Verirrt
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)24.03.1994)

»Heute wurde am frühen Morgen in einem Waldstück bei Remscheid die Leiche eines etwa fünfundzwanzig Jahre alten Mannes gefunden, der offenbar das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Der Körper des Toten wies zahlreiche Prellungen und tiefe Fleischwunden auf; Laut Polizeibericht starb der junge Mann an den Folgen des hohen Blutverlustes.«

»Was ist denn?« fragte Tim, als Janine das Radio abschaltete. »Du hörst dir doch sonst immer alle möglichen Schreckensmeldungen an, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Ja, schon«, erwiderte sie. »Aber ich habe eine viel bessere Idee als Radio zu hören.« Sie stellte sich hinter den Sessel, auf dem Tim Platz genommen hatte und beugte sich über ihn. Ihre Hände wanderten über seinen Bauch und weiter hinunter, bis ihr Gesicht auf der gleichen Höhe war wie seines. Sie gab ihm einen Kuß und ließ sich dann auf seinen Schoß fallen. Ihr leidenschaftlicher Blick löste alle möglichen Gefühle in ihm aus. Er ließ sich bereitwillig hinunterziehen, als ihre Arme seinen Hals umschlangen. Wieder trafen sich ihre Lippen, aber diesmal intensiver, voller Zärtlichkeit. Vorsichtig ließ er sich zu Boden gleiten, auf den weichen Teppich, der den Fußboden bedeckte. Seine Hände streichelten ihren zarten Rücken unter dem bunten Pullover, ihre Haut war weich und glühte unter seiner Berührung. Ihre Finger wanderten an seinem Hals hinunter und hoben das T-Shirt hoch, bis er es über den Kopf streifte und es durch das Zimmer segelte, wo es vor dem Fernseher liegenblieb. Bald schon räkelten sie sich beide völlig nackt auf dem weichen Teppich, ihre Hände streichelten seinen kräftigen Körper, und er liebkoste ihre weichen Brüste. Sie erlebten eine Woge der Leidenschaft, bis sie schließlich entspannt nebeneinander lagen. Janine hatte ihren Kopf auf Tims Brust gebettet, während sein linker Arm sie locker umfangen hielt. Spielerisch zeichnete sie mit einem Fingernagel Kreise auf seine Haut.

»Soviel zu den besseren Ideen«, sagte Tim, während er das langsam abklingende Gefühl genoß. »Ich finde, du solltest dir so etwas öfter mal einfallen lassen.«

»Bei dir fällt mir das nicht besonders schwer«, erwiderte sie, und ihre blauen Augen suchten die seinen. Die normalerweise ordentliche Frisur ihrer blonden Haarmähne war vollkommen außer Form geraten und hing ihr in Strähnen ins Gesicht. Seinem dunklen Stoppelkopf konnte allerdings auch das wildeste Spiel nichts anhaben.

Tim stand auf und hob sie auf seine Arme hoch. »Ich schätze, es ist Zeit für uns, ins Bett zu gehen.« Er trug sie zur Schlafzimmertür, schaltete das Licht ab und legte sie ins Bett. Einen Augenblick später kroch er auf der anderen Seite ebenfalls hinein und zog sich die Decke über. Es dauerte nur wenige Atemzüge bis er spürte, daß ihn etwas sanft am Bein berührte.

Später in der Nacht wurde Tim wach. Sein linker Arm lag ausgestreckt über Janines Betthälfte. Irgendwie fehlte ihm die vertraute Wärme ihres Körpers. Sie war nicht in ihrem Bett. Sie ist bestimmt nur im Badezimmer, dachte er und drehte sich auf die andere Seite. Er schlief schon lange tief und fest, als Janine sich wieder zu ihm legte.

Nur ein paar Sekunden später klingelte der Wecker, der auf Tims Nachttisch stand. Es war einer dieser uralten Rasselkisten, die auf zwanzig Meter einen Toten erwecken könnten. Dieser aber weckte nur Tim, der schläfrig auf den großen Abstellknopf drückte. Neben ihm regte sich Janine und murmelte etwas. Er beugte sich zu ihr hinüber und gab ihr einen sanften Kuß. »Guten Morgen, Schatz«, sagte er.

Seine Freundin räkelte sich müde und blickte ihn aus kleinen verschlafenen Augen an. »'n Morgen«, brummelte sie. »Wie spät ist es?«

»Sechs Uhr fünfzehn, wie immer«, antwortete er. »Zeit, um aufzustehen.«

»Mmmmh, ich mag nicht.« Sie drehte sich um und zog sich die Decke über den Kopf. Schon bald hatten sie eine spielerische Balgerei begonnen die damit endete, daß Tim mit der Decke ins Badezimmer flüchtete, wo sie ihn kurz darauf einholte.

»Jetzt bist du ja doch aufgestanden«, neckte er sie und gab ihr das Streitobjekt zurück.

»Du hast ja auch mit unfairen Tricks gearbeitet«, verteidigte sie sich. »Einfach abzuhauen, wie feige.«

Er grinste und zog sie an sich. Ein paar Sekunden lang genoß sie seine Umarmung, ehe sie sich für den Tag fertigmachten. Bis zum Frühstück hatten ihre Haare zu ihrer ursprünglichen Form zurückgefunden.

Nachdem Tim zur Arbeit ins Reisebüro gefahren war, machte Janine sich ebenfalls bereit, ihrer Beschäftigung nachzugehen. Sie packte ihre kleine Tasche mit den Aufzeichnungen zusammen, zog sich den dicken Wintermantel an und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Die Zeit war ziemlich knapp, der Bus sollte bereits in fünf Minuten dort sein, aber sie vermutete, daß er wegen des Schnees etwas später kommen würde. Über Nacht hatte sich die Stadt in eine verschneite Landschaft verwandelt, die die meisten Autofahrer ziemlich überraschte. Für sie selbst war dies keine Überraschung mehr, sie war in der Nacht schon durch die fallenden Schneeflocken gegangen.

