ich die Bilder gesehen habe. Die ganze Zeit habe ich gedacht, daß mir die Dinge passieren würden. Aber das ist nicht wahr! Sie passieren jemand anderem, und ich sehe einfach nur zu. Oder besser gesagt, ich erlebe das alles genau mit, aber das in den Visionen, das bin nicht ich selbst, ich trete nur an die Stelle dieser anderen Person.«
»Aha, dann gibt es da also jemanden, der dir diese Bilder übermittelt, was?« Lina war skeptisch.
»So könnte es sein«, überlegte Sonja. »Wer weiß, warum das so ist. Ich weiß ja noch nicht einmal, wer es sein könnte. Zumindest bin ich jetzt sicher, daß da jemand unsere Hilfe braucht. Vielleicht sogar dringend.«
»Und du meinst, dieser Jemand befindet sich in dem Haus, das du gesehen hast?« fragte Christian.
Sonja nickte. »Vermutlich. Wir sollten uns beeilen.«
Lina ging wieder voraus. Wie sie angekündigt hatte, lichtete sich der Wald kurz nachdem sie die Kurve hinter sich gelassen hatten. Die Abzweigung führte in der einen Richtung zwischen einer Menge Felder hindurch bis zu einem weiteren Waldstück, das von hier aus schwach zu erkennen war. Der Weg zur anderen Richtung verlief beinahe geradeaus und streifte das Grundstück eines eingeschossigen, rot verklinkerten Hauses, das hier mitten auf einem großen Feld stand. Eine enge Holzbrücke führte über einen schmalen Bach, der die Straße kreuzte. Sonja hielt den Atem an, genau so hatte das Bild in ihrer Vision ausgesehen. Atemlos blieb sie stehen, sie konnte das Ganze noch nicht so recht verarbeiten.
»Wenn ich dich so ansehe, könnte ich meinen, wir sind am Ziel«, meinte Lina als sie bemerkt hatte, daß Sonja ihr nicht mehr folgte. »Liege ich da richtig?«
Sie nickte stumm. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie weitergehen konnte. Jetzt erst kam ihr in den Sinn, was es bedeutete, wenn alle ihre Bilder Wirklichkeit waren. Zunächst aber folgte sie den anderen, wie sie die Straße in Richtung des Hauses weitergingen. Bedrohlich rückte es näher, es wuchs mit jedem ihrer Schritte. Bald schon hatten sie die Grundstückseinfahrt zu ihrer Linken erreicht. Christian durchquerte das Tor, wurde dann aber von Sonja zurückgehalten. »Meinst du, wir sollten da reingehen?«
»Wozu sind wir denn sonst hier? Du hast doch gesagt, hier wäre jemand in Gefahr.«
»Aber vielleicht sind wir ja dann auch in Gefahr! Wer weiß, möglicherweise sollten wir doch besser die Polizei anrufen.«
»Und was willst du denen sagen? Daß du von einem Verbrechen geträumt hast? Ohne irgendwelche Anhaltspunkte oder Beweise werden die gar nichts unternehmen können.«
»Wir sollten aber trotzdem vorsichtig sein«, schlug Lina vor. »Vielleicht ist es besser, erst einmal die Umgebung zu erkunden.«
Christian und Sonja stimmten zu. Also gingen sie langsam weiter und blickten umher. Der kleine Weg brachte sie bis hinter das Haus. Ein dunkler Mercedes stand dort vor einer Garage, links davon befand sich eine hübsche Terrasse mit einem bunten Blumenbeet. Eine Glastüre führte ins Hausinnere, sie stand einen Spalt weit offen. Der leichte Geruch nach einem Vanille-Wunderbaum lag in der Luft.
»Sonja, Chris«, hörten sie Lina von hinten flüstern. Sie war zu dem Wagen gegangen, während die anderen beiden die Terrasse beobachtet hatten. Nun eilten sie zu ihr. Sie hatte etwas vom Boden aufgehoben, das sie interessiert betrachtete. »Jetzt ist alles sonnenklar«, meinte sie. »Sonja hat wirklich recht!« Sie gab Christian das Portemonnaie, das hier vor dem Wagen gelegen hatte.
