Höhlenforscher
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)15.02.1994)
»Ich hab' Durst«, quengelte Nicola und stieß Conny leicht in die Rippen, die neben ihr im Fond des Wagens saß. Als von ihrer großen Schwester keine Reaktion kam, versuchte sie es bei ihrem Bruder, der rechts von ihr saß. »Micha! Ich hab' Durst.«
»Nicola, laß das«, nörgelte Michael und schob eine Hand auf die Stelle, an der seine kleinere Schwester ihn gestoßen hatte. »Wir sind bestimmt gleich da.«
»Wann gleich?«
»Weiß nicht. Frag doch Mutti, die weiß das bestimmt.«
Maria saß auf dem Beifahrersitz und las eine Straßenkarte, während Stefan den Wagen nach ihren Anweisungen über die unübersichtliche Straße steuerte. Sie waren noch etwa zehn Kilometer von ihrem Ziel entfernt, dann konnten sie endlich aus dem Auto steigen und die frische Gebirgsluft richtig genießen. Anfangs war es wirklich aufregend gewesen, als sie die ersten Ausläufer der Alpen erreicht hatten. Der Anblick der Berge hatte etwas Majestätisches. Ihre Kinder, zumindest Michael und Nicola, hatten unheimlichen Spaß daran, die Tunnel zu zählen, die sie auf ihrem Weg durchquerten. Jetzt waren sie mitten in den Bergen und fuhren eine Serpentinenstraße bergab, die sie vor einer Stunde hinaufgefahren waren. Es war nicht mehr weit bis zu dem kleinen Dorf in der Schweiz, wo Stefans Eltern wohnten. Sie besaßen eine hübsche Berghütte, in der Maria und Stefan mit ihren Kindern Urlaub machen wollten. Michael und Nicola waren von dem Vorschlag sofort hellauf begeistert gewesen, Conny hatte sich etwas zurückgehalten. Wahrscheinlich dachte sie daran, daß sie für drei Wochen auf Disco und Kino verzichten mußte. Daß sie aber trotzdem mitgefahren war lag wohl daran, daß sie nicht bei ihren Großeltern in der Stadt bleiben wollte. Während der gesamten Fahrt, die nun immerhin schon sechs Stunden dauerte, hatte sie vielleicht zehn Worte gesprochen, die restliche Zeit saß sie nur stumm auf ihrem Platz und sah aus dem Fenster.
»Wann sind wir da, Mama?« Nicolas drängende Stimme unterbrach ihren Gedankengang.
»Es dauert nicht mehr lange, Schatz.« Maria war froh, daß sie in der Ferne das Dorf erkennen konnte. Sie zeigte aus dem Fenster. »Siehst du? Da drüben ist es schon. Dort werden wir erst einmal Halt machen.« Sie dachte daran, daß dort Kaffee und eine Mahlzeit auf sie warteten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre sie nicht weniger ungeduldig als Nicola.
»Ich hab' aber jetzt Durst!« bettelte ihre Tochter weiter.
»Michael kann dir eine Safttüte aus der Tasche holen«, erwiderte Maria.
»Wieso ich?« maulte Michael. »Conny sitzt doch viel näher dran.« Er deutete auf die Reisetasche, die vor seiner Schwester im Fußraum lag.
»Gibst du mir was zu trinken, Conny?« Nicola reckte sich in ihrem Sicherheitsgurt zu ihr hinüber und zupfte ihr so lange am T-Shirt herum, bis sie sich endlich bückte und wortlos eines der kleinen Saftpäckchen aus der Tasche kramte. Nicola nahm das Paket und steckte den Strohhalm in das passende Loch. Glücklich trank sie, während sie ihrem Bruder mit der freien Hand eine lange Nase zeigte. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Häusern zu, die immer näher rückten.
Maria war erleichtert, als sie endlich vor dem kleinen Fachwerkhaus hielten, das Stefans Eltern gehörte. Margret stand schon in der Tür und kam zum Wagen, während Stefan und Maria ausstiegen. Michael und seine Geschwister kamen einen Augenblick später dazu. Nicola rannte sofort auf ihre Großmutter zu. »Hallo Oma!« rief sie, als Margret sie hochhob.
»Hallo, Schätzchen«, erwiderte sie lächelnd. »Du bist aber schwer geworden, du liebe Zeit!« Damit gab sie ihrer Enkelin einen Kuß und setzte sie ab, ehe sie die anderen begrüßte. »Kommt erstmal rein«, sagte sie dann und führte sie ins Haus.