Der Bus kam exakt drei Minuten zu spät. Wie immer standen nur wenige Leute an dieser Haltestelle, außerdem war die Hauptzeit bereits vorüber. Zum Glück mußte sie erst um neun Uhr im Kindergarten sein, da hatte sie noch ein wenig Zeit, im Gegensatz zu den anderen Leuten an der Haltestelle, die sich lauthals über die Verspätung des Busses ausließen und erst still wurden, als sie endlich einsteigen konnten.

Die Fahrt bis zu ihrem Ziel war gemütlich. Durch die verschneiten Straßen konnten sich die Autos nur mühsam vorwärtsbewegen, deshalb rüttelte der Bus viel weniger als es sonst der Fall war. Das hatte allerdings zur Folge, daß sie beinahe zehn Minuten später als üblich ausstieg. Jetzt blieben ihr aber immer noch zwanzig Minuten, um zum Kindergarten zu kommen. Eine großzügige Zeitvorgabe wenn man bedachte, daß sie nur etwa fünfhundert Meter zu gehen hatte. Sie ließ sich Zeit, beobachtete die leichten Flocken, die vom Wind umhergetrieben wurden und auf den Straßen landeten. Trotz des hübschen Anblickes, den die Stadt jetzt bot, war sie froh, an ihrem Ziel angekommen zu sein. Die Kälte drang durch ihre dicke Kleidung und ließ sie frösteln. Der Vorraum zum Kindergarten war allerdings gut geheizt, dort erholte sie sich schnell von der widrigen Witterung draußen.

»Spielst du mit uns Blinde Kuh«, fragte die kleine Ina, und vier weitere Mädchen warteten hinter ihr.

Janine lächelte und zerzauste ihr mit einer Hand das lange braune Haar. »Ja, gerne. Paßt auf, wir gehen dort drüben hin, da haben wir genug Platz, ja?« Die kleinen Mädchen rannten um sie herum, als sie einen Schal von der Garderobe nahm und sich die Augen verband. Dann wurde sie unter lautem Lachen von zehn Kinderhänden im Kreis gedreht und schließlich losgelassen. Mit ausgestreckten Armen tappte sie nun umher und versuchte eines der Mädchen zu finden, die sich so leise wie möglich verhielten.

Später war Janine gerade damit beschäftigt, ein paar Kinder beim Malen zu beaufsichtigen, als das Telefon im Büro klingelte. Da sie im Augenblick alleine war, ließ sie die Kleinen spielen, während sie an den Apparat ging. Eine vertraute Stimme am anderen Ende: Tim rief vom Reisebüro aus an. »Hallo, Janine. Wie geht's dir?«

»Ich habe eine Menge zu tun«, sagte sie. »Aber für dich habe ich immer Zeit. Was gibt es denn?«

»Eigentlich wollte ich nur deine Stimme hören. Hier im Büro herrscht zur Zeit Totenstille. Ich fühle mich einsam ohne dich.«

Janine konnte ihn förmlich sehen, wie er hinter seinem Schreibtisch saß und inmitten von Reiseprospekten und Rechnungen solche Sachen durchs Telefon hauchte. »Ich vermisse dich auch«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.«

»Wir könnten ja dann essen gehen...«

»...anschließend eine Flasche Sekt aufmachen...« führte sie seinen Satz sinnlich fort.

»...und uns bis zum nächsten Morgen liebhaben!« Janine mußte lachen, als er das sagte. Hier bei all den Kindern an Liebesspiele zu denken, verlangte schon eine Menge Phantasie, aber es fiel ihr dennoch nicht schwer. Wenn es darum ging, bewies sie immer wieder aufs neue Einfallsreichtum. Tim wußte das aus Erfahrung. Mehr als einmal hatte sie ihn mit einer weiteren ausgefallenen Idee überrascht. Das war es, was ihre Beziehung so einmalig machte. Noch nie hatte er sich mit einem Mädchen so lange so gut verstanden. Sie lebten nun schon seit drei Jahren zusammen, und er entdeckte noch immer Neues an ihr. Auch dieser Abend versprach, interessant zu werden. »Ich freue mich schon darauf.«

»Ich auch, Tim, aber ich kann jetzt nicht mehr mit dir herumflirten, so schön es auch ist. Ich muß auf die Kinder aufpassen. Sonst fällt einem von dieser Rasselbande noch ein, wie schön man doch mit Wachsmalstiften auf Tapeten herumkritzeln kann.«

»Ich weiß, ich weiß.« Seine Stimme senkte sich zu einem traurigen Flüstern. »Bis heute abend, dann.«

»Bis heute abend, Schatz.« Sie gab ihm einen Kuß durchs Telefon. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.« Er legte auf. Langsam zog er seine Hand vom Telefon zurück und lehnte sich in dem weichen Bürostuhl zurück. Eine Flasche Sekt beim Essen, mein Gott, da konnte alles passieren! Voller Vorfreude trommelte er mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum und summte glücklich vor sich hin. Für ihn war es immer wieder wie ein Wunder. Er brauchte nur ihre Stimme zu hören, schon waren seine Gedanken im siebten Himmel. Mit ihr zusammen war er bereit, alles zu wagen, sich jedem Hindernis zu stellen und es zu überwinden. Sie war zu einem wichtigen Teil seines Selbst geworden; er hätte nie gedacht, daß er sich einmal so binden könnte.

Schlagartig verpufften die Gedanken. Ein Kunde betrat das Zimmer, und er war wieder ganz der solide Berater, der hier seine Arbeit tat.