Zusammen mit seiner Freundin besah er sich den Inhalt des Gegenstandes. Ein Zwanzigmarkschein, eine abgelaufene Zugfahrkarte, ein Foto von einem Jungen im Sportanzug, diverse Telefonnummern und Adressen. Außerdem entdeckten sie einen Ausweis, dessen Daten Christian mit wachsender Verblüffung laut vorlas.
»Personalausweis, Bundesrepublik Deutschland, bla, bla... Hier: Kachel, Sonja, geboren 27.05.1975 in Kleve.« Ungläubig drehte er die Karte herum. »Kleve, Gartenstraße 43, 169 cm, Augenfarbe grau.«
»Das gibt's doch nicht!« rief Sonja aus. »Ich hab am gleichen Tag Geburtstag!«
»Psst! Ich weiß«, sagte Christian.
»Außerdem hast du graue Augen, blonde Haare, wie das Mädchen auf dem Foto hier, und du bist etwa einsneunundsechzig groß.« Lina zuckte mit den Schultern. »Scheint so, als hättest du hier eine Zwillingsschwester.«
»Das erklärt so manches«, überlegte Christian, während er den Ausweis wieder einpackte. Plötzlich war aus einem der vergitterten Kellerschächte ein unterdrückter Schrei zu hören. »Und das erklärt noch mehr«, sagte er und war bereits auf dem Weg zur Terrassentür.
»Christian, warte!« Sonja eilte hinter ihrem Freund her, dicht gefolgt von Lina. Gleich hinter der Tür kamen sie in ein Wohnzimmer. Da niemand zu sehen war, durchquerten sie schnell den mit rustikalen Holzmöbeln eingerichteten Raum und kamen durch eine Tür in den Wohnungsflur. Fünf weitere Eingänge zweigten von hier aus ab, einer davon war eindeutig die Wohnungstür.
»Ich komme nach«, sagte Lina und deutete auf ein Telefon, das sich auf einem Spiegelschrank befand. »Ich rufe die Polizei an, geht ihr schon mal weiter.« Die anderen beiden nickten und verließen den Raum durch die Wohnungstür, da sie dahinter den Weg zum Keller vermuteten. Angelina wartete noch einen Moment, hob dann aber den Hörer ab und begann zu wählen.
Sonja und Christian hatten tatsächlich eine Art Treppenhaus gefunden. Eine der Treppen führte aufwärts, ins Dachgeschoß, während eine weitere Tür vermuten ließ, das sich dahinter der Kellerzugang verbarg. Leise öffneten sie den Durchgang. Ein gutes Dutzend schmutziger Steinstufen bestätigte ihre Vermutung. Behutsam, um so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen, stiegen sie in den kühlen Keller hinab. Auch hier hörten sie wieder die Laute, die sie schon draußen auf der Terrasse bemerkt hatten, jedoch viel deutlicher als vorher. Unten angekommen bog der Gang nach links ab und führte von dort aus in mehrere einzelne Räume, jeder durch eine Tür abgeteilt. Mitten in diesem Flur standen ein paar Bierkisten mit einer Menge leerer Flaschen darin. Sie umgingen diese Hindernisse behutsam, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Christian horchte an den Zugängen auf der rechten, Sonja an denen auf der anderen Seite. Schließlich fand sie den Raum, den sie suchten, eindeutig war hier leises Schluchzen zu vernehmen. Sie winkte Christian zu sich, und gemeinsam öffneten sie die Holztür.
Angelina legte wieder auf. Zwanzig Minuten konnten eine lange Zeit sein. Hoffentlich wurden sie inzwischen nicht entdeckt. Nachdenklich ging sie zur Wohnungstür, durch die Sonja und Chris vor ein paar Minuten verschwunden waren und betrat das Treppenhaus. Doch gleich darauf zog sie sich wieder zurück, jemand kam von oben die Stufen herunter. Leise schloß sie die Tür wieder und überlegte hastig. Dann öffnete sie einen der übrigen Eingänge direkt in der Nähe und spähte hinein. Es war ein Badezimmer. Sie stellte sich auf die Schwelle und lauschte, bereit, sofort hierin zu verschwinden, falls die unbekannte Person hereinkommen sollte. Die Schritte kamen näher, gingen aber draußen vorbei und nach unten. Erleichtert atmete Lina auf. Dann fiel ihr ein, daß ihre Freunde ebenfalls nach unten gegangen waren. »Oh, verdammt«, fluchte sie leise. »Verdammte Scheiße.« Wieder öffnete sie die Tür zum Treppenhaus, diesmal aber nur einen Spalt weit. Der Kellereingang war offen, Licht brannte dort in dem engen Gang. Vorsichtig schlich sie sich die Stufen hinunter, blieb jedoch auf halbem Wege stehen, weil sie ein Geräusch gehört hatte.