Selten hatte der kleine Raum so viele Menschen gesehen. Normalerweise waren immer nur Herbert und seine Frau hier, und deshalb mußten sie aus der Küche noch zwei Stühle holen, damit sie alle Platz fanden. »Wie war die Fahrt?« erkundigte sich Herbert, als sie es sich bequem gemacht hatten.
»Nachdem wir endlich losgefahren waren, hatten wir keinerlei Probleme. Maria hat immer wieder was gefunden, das wir beinahe vergessen hätten. Ich hatte schon Angst, daß für uns kein Platz mehr im Auto bleibt.« Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, und sie drohte ihm mit dem Finger. Lachend fuhr er fort: »Bei Frankfurt hatten wir einen kleinen Stau, aber das war nicht weiter tragisch. Von da an ging alles sehr schnell.«
Sie unterhielten sich noch eine Zeit lang, bis Margret aufstand und mitteilte, daß das Essen jeden Moment fertig sein würde. Maria half ihrer Mutter in der Küche, während die anderen den Tisch deckten. In dampfenden Schüsseln wurden Kohlrouladen und Kartoffeln auf den Tisch getragen. Michael brachte das Besteck und Stefan mit Herbert zusammen das restliche Geschirr.
Nicola saß auf Marias Schoß, während sie aßen. Zum Nachtisch gab es zu Michaels Freude seinen heißgeliebten Vanillepudding, den er mit Feuereifer in sich hineinschaufelte. Conny dagegen rührte ihren überhaupt nicht an. Auch an dem folgenden Gespräch beteiligte sie sich nicht. Sie antwortete kurz angebunden auf die Fragen, welche ihre Großeltern ihr stellten, aber ansonsten sprach sie kaum ein Wort.
Michael und Nicola dagegen plapperten aufgeregt herum. Sie erzählten und erzählten, und Michael führte eines seiner Lieblingszauberkunststücke vor, aber schließlich erklärte Stefan, daß es Zeit würde, die Sachen zur Hütte hinaufzubringen. Gemeinsam räumten sie den Tisch ab und packten ein paar Vorräte ein, die sie für den Abend brauchen würden. Stefan ließ sich von seinem Vater die Schlüssel und eine Beschreibung vom Inneren des Häuschens geben. Anschließend verabschiedeten sie sich von Margret und Herbert und stiegen wieder in den Wagen.
Kaum hatte Stefan den Passat zum Stehen gebracht, als Michael und Nicola schon ausgestiegen waren und auf das kleine Holzhäuschen zurannten, das ganz in der Nähe auf sie wartete. »Erster! Erster!« hörten sie Michael rufen, während sich Nicola lauthals darüber beschwerte, daß er sie vom Weg geschubst hätte. Die anderen drei packten ihre Koffer zusammen und trugen sie zur Eingangstür, wo die beiden Kinder schon aufgeregt warteten. Stefan schloß auf und ging in den schmalen Flur voraus, von dem vier Türen in die einzelnen Räume führten. Michael und seine kleine Schwester erkundeten bereits die Hütte. Stefan stellte die Koffer im Wohnzimmer ab und ging dann zum Wagen, um die restlichen Sachen zu holen. Indessen räumte Maria die Kleidungsstücke in den kleinen Schrank des Schlafzimmers und wies Cornelia an, ihre und die ihrer Geschwister im Kinderzimmer zu verstauen.
Bis sie sich eingerichtet hatten, war es abend geworden. Der rote Schein des Sonnenunterganges wurde von den hoch aufragenden Berghängen reflektiert und bot ein atemberaubendes Schauspiel. Das Licht fiel in den Wohnraum, wo es für eine wohlige Atmosphäre sorgte. Michael und Nicola hatten einen harten Kampf hinter sich, wer nun im Etagenbett oben liegen durfte. Conny hatte ein Reisebett für sich, das aber im selben Zimmer wie das ihrer kleineren Geschwister stand. Im Schein einiger Kerzen aßen sie zu abend. Es gab zwar auch Strom, der über eine Freileitung eingespeist wurde, aber den ersten Abend auf diese Art zu verbringen, war doch stilgerechter.
Nicola lag oben in ihrem eroberten Bett und konnte nicht schlafen. Es war nicht leicht gewesen, Michael den Platz wegzunehmen. Zuerst hatte er sich hier oben breit gemacht, aber sie war ihm hinterhergeklettert. Nach einiger Rangelei erwischte sie ihn an den Haaren und zog so lange daran herum, bis er aufgab. Also mußte er nun unten liegen, während sie den schöneren Platz für sich beanspruchen konnte.