*

Lachend wanderten die beiden Arm in Arm durch die Straßen der Innenstadt. Der Sekt perlte durch ihre Adern und sorgte für angenehme Wärme, denn es war doch schon recht kalt geworden. Ihre Schritte knarrten im Schnee, manchmal rutschten sie auch ein bißchen, da sie schließlich nicht mehr vollkommen sicher auf den Beinen waren. Den Weg bis nach Hause hatten sie aber immer noch geschafft, egal wie sehr sie dem Sekt zugesprochen hatten, nur die Zeit war recht unterschiedlich.

Janine hatte einen Arm um seine Hüfte gelegt, während sie die abfallende Rampe zur Bahnhofsunterführung hinabgingen. Unten hallten ihre Schritte laut wider, was Janine zu amüsieren schien. »Hallo!« rief sie. Das Echo kam kräftig zu ihnen zurück. »Hier sind wir!« Sie lachte wieder, und diesmal begann auch Tim zu grinsen. Janine fand aber auch immer etwas, worüber sie sich amüsieren konnte. Ihm selbst gelang das nur selten, aber wenn sie erst einmal in Fahrt war, riß ihre Energie ihn einfach mit. Bald schon lachte und rief er genauso laut wie seine Freundin.

Am anderen Ende der Unterführung befand sich eine Treppe, die sie wieder nach oben brachte. Die Straße dahinter war düster und still. Offensichtlich fand Janine, daß es hier zu still war, denn auch hier begann sie, ihre Stimme schallen zu lassen. Da sich aber hier das Echo in Grenzen hielt, ließ sie bald schon davon ab und lehnte ihren Kopf an Tims Schulter an. »Weißt du, daß ich glücklich bin?« Ihre Ausdrucksweise verriet, daß sie etwas auf dem Herzen hatte. »Ich bin so furchtbar glücklich mit dir, Tim.«

»Du bedeutest mir auch so viel«, erwiderte er, während er sich fragte, was sie ihm sagen wollte.

»Lieb von dir, daß du das sagst. Ich bin so froh, daß ich dich habe. Aber ich hab Angst, dich zu verlieren, verstehst du?«

»Ehrlich gesagt: nein. Warum sollte ich dich im Stich lassen?«

»Das habe ich nicht gemeint. Du weißt nicht alles über mich, das meine ich.«

»Du hast mich schon oft überrascht«, gab er zu, »aber das ist es, was mich an dir so fasziniert. Du bist eben nicht so langweilig und steif wie alle anderen.«

Sie drehte den Kopf zu ihm hin. »Nein, Tim. Es geht um viel Bedeutenderes als das. Ich habe dir noch nicht alles von mir erzählt. Und deshalb habe ich Angst. Angst um dich, weil du nicht weißt, was geschehen wird.«

Ihr dringlicher Tonfall besorgte ihn. Hatte sie jetzt einfach nur zuviel Alkohol getrunken, oder sprach sie von etwas, das sie wirklich meinte? Er beschloß, etwas nachzuhaken. »Und wenn du es mir erzählst?«

»Ich... Ich kann es nicht, Tim. Das ist ja das Schlimme. Ich lebe immer in der Angst, daß etwas passieren wird, aber ich kann es dir nicht sagen.«

Tim blieb stehen. »Warum denn nicht? Wo liegt das Problem?« Als sie nicht antwortete, hob er ihr Kinn an, so daß er ihr in die Augen sah. »Hat es mit einem Verbrechen zu tun, das du nicht verraten darfst? Oder wirst du erpreßt?«

Unglücklich schüttelte Janine den Kopf. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Eigentlich habe ich jetzt schon zu viel gesagt.« Plötzlich löste sie sich aus seiner Umarmung und rannte die Straße hinunter. »Es tut mir leid«, rief sie zurück, während sie lief. Tim starrte ihr einen Augenblick verblüfft hinterher, folgte ihr aber dann so schnell er konnte. Er bog in eine Seitengasse ein, die sie entlanggerannt war und blieb überrascht stehen. Laternen beleuchteten den schmalen Weg, er konnte klar und deutlich erkennen, was vor ihm lag. Nur Janine war wie vom Erdboden verschwunden.

»Janine?« Tim bekam keine Antwort. Kopfschüttelnd ging er weiter in die Gasse hinein. Er dachte über das Gespräch nach, das sie vor wenigen Minuten geführt hatten. Ihre merkwürdige Angst hatte ihm einen Schauer über den Rücken gejagt, obwohl es auch sein könnte, daß sie einfach nur zu viel Sekt erwischt hatte. Sie hatten schon öfter zusammen getrunken, manchmal auch ziemlich viel, aber so etwas war noch nie passiert. Deshalb war Tim überzeugt, daß Janine wirklich etwas auf dem Herzen hatte, das sie jetzt so sehr bedrückte. Aber warum hatte sie Angst um ihn? Sie sprachen doch sonst über alles, was dem anderen Sorgen machte. Grübelnd durchquerte er langsam den schmalen Weg, der nur spärlich beleuchtet war. Der Schnee knarrte unter seinen Füßen, ein bedrohlicher Laut in der sonst so stillen Stadt. »Janine!« rief er noch einmal, aber er hatte die Hoffnung auf eine Antwort bereits aufgegeben. Wahrscheinlich sollte er besser nach Hause gehen, früher oder später würde sie schon wieder auftauchen, dann konnten sie über alles reden.

Tims Herz machte einen Satz, als plötzlich ein schriller Schrei durch die Gasse hallte. Eine Katze floh von ihrem Schlafplatz und riß dabei einige Flaschen um, die scheppernd auf dem Asphalt zerschellten. »Janine!« rief er wieder, diesmal voller Angst. Sein Ruf verlor sich in den Straßen.

Eine Ewigkeit später kam die Antwort: »Tim! Hilf mir! TIM!« Dann wieder Stille. Gehetzt blickte er in der dunklen Gasse umher, um die Richtung aus der die Antwort gekommen war festzustellen.