In dem kleinen Raum hinter der Holztür war es dunkel und klamm. Ein wenig Licht fiel durch einen mit Spinnweben bedeckten Kellerschacht herein, das schemenhaft das Innere des Raumes erkennen ließ. Christian tastete mit einer Hand an der Wand rechts vom Eingang entlang und fand einen Drehschalter. Das Deckenlicht flammte auf, nun war alles deutlich zu sehen. Eine Menge Kisten standen hier herum, ein uralter halbhoher Holzschrank und ein altmodisches Bett, dessen Kopf- und Stirnseite mit einem Gitter versehen war, so wie es vor ein paar Jahrzehnten üblich gewesen war. Doch all das war schnell vergessen, als sie das junge Mädchen sahen, das ans Bett gefesselt worden war. Sie lag auf dem Rücken, ihre Hand- und Fußgelenke an die Gitter gebunden, und ihr Mund war geknebelt. Sie bewegte sich nur schwach, so als hätte sie keine Kraft mehr, um Widerstand zu leisten. Offenbar nahm sie ihre Umgebung überhaupt nur noch schwach wahr, sie sah Sonja und Christian nicht einmal an.
»Wir müssen sie losbinden«, sagte Sonja. »Komm, Christian, hilf mir.«
»Warte noch«, kam seine Antwort. »Ich habe draußen was gehört.« Lauschend stellte er sich an den Eingang und spähte um die Ecke.
»Ist es Lina?«
»Ich weiß noch nicht. Warte, ich... Oh, Mann! Wenn das Lina ist, bin ich Helmut Kohl.« Er kam von der Tür zurück und begann, sich in dem Raum umzusehen. »Das ist ein Typ da draußen. Offensichtlich ist er es.«
»Was tun wir jetzt?« Sonja sah Christian hilfesuchend an.
»Wir müssen uns etwas zur Verteidigung suchen«, sagte er und ging auf und ab, um etwas für diesen Zweck zu finden. In den Kisten fand er eine Luftpumpe aus Metall und Sonja entdeckte einen langen Besenstiel. Zusammen stellten sie sich hinter die Tür und warteten ab. Jetzt hörten sie Schritte aus dem Kellerflur, die näherkamen. Sonja umklammerte ihren Holzstock und hielt sich hinter Christian, der mit seiner provisorischen Waffe bei ihr stand. Sie zitterte am ganzen Körper, doch die Vernunft siegte schließlich. Wenn sie Angst bekam und panisch wurde, war alles vorbei, dann konnte sie genausogut mit offenen Armen auf den Kerl zurennen. Nur nicht die Nerven verlieren, sagte sie zu sich. Wir schaffen das schon, nur die Ruhe.
Doch das war leichter gedacht als getan, als der Mann schließlich den Raum betrat. Beinahe hätte Sonja den Stab aus den Händen verloren, doch sie bekam sich gerade noch rechtzeitig in die Gewalt. Der Kerl war jetzt nur ein paar Schritte weit entfernt. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und ging auf das Bett zu. Christian machte einen Schritt vorwärts, bei dem sich Sonjas Magen zusammenzog. Dann holte er aus und schlug mit dem Eisenrohr zu. Der Mann hatte anscheinend etwas mitbekommen, denn er wich zur Seite aus, wurde aber noch an der Schulter getroffen. Er drehte sich um, und Sonja wurde bei dem Anblick schwindlig, als sie ihn erkannte. Es war derselbe Fremde, der an ihrem Bett gestanden hatte.