Dennoch lag sie wach. Das war immer so. Zuhause dauerte es nie lange, bis sie einschlief. Wenn sie aber woanders war, mußte sie sich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen. Meist ging das dann eine Stunde oder zwei so, bis der Schlaf kam. Diesmal schien es allerdings Ewigkeiten zu dauern. Als ihr dann doch die Augen zufielen, hörte sie ein verhaltenes Klopfen am Fenster. Die Läden waren zu, so daß sie nichts erkennen konnte. Trotzdem richtete sie sich auf und spähte in die Richtung der Fenster. Wieder klopfte es, leise, aber dennoch deutlich zu hören. Nicola lauschte, ob ihre Geschwister etwas bemerkt hatten, aber sie konnte nichts dergleichen vernehmen. Die schlafen bestimmt wie die Murmeltiere, dachte sie. Also kletterte sie vorsichtig die Leiter ihres Bettes hinunter und tastete sich zu dem ersten Fenster hinüber, das der Tür gegenüberlag. Behutsam, um die anderen beiden nicht zu wecken, öffnete sie die Fensterläden und lugte hinaus. Die dunklen Schemen der Landschaft zeigten nichts Besonderes. Sterne funkelten am wolkenlosen Himmel, und irgendwo heulte eine Eule, die sich wohl auf der Jagd befand. Nicola wollte die Läden gerade wieder schließen, als sie eine Bewegung an der Hauswand ausmachen konnte. Sie sah genauer hin, und entdeckte einen recht großen Stein, den sie vorhin noch nicht dort gesehen hatte. Er war etwa einen Meter hoch und genauso breit. Es war mehr ein Felsbrocken als ein Stein, aber er war am Nachmittag bestimmt noch nicht dagewesen. Neugierig beugte sie sich noch ein Stück aus dem Fenster, um den Stein Felsen, verbesserte sie sich besser sehen zu können. Dann bewegte sich wieder etwas. Irgendwas kroch über seine Oberfläche. Nein, es bewegte sich auf der Stelle. Plötzlich blinzelte der Felsen und sah sie aus großen steinernen Augen an. Nicola erstarrte. Aus dem Stein formte sich ein Gesicht, das dem eines alten Mannes glich, mit der Ausnahme, daß dieses hier von fahlgrauer Farbe war und keine Haare besaß. »Hallo, Kleines«, sagte der Stein.
Nicola überlegte. Sollte sie freundlich sein, oder eher vorsichtig? Immerhin war dies der erste Felsen, der mit ihr sprach. Sie hatte ohnehin noch nie von sprechenden Steinen gehört. Also beschloß sie, erst einmal abzuwarten, was passierte.
»Hab keine Angst«, teilte ihr das merkwürdige Wesen mit. »Ich will dir nichts tun.« Es schob sich auf sie zu. Wie es das machte, konnte Nicola nicht ganz erkennen. Sie sah nur, daß sich etwas unter ihm bewegte. »Ich möchte nur ein bißchen schwatzen.«
»Was bist du?« Das Mädchen war nun neugierig geworden.
»Ein Felsen, sieht man doch.« Das klang etwas verärgert. »Weißt du, daß du bis jetzt die einzige bist, die nicht vor mir davongelaufen ist?«
»Warum denn? Du siehst nicht sehr gefährlich aus.«
Der Ausdruck des Gesichtes veränderte sich ein wenig. »So? Na ja, vielleicht bin ich das auch nicht. Aber trotzdem will niemand sonst mit mir sprechen. Dabei kann ich gar nichts dafür, daß ich so bin, wie ich bin.«
»Dafür kann keiner was.«
»Was machst du da?« fragte Conny, die eben erwacht war. »Nicola! Was stehst du da am Fenster rum? Du wirst dich noch erkälten.«
Erschreckt wirbelte Nicola herum. »Ich habe mich nur mit dem Stein unterhalten, der da draußen ist.«
»Ach, hör doch auf. Geh lieber schlafen. Mach die Läden zu, es zieht.« Damit schlang sie sich ihre Decke um die Schultern und drehte sich auf die andere Seite.
Nicola wandte sich wieder um, aber der Stein war verschwunden. Sie hielt noch eine Weile Ausschau, aber nachdem Conny sie wieder ermahnte, daß sie schlafen gehen sollte, gehorchte sie widerstrebend. Sie stieg wieder in ihr Bett hinauf und träumte bald schon von sprechenden Steinen, die mit ihr durch die Berge wanderten.
*
»Nicola! Frühstück! Aufwachen, du Faulpelz.« Jemand schüttelte sie sanft und sprach auf sie ein. Es hörte sich nach Mutti an. Frühstück? Nicola öffnete die Augen.