»Wo bist du?« schrie er. »Janine! Wo bist du?«

Oben im dritten Stockwerk eines angrenzenden Hauses öffnete sich ein Fenster. Ein Mann blickte heraus und beschwerte sich lauthals über die nächtliche Ruhestörung. Tim achtete nicht auf ihn. Statt dessen fuhr er fort, nach Janine zu rufen. Als dann eine kurze erstickte Antwort kam wußte er endlich, woher ihre Stimme gekommen war. Ein paar Meter weiter befand sich eine Treppe, die zu einem Kellereingang hinunterführte. Von dort aus war der Ruf gekommen, da war er sich vollkommen sicher. Sofort rannte er dorthin und stieg die Treppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal. Vor der Tür blieb er stehen. Hier war es noch dunkler als in der Gasse oben. Der Eingang war nur durch das leichte Schimmern des Türbeschlages und der Glasscheibe zu erkennen. Tim lauschte. Es war nichts zu hören. Vorsichtig ergriff er den Knauf und rüttelte daran. Abgesperrt. Entschlossen, Janine zur Hilfe zu kommen, zog er seine dicke Winterjacke aus, hielt sie vor die Scheibe und schlug mit dem Ellenbogen zu. Leises Glasklirren zeugte vom Erfolg seiner Aktion. Vorsichtig entfernte er die restlichen Scherben und tastete mit einer Hand von innen an das Schloß. Kein Schlüssel. »Scheiße«, fluchte er leise und zog seinen Arm zurück. Das Fenster der Tür war zwar nicht sehr groß, aber vielleicht konnte er... Ohne lange darüber nachzudenken, steckte er seinen Kopf in den dunklen Raum auf der anderen Seite und versuchte sich hindurchzuzwängen. Mit einigem Schieben und Quetschen gelang es ihm schließlich, durch das kleine Fenster zu steigen. Kopfüber rutschte er ins Dunkel, rollte sich auf dem Boden ab und stand dann schnell wieder auf. Endlich hatte er es geschafft. Vor ihm war jetzt nur noch Schwärze. Blind schlich er mit ausgestreckter Hand voran, versuchte eine Wand zu ertasten, an der er sich orientieren konnte. Seine Füße scharrten auf dem mit losem Schutt bedeckten, scheinbar nackten Betonboden. Das plötzliche Auftauchen von Stimmen schreckte ihn auf. Stockstarr blieb er an der Stelle stehen, wo er sich gerade befand und lauschte.

»Glaubst du, das reicht?« Die Stimme eines älteren Mannes, mindestens vierzig Jahre.

»Ich will erst noch die Zweite sehen.« Eine junge Frau.

»Gut, wie du willst.« Die Stimmen verstummten. Unruhig wartete Tim darauf, was geschehen würde. Gerade als ihm bewußt wurde, daß er gegen das Nachtlicht der Gasse deutlich zu sehen sein mußte, hörte er ein paar gemurmelte Worte. Wenige Augenblicke später sackte er bewußtlos zusammen.

Er wurde wach und spürte, daß etwas Warmes ihn umhüllte. Als er die Augen öffnete, herrschte immer noch völlige Dunkelheit. Er wollte sich bewegen, doch etwas war über ihm. »Janine!« rief er.

»Schscht«, beruhigte ihn eine leise Stimme. Ein sanfter Finger legte sich auf seine Lippen. Jetzt war er erst bei vollem Bewußtsein. Seine Freundin lag auf seinem Bauch, beruhigte ihn mit sanfter Stimme. »Du hast geträumt, Tim. Es ist alles in Ordnung. Ich bin ja bei dir.«

Ihm fiel ein Stein vom Herzen. »Oh, Janine!« Er zog sie an sich und drückte sie ganz fest. »Ich glaubte, ich hätte dich verloren!« Sanft streichelte er ihren zarten Rücken und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, bis sie sich entrüstet von ihm freikämpfte.

»Du bist mir einer«, sagte sie atemlos. »Erst sprichst und schreist du im Schlaf, daß mir angst und bange wird, und dann hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu verführen.« Ein sanfter Glanz trat in ihre Augen. »Aber ich bin gerne bereit, der Verführung nachzugeben.« Sie ließ sich wieder in seine Arme sinken. Behutsam führte sie ihre Hände an seinen Kopf und massierte sanft seine Schläfen.

Tim hielt sie in seinen Armen. »Ich liebe dich«, flüsterte er und küßte ihre weichen Lippen. »Du bist mein ein und alles, Janine. Das sollst du wissen, bevor ich es dir nicht mehr sagen kann.«

Einen Moment lang hielt sie mit ihrer Massage inne. »Wie meinst du das?«

»In meinem Traum, da ist etwas passiert, vor dem ich tierische Angst habe. Deshalb will ich dir alles sagen, was ich für dich fühle.«

Janines Augen bekamen ein leichtes Leuchten. »Ich weiß, was du für mich fühlst, weil ich es selber für dich empfinde.« Wie um ihre letzte Aussage zu beweisen, führte sie seine rechte Hand an ihre Brust. Er konnte ihren Herzschlag auf der weichen Haut spüren. »Das da drinnen schlägt nur für dich«, sagte sie. »Niemand sonst soll außer dir dort drinnen sein.«

Erleichtert und verwundert, daß er so aus sich herausgegangen war, zog er sie an sich, und sie küßten sich lang und voll neu entflammter Leidenschaft. Aus diesem Kuß entstanden viele weitere, aus diesen entwickelten sich Streicheleinheiten, die sich zu mehr entpuppten. Voller Lust liebten sie sich, genossen das Gefühl der Nähe des anderen, bis sie erschöpft einschliefen. Draußen begannen ein paar Vögel das leichte Blau des anbrechenden Morgens zu begrüßen.