Wie gelähmt sah sie den beiden Männern zu, wie sie sich belauerten. Christian hielt ihn mit dem Rohr in Schach, aber der andere hatte sich bei seinem Ausweichmanöver einen schweren Schraubenschlüssel greifen können, der auf dem Schrank gelegen hatte. Damit ging er jetzt auf Christian los. Der erste Schlag ging daneben, Christian tauchte unter dem Arm des Mannes weg und versetzte ihm einen Treffer gegen die Seite. Der Fremde schrie auf, blieb aber auf den Beinen. Wieder griff er an, diesmal jedoch erfolgreich. Das Werkzeug fuhr auf Christians Rücken nieder und ließ ihn zu Boden gehen. »NEIN!« schrie Sonja und kam aus ihrem Versteck heraus. »Du verdammter Mistkerl!« rief sie und schlug nach dem Mann, der sich verwundert ein paar Schritte zurückgezogen hatte. Immer wieder holte sie aus und versuchte, ihn zu erwischen. Einmal traf sie ihn sogar, aber das schien nur wenig eingebracht zu haben. Wenige Sekunden später kam er schon wieder auf sie zu.
»Mädchen«, sagte er plötzlich. »Was soll das? Hör auf, oder ich muß dir noch wehtun.«
»So wie du ihr wehgetan hast? Willst du mit mir das gleiche anstellen?« Sonjas Wut vertrieb ihre Angst. »Eine sehr mutige Tat, wirklich.«
»Du hast überhaupt keine Ahnung«, gab er zurück und machte dabei einen Schritt nach vorne. Sofort schlug Sonja zu. Der Fremde duckte sich und bekam den Stock zu fassen. Mit einem schnellen Ruck riß er ihn ihr aus der Hand. Dann warf er ihn zur Seite. »Siehst du es ein? Aber jetzt ist es zu spät, Kleine!« Er näherte sich wieder.
Ängstlich zog Sonja sich zurück. Was sollte sie jetzt tun? Christian war bewußtlos, sie hatte keine Waffe mehr, und der Kerl war mindestens dreimal so stark wie sie. Um Zeit zu gewinnen, hielt sie den Abstand aufrecht und wich langsam immer weiter nach hinten aus. Hinter sich hörte sie das leise Stöhnen des Mädchens, das nun offenbar mitbekommen hatte, was los war. Sonja riskierte einen Blick zurück, aber genau in diesem Moment stürzte der Kerl auf sie zu.
Starke Arme packten sie, hielten sie fest. Es dauerte nur einen Augenblick, bis er sie vollständig überwältigt hatte. Sie lag nun auf dem Rücken, der Fremde hielt sie fest. Sie schrie laut um Hilfe, aber das war wohl nutzlos. Hier draußen würde sie kaum jemand hören. Und wenn, dann wäre es wohl auch schon zu spät. Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen, konnte sich aber nicht befreien. Sein höhnisches Lachen hallte laut in ihren Ohren wider, sie schloß angewidert die Augen. Doch plötzlich gab es einen dumpfen Knall, und er verstummte. Seine Hände gaben sie frei, sein Körper sackte schlaff in sich zusammen und blieb auf ihr liegen. Als sie die Augen öffnete sah sie Lina, wie sie mit einer Bierflasche in der Hand neben ihr stand. »Oh Mann, Lina! Gott sei Dank!« Sonja schob den reglosen Körper des Fremden von sich. »Ich dachte schon, jetzt wäre es aus.«
»Nicht, solange ich das verhindern kann«, gab Angelina zurück. »Komm, ich helf' dir.« Sie gab ihrer Freundin die Hand und half ihr, aufzustehen. »Christian hat es wohl erwischt, was?«
Sonja nickte. »Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« Sie ging zu ihrem Freund hinüber, während Lina dem Fremden die Hände und Füße zusammenband, falls er wieder wach werden sollte. Christian atmete noch. Anscheinend war er nicht schwer verletzt.
Dann hörte sie wieder das Mädchen, wie es versuchte, sich zu befreien. Sonja stand auf, ging zu dem Bett hinüber und löste die Fesseln und den Knebel. Das junge Mädchen umarmte sie schwach und begann zu schluchzen. »Wer... Wer seid ihr?«
»Ich bin Sonja«, sagte Sonja zu Sonja.
ENDE