Tim wurde spät am ersten Tag des Wochenendes wach. Janine war bereits aufgestanden, in der Küche lief das Radio, wie an jedem Samstag. Radio RSG spielte Soft Cell's Tainted Love, während Janine ins Schlafzimmer kam. »Oh, auch schon wach?« Sie grinste amüsiert. »Bist du wieder in Ordnung?«

Er gähnte und streckte seine müden Knochen. »Ich fühle mich wieder viel besser. Es tut mir leid, wenn ich dich gestern nacht etwas verwirrt habe. Dieser verrückte Traum hat mich ganz konfus gemacht.«

»Ist schon okay.« Sie setzte sich zu ihm ans Bett. »Was hältst du von einem guten Frühstück mit Toast, Butter und Eiern?«

Grinsend wies Tim auf die Ziffern des Radioweckers. »Etwas spät, aber ich glaube, es wird genausogut schmecken, wie am frühen Morgen.« Er richtete sich auf und gab ihr einen flüchtigen Kuß. »Gib mir zehn Minuten.« Damit war er auch schon im Badezimmer verschwunden.

Zwei knusprig geröstete Toastscheiben sprangen aus dem Toaster, gerade als Tim ins Wohnzimmer kam. Der Tisch war hübsch gedeckt, heißer Kaffee dampfte aus zwei Tassen und einer Kanne, die auf einem Stövchen stand. Das Radio lief immer noch, spielte jetzt Keep on loving you von R.E.O. Speedwagon; besser hätte er selbst die Musik nicht wählen können. Er setzte sich an den Tisch. »Da läuft einem ja das Wasser im Munde zusammen«, meinte er, während er sich eine der Toastscheiben nahm.

»Dann guten Appetit«, wünschte sie ihm und nahm die andere Scheibe. Weitere zwei verschwanden in den Schlitzen des Toasters, um weniger als eine Minute später wieder herauszuspringen. Tim genoß den Geschmack der leicht geschmolzenen Butter, zusammen mit den, wie immer, hartgekochten Eiern. Ein Tag, der so perfekt begann, konnte nur noch gut werden.

Auch beim Eislaufen hatten sie einen Heidenspaß. Ausgelassen jagten sie einander über die Fläche, immer haarscharf an den anderen Leuten vorbei, genau wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. Tim war in jenem Winter mit Freunden unterwegs gewesen, sie kamen regelmäßig hierher, Frank mit seiner Freundin Tanja, Marc und er. Wie an jedem Abend in der Halle drehten sie erst ein paar Runden um sich einzulaufen, bevor dann die schnellere Phase einsetzte. Meist ging es damit los, daß Tim und Marc eine spielerische Rempelei begannen, bis einer der beiden zu Boden ging. Frank und Tanja hatten dann meist nichts Besseres zu tun, als den »Verlierer« auszulachen, was dieser dann zum Ansporn nahm, den anderen zu verfolgen. Dieses Mal war es Tim gewesen, der zu Boden ging. Marc flüchtete bereits mit schnellen Schritten, aber Tim setzte ihm gleich darauf nach. Mehr als zwei Runden brauchte er, bis sein »Gegner« in Reichweite kam. Ein kurzer Griff, und Marc segelte zu Boden. Allerdings konnte Tim nicht mehr rechtzeitig bremsen, so rauschte er beinahe in seinen Freund hinein. Ein kurzer Sprung rettete die Situation, doch Marc packte Tims Bein, gerade als dieser wieder gelandet war. Die Folge war, daß sich Tim ebenfalls auf dem Eis lang machte. Jetzt war Marc erneut auf der Flucht, mit Tim dicht auf seinen Fersen. Als Marc dann von hinten angerempelt wurde, erwartete er eigentlich, umgerissen zu werden. Doch nichts geschah. Tim blieb vielmehr an der Stelle stehen, wo er mit seinem Freund zusammengestoßen war und starrte über die Eisfläche. Er schien nicht einmal bemerkt zu haben, daß er Marc gerammt hatte. Neugierig fuhr er zu Tim hinüber. »Ist was?«

»Ich glaube, ich hab' mich verliebt.«

»Schon wieder?«

Tim schüttelte den Kopf. »Nein, nicht so. Diesmal hat's gefunkt.« Tims Blick haftete auf einer jungen Eisläuferin, die ihre Bahnen am anderen Ende der Halle zog. »Sie ist gerade hier vorbeigekommen, da hat's mich erwischt. Alter, das ist mir noch nie passiert.«

»Worauf wartest du dann noch? Los, hin!«

Tim schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht.«

Fassungslos starrte Marc seinen Freund an. »Das gibt's doch nicht! Du hast doch sonst keine Probleme damit. Du bist doch immer derjenige, der zuerst mit 'nem Mädel abzieht.«

»Ja, ja. Aber das hier ist was anderes. Bisher war alles nur Spielerei. Jetzt hab' ich das Gefühl, daß es ernst wird.«

Marc zuckte mit den Schultern. »Das Prinzip ist doch dasselbe, oder nicht? Also los, sprich sie an.«

»Und wenn sie nicht alleine ist? Ich meine: wenn sie schon einen Freund hat?«

»Also, wie ich das sehe, gehört sie eher zu dieser kleinen Gruppe da hinten. Ein richtiger Mädchenclub. Schade, daß nichts für mich dabei ist. Ich glaube, ich würde nicht so lange warten. Wenn mir ein Mädel gefällt, dann sag ich's ihr auch.«

»Und wenn sie nein sagt?«

»Dann suchst du dir 'ne andere. Komm schon, Tim! Ich kann es nicht ertragen, dich so hilflos zu sehen. Was hast du eigentlich?«

Tim konnte nur unschlüssig die Schultern heben. Seufzend kehrte Marc zu den beiden anderen zurück, während sein Freund langsam und ziellos über das Eis lief. »Scheiße«, flüsterte Tim, wandte sich wieder einmal in eine andere Richtung und stritt mit seinen Gefühlen. Einerseits wollte er sie gerne kennenlernen, aber andererseits hatte er Angst, einen Korb zu bekommen. Bisher hatte ihn diese Möglichkeit nicht gestört, es war ihm auch schon ein paarmal so gegangen. Diesmal schien es jedoch völlig anders zu sein, diesmal hatte er sich wirklich verliebt.

Und genauso fühlte er sich.

Später trafen sie sich wie immer im kleinen Café am Rande der Eisfläche, von dem aus man durch große Fenster das Treiben auf dem Eis beobachten konnte. Sie bestellten sich ihre Erfrischungen, die sie am Tisch langsam tranken. Tim trank weniger als sonst. Immer wieder blickte er aus dem Fenster, aber das Mädchen war nicht mehr zu sehen. Seit sie vorhin hinter der Tribüne verschwunden war, hatte er sie aus den Augen verloren. Jetzt hoffte er, sie auf dem Eis zu entdecken, obwohl er wahrscheinlich nicht den Mut aufbringen würde, sie anzusprechen. Aber einen Blick wollte Tim zumindest noch erhaschen, mehr nicht. Es sah jedoch so aus, als wäre sie bereits nicht mehr hier, jedenfalls war sie bisher nicht mehr zu sehen gewesen. Seine drei Freunde lachten und erzählten blöde Witze, wie immer. Wenn sie merkten, daß er nicht mit ihnen herumalberte, waren sie höflich genug, ihn nicht nach dem Grund zu fragen. Nur Marc wußte, was wirklich mit ihm los war. Daß sein Freund kein Wort darüber verlor, fand Tim absolut in Ordnung.

Zum großen Finale waren sie natürlich wieder alle auf dem Eis. Es waren jetzt nur noch etwa zehn Minuten, bis die Laufzeit zuende war, und die schnellsten Läufer, oder die, die sich dafür hielten, sammelten sich auf dem Eis. In dieser Halle gab es die Tradition, am Ende der Zeit ein Abschlußrennen zu veranstalten. Die Teilnehmer stellten sich eine Minute vor Schluß an der hintersten Bande auf, während alle anderen das Feld räumten. Als dann der Schlußgong ertönte, rasten sie alle gleichzeitig los, auf die gegenüberliegende Bande zu. Tim und Frank waren mit von der Partie. Zusammen lieferten sie sich ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen, bei dem Tim immer eine Länge vorauslag. Aber etwa zwanzig Meter vor dem Ziel verhakte sich die Kufe seines Schlittschuhs in einer tiefen Eisrille. Tim überschlug sich, prallte mit der Schulter auf das Eis und rutschte auf dem Bauch ein paar Meter, wo er liegenblieb.

Ein Paar Schlittschuhe kam neben ihm zum Stehen. Er wollte sich aufrichten, stieß dann aber einen leisen Schrei aus, als sein Bein plötzlich heftig schmerzte.

»Bleib liegen«, sagte eine weibliche Stimme. »Beweg dich nicht.«

Ein weiteres Paar Schlittschuhe traf ein. Das war Frank; die schwarzen Eishockeyschuhe mit den neonroten Streifen waren nicht zu verkennen. »Was hat er? Ist das Bein gebrochen?«

»Zum Glück nicht. Nur verstaucht. Kannst du wieder aufstehen?«

»Keine Ahnung. Es tut höllisch weh.«

»Versuch es einfach mal«, sagte Frank. »Ich helfe dir hoch.« Ein Arm schob sich unter seine linke Schulter, ein weiterer, schlankerer, unter die andere. Dann wurde er hochgehoben, während er sich mit seinem gesunden Bein zusätzlich abstützte. Nachdem er einigermaßen auf seinem rechten Schlittschuh stand, blickte er seine Helfer an. Als Tim dann das Mädchen erkannte, das er die ganze Zeit über beobachtet hatte, wäre er beinahe wieder hingeschlagen. Frank hielt ihn gerade noch aufrecht. Gemeinsam brachten sie ihn bis zu den Bänken am Rande der Eisfläche, wo Marc und Tanja auf sie warteten. Marc hatte ein Grinsen aufgesetzt, das, was aber nur Tim wußte, nichts mit Schadenfreude zu tun hatte.

Daraufhin waren sie ins Gespräch gekommen. Tim und Janine trafen sich am nächsten Tag in einer kleinen Kneipe wieder und unterhielten sich über seinen Sturz am Tag zuvor. Er humpelte immer noch etwas, aber es hatte sich nichts Ernsthaftes daraus entwickelt.

Jetzt, im Nachhinein, empfand Tim diesen Sturz als die schönste Verletzung seines Lebens.

Während er nun Janine hinterherfuhr, dachte er an diese Begebenheit zurück. Er mußte grinsen bei der Vorstellung, wie er sich dagegen gesperrt hatte, sich mit ihr bekannt zu machen. Er wagte sich gar nicht vorzustellen, was geworden wäre, wenn er nicht gestürzt wäre. Wahrscheinlich würde er immer noch mit jedem Mädchen aus der Disco ins Bett gehen, ohne wirklich eine fürs Leben zu finden. Er war der Rille im Eis immer noch dankbar.

Total in Gedanken hatte er Janine aus den Augen verloren. »Mist«, murmelte er und suchte das Eis nach seiner Freundin ab. Am gegenüberliegenden Ende der Halle sah er sie, wie sie in der Umkleidekabine verschwand. Neugierig fuhr er hinüber um herauszufinden, wo sie hinwollte. In der Kabine selbst war sie nicht zu sehen, wohl aber ihre Schlittschuhe. Die Sporttasche, mit der sie ihre Sachen hergebracht hatten, war offen, genau wie die Tür des Schließfaches. Janines Schuhe und ihr Mantel waren verschwunden. Irgendwie fühlte Tim sich unangenehm an seinen Traum aus der gestrigen Nacht erinnert.

»Na super!« fluchte er, während er sich seine eigenen Schuhe anzog. Die Tasche verschloß er wieder im Schließfach und ging dann nach draußen. »Haben Sie eine junge Dame rausgehen sehen? Etwas über zwanzig Jahre alt, blond und sehr hübsch?«

Die Kassiererin nickte. »Sie ist vor einer Minute rausgegangen. Wenn Sie sich beeilen, können Sie sie vielleicht sogar noch sehen.«

Tim bedankte sich und eilte zur Tür hinaus. Draußen wehten ihm Schneeflocken ins Gesicht, die im Schein der Laterne wilde Tänze vollführten. Sehen konnte er Janine nicht mehr, aber der frisch gefallene Schnee war nur durch einige wenige Fußspuren gekennzeichnet. Er folgte ihrer Spur die Straße hinunter. Scheinbar hatte sie es wirklich eilig gehabt, denn die Abdrücke im Schnee lagen weiter auseinander, als Janines Schritte normalerweise lang waren. Also beeilte Tim sich ebenfalls, um den Anschluß nicht zu verlieren. Bald rannte er sogar, voller Sorge um seine Freundin.

Die Spuren führten jetzt von der Straße weg über eine Grasfläche. Von dort aus wandten sie sich einem Gebüsch zu, das die Abgrenzung für den Eisenbahndamm darstellte. Verwirrt folgte Tim der Spur und überquerte bald darauf die Gleise. Auf der anderen Seite fand er sich inmitten vieler kleinerer Gebäude wieder, ab und an war auch ein größeres darunter. Anscheinend war dies ein Firmengelände. Unschlüssig blickte er sich um. Da die Fußabdrücke aber weiter auf das Grundstück führten, ging er ihnen nach.

Schließlich waren noch mehr Spuren da. Zwei weitere Personen waren dazugekommen, noch dazu änderte sich die Richtung abrupt um neunzig Grad nach links. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend beeilte er sich nun noch mehr, das beginnende Seitenstechen ignorierte er. Jetzt war aus seiner Sorge Angst um Janines Leben geworden. Als er dann leise Schreie vernahm, gab es für ihn keinen Zweifel mehr, daß ihr etwas zugestoßen war.

Die Laute drangen aus dem Tor einer großen Halle nach draußen. Die Tür, die in einem der großen Torflügel eingebaut war, klappte im Wind auf und zu. Atemlos blieb er stehen und spähte durch den Spalt. Der Raum war dunkel, durch die Fenster sickerte ein wenig Licht herein und enthüllte eine große Anzahl Kisten, die aufeinandergestapelt in der Halle standen. Leise trat er ein. Die Richtung, aus der die Geräusche kamen, war nicht einwandfrei zu bestimmen. Also eilte er, so schnell er in der Dunkelheit konnte, zwischen den Kisten hindurch auf die andere Seite der Halle zu. Ein quadratischer Lichtfleck in Bodennähe, der schwach flackerte. Von dort kamen die Schreie! Tim rannte los, auf das flimmernde Licht zu, das von einem kleinen Fenster einer Tür stammte. Vor der Tür führte eine Treppe hinab, so daß der Raum dahinter ein Keller sein mußte. Plötzlich stieß er mit seinem Schienbein gegen etwas Hartes, stürzte und polterte dann kopfüber die Treppe zum Keller hinunter, wo er voller Schmerzen vor der Tür liegenblieb. Sein Bein fühlte sich furchtbar an, auch seine Ellenbogen und die Schulter hatten etwas abbekommen. Er versuchte sich zu bewegen und mußte einen Schmerzenslaut unterdrücken.

Während er dort lag, gingen die Schreie weiter. Er verfluchte seine Ungeschicklichkeit, weil er jetzt nicht aufstehen und seiner Freundin zur Hilfe kommen konnte. Doch die Laute waren so voller Leid und Qual, daß er sich auf die Beine zwang, seinen eigenen Schmerz gewaltsam aus dem Geiste verdrängend. Mit Tränen in den Augen spähte er durch das kleine Fenster. Dahinter befand sich ein Gitterrost, das in etwa sechs Metern Höhe an der Wand befestigt war. Von dort aus führte eine Stahltreppe hinunter auf den Boden des Kellerraumes. Unten brannten in einem exakten Kreis etwa zwanzig bis dreißig Fackeln, die um einen großen Block angeordnet waren. Um den Kreis herum standen eine Menge vermummter Gestalten in dunklen Kapuzenmänteln, die ihre Gesichter verbargen. Seine Augen weiteten sich vor Schreck als er Janines nackten Körper auf dem Block gefesselt erblickte. Ihre Handgelenke waren an den Ecken des Quaders festgebunden, genauso wie ihre Knöchel von Riemen gehalten wurden. Hilflos zerrte sie an ihren Fesseln, aber Tim konnte zweifelsfrei erkennen, daß dies keinen Sinn hatte. Ihr hübscher Körper war mit blutigen Striemen bedeckt, überall prangten Blutergüsse. Zwei der schwarzgekleideten Gestalten schritten um den Block herum, sie trugen Laternen mit grünen Glasscheiben, durch die das Licht gespenstig tanzende Flecken auf der Haut der jungen Frau bewirkte. Sie sangen mit leisen Stimmen, die Unheilvolles ahnen ließen. Dunkle Beschwörungsformeln ließen Tims Blut in den Adern gefrieren. Plötzlich schlug einer der Vermummten mit einer Peitsche auf Janines Körper ein. Sie wand sich und schrie vor Schmerz, eine weitere blutige Strieme wurde sichtbar.

»Nein!« Tims Zorn und Qual verdeckte seine Schmerzen. »Ihr verdammten Schweine! Laßt sie gehen! Verdammt!« Rasend vor Wut riß er die Tür auf und stürzte die Metalltreppe hinunter. »Ich bringe euch um, ihr Mistkerle! Ihr verfluchten Hurensöhne!« Die letzten beiden Stufen stolperte er hinab und fiel zu Boden, neuerlicher Schmerz durchzuckte sein rechtes Bein. Bevor er wieder richtig auf die Beine kam, hatten ihn schon vier Hände zu beiden Seiten gepackt und hochgehoben. »Nein!« schrie er und versuchte sich loszureißen. »Laßt sie gehen! Laßt sie verdammt nochmal gehen!«

»Natürlich lassen sie mich gehen.« Janines Stimme brachte ihn zur Ruhe. »Jetzt, da du bewiesen hast, wieviel Liebe du für mich empfindest.« Tim blickte auf. Das letzte was er sah war seine Freundin, wie sie zwischen zweien der Vermummten stand, nackt und mit Wunden bedeckt. Dann blitzten plötzlich Sterne vor seinen Augen auf, und er verlor die Besinnung.

*

Als er wieder wach wurde, konnte er sich nicht rühren. Eine vorsichtige Bewegung sagte ihm, daß er genauso wie Janine zuvor an Händen und Füßen gefesselt auf einem Steinblock lag. Panik stieg in ihm auf, als er den dumpfen Singsang der Männer hörte. Auch er riß erfolglos an seinen Fesseln, die ihn unbarmherzig festhielten. Die Fackeln waren immer noch im Kreis aufgestellt, die Vermummten mit den Laternen umkreisten langsam und bedrohlich den Steinquader. Erschreckt stellte er fest, daß er, genau wie Janine vor ihm, nackt war.

Wilde Vermutungen über den Sinn und Zweck dieses Rituals gingen ihm durch den Kopf, keine davon sehr ermutigend. Er hatte nur das Gefühl, hilflos dem Willen dieser verrückten Fanatiker ausgeliefert zu sein. Er wollte gerade um Hilfe schreien, als er seine Freundin erblickte, die von zweien der Männer flankiert langsam auf ihn zuschritt. Der Umhang, in den sie sich gekleidet hatte, war nicht viel mehr als ein dünner Stoffetzen, dessen untere Säume ihre schönen Beine bei jedem Schritt umschmeichelten. Der Rest ihres Körpers war nach wie vor nackt, die zahlreichen Wunden immer noch sichtbar. Die Art und Weise, mit der sie auf ihn zukam, zeigte nichts von der üblichen Art, ihn anzusehen. Nur kühle Berechnung stand in ihrem Blick, kein Zeichen ihrer Liebe zu ihm. Jetzt bekam Tim wirklich große Angst. »Janine! Was soll das? Was hast du vor?« Unbeeindruckt setzte sie ihren Weg fort. »Was ist mit dir los? Wer sind diese Männer?« Immer noch zeigte sie keine Reaktion. Sie setzte langsam und bedächtig einen Fuß vor den anderen, ohne auf seine Worte einzugehen. Am Rande der Fackeln blieb sie stehen, gab ihren Begleitern ein Zeichen, woraufhin diese sich leicht vor ihr verneigten und zu beiden Seiten des Fackelkreises weggingen. Dann trat sie zu ihm an den Block heran. Ihr wunderschönes Gesicht neigte sich zu ihm hinab. »Sag mir, was das alles soll, Janine«, bat er. »Warum tust du das?«

»Das würdest du nie begreifen, Tim«, gab sie ihm zur Antwort. »Niemand würde es je begreifen, der nicht zu uns gehört.« Langsam schob sie ihm mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es tut mir wirklich leid für dich«, fuhr sie fort. Auch ich bin sehr traurig, daß es so enden muß. »Aber es ist notwendig. Wir können nicht länger warten.« Damit beugte sie sich zu ihm hinab und küßte ihn sanft auf die Stirn. Der Gesang rund um sie verstummte und machte einem erwartungsvollen Schweigen Platz. Das Flackern der Fackeln war deutlich zu hören, jetzt da alle anderen Geräusche fort waren.

Janine trat einen Schritt zurück. Aus der Menge der andächtig schweigenden Gestalten löste sich ein Mann, der zu ihr in den Lichtkreis trat. Er überreichte ihr einen metallisch glänzenden Gegenstand, den Tim einen Moment darauf als Dolch erkannte. Beschwörend hob sie die kleine schmuckvolle Waffe der Decke entgegen. »Dein Opfer wird nun vollbracht werden, auf daß unser Sohn die Macht erlange, die Herrschaft über die Gemeinde zu übernehmen. Deine Stärke, dein Wissen, dein Geist und vor allem deine Liebe werden in ihn übergehen. Tod bringt Leben, Finsternis bringt Licht, das Ende der Zeit bringt die Ewigkeit.«

Tims Augen waren voller Tränen. »Wir haben einen Sohn?«

Janine senkte den Dolch wieder und trat zu ihm an den Opferstein heran. Die Spitze der kleinen Waffe bohrte sich leicht in die Haut über seinem Herzen. »Nein!« rief er plötzlich. »Das ist doch wieder alles nur ein Traum! Ja, ein Traum, ein Hirngespinst!« Voller Angst zerrte er an den Riemen. »Janine! Weck mich auf! Sag mir, daß ich nicht wirklich hier bin!« In diesem Augenblick durchfuhr ihn ein rasender Schmerz. Seine Brust schien zu explodieren, er wollte schreien, aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Wenige Augenblicke später zerfiel die Welt um ihn in tausend Scherben.

*

Ein sanftes rotes Licht drang von allen Seiten zu ihm herüber. Er schwebte, sein Körper fühlte sich schwerelos an. Etwas zog an ihm, er hörte Stimmen, dumpf und unverständlich, wie durch Watte gedämpft. Die Wände um ihn verengten sich, schoben ihn fort, durch einen engen Kanal, einem grellen weißen Licht entgegen. Dieses Licht blendete ihn, die Wärme um ihn herum verflog, ein riesiges Gesicht eines weißgekleideten Mannes. Dann ein kurzer Schmerz, er schrie laut auf.

Eine Stimme sagte: »Es ist ein Junge!«

ENDE