»Na endlich bist du wach. Es gibt Essen in der Küche.« Sie küßte ihre Tochter auf die Stirn und ging hinaus, um sich zu den anderen zu gesellen, die bereits am Tisch saßen und warteten. Nicola stand langsam auf und zog sich an. Was für ein seltsamer Traum. Steine sprachen nicht, das wußte sie. Jedenfalls hatten ihre Eltern ihr erklärt, daß Steine nicht lebten. Aber dieser hatte mit ihr gesprochen, er hatte sogar ein Gesicht gehabt. Obwohl sie sicher war, daß sie geträumt hatte, warf sie noch einen Blick durchs Fenster auf die Wiese hinter dem Haus. Sie sah keinen Felsen, nur Gras und Büsche. Sie zuckte mit den Schultern und ging zu den anderen an den Tisch.
Einige Zeit später packten sie ein paar Rucksäcke zusammen, die sie mit Proviant für ein Picknick in den Bergen füllten. Sogar Conny schien heute morgen in besserer Laune zu sein. Gemeinsam verließen sie die Hütte, und Stefan schloß hinter ihnen ab. Dann wanderten sie los, immer in Richtung des hohen Berges im Osten, hinter dem sich die Sonne noch versteckt hielt. Die Luft war warm und klar, es roch nach Blumen und Kräutern, die wild auf den Wiesen wuchsen. Insekten summten an ihnen vorüber, Schmetterlinge begleiteten sie, und langsam tauchte die Sonne über dem Gipfel auf.
Nicola und Michael jagten sich gegenseitig über das Gras. Maria schüttelte den Kopf. Wo nahmen die beiden nur die Energie her? Sie waren nun bereits seit einer Stunde unterwegs, und ihre beiden jüngsten Sprößlinge waren die ganze Zeit über damit beschäftigt gewesen, einander zu verfolgen und aus vollem Halse zu lachen. Nicola hatte ein paar schöne Blumen gefunden und sich in ihre blonden Locken gesteckt, wo die blauen Blätter einen hübschen Kontrast bildeten.
Schließlich kamen sie an einen schmalen Wildbach, der an ihnen vorbei den Hang hinabfloß. Hier standen ein paar Bäume die Schatten spendeten und diesen Ort ideal für ein Picknick werden ließen. Sie breiteten ihre Decken aus und ließen sich im Schatten der Bäume nieder. Ein kleines Mahl war schnell verzehrt, und danach ruhten sie sich faul in der Sonne aus. Nicola hatte in der Nähe noch mehr Blumen gefunden und ließ sich nun von Conny zeigen, wie man aus ihnen einen Kranz flechten konnte. Das beschäftigte sie eine Weile, bis es ihr langweilig wurde und sie Conny fragte, ob sie mit ihr ein wenig spazierengehen wollte. Ihre große Schwester stimmte zu, und auch Michael wollte mitkommen. Stefan und Maria hatten keine große Lust, jetzt schon weiterzugehen, und so einigten sie sich darauf, daß sie in einer Stunde wieder zurück sein sollten.
Fröhlich hüpfend ging Nicola voran. Sie führte die anderen beiden bergauf, zwischen einer großen Ansammlung von Findlingen hindurch - die allesamt kein Gesicht hatten und nicht mit ihr sprachen - in eine Senke hinein. Hier wuchs kaum Gras, nur ein wenig widerspenstiges Moos hatte die nackten Felsen besiedelt. Auf der anderen Seite der Senke gähnte eine recht große Höhle im Fels.
»Was meinst du, wohnt da einer?« fragte Nicola ihre Schwester. »Vielleicht ein Bär oder ein alter Mann mit einem furchtbar langen Bart?«
»Wir können ja mal nachsehen, Nicki«, schlug Conny vor. »Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn da wirklich ein Bär wohnt, kann das sehr gefährlich werden.« Sie hatte ihre Stimme bedrohlich gesenkt, und Nicola blickte sie mit großen Augen an. Hastig bückte sie sich nach ein paar Steinen, und Michael bewaffnete sich mit dem Stock, den er unterwegs aufgelesen hatte. Gemeinsam wagten sie sich vorsichtig an die Höhle heran.
Nicola hatte wieder die Führung übernommen, sie ging den anderen bis zum Rand der Höhle voraus. Dann drehte sie sich um und legte einen Finger an die Lippen. »Pssst. Bleibt stehen«, flüsterte sie. »Ich gehe rein.« Leise schlich sie weiter und trat in die Höhle. Schon bald war sie aus dem Blickfeld der anderen verschwunden. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sie laut schreiend wieder herausgerannt kam. »Ein Bär! Ein riesiger Höhlenbär!« rief sie, dann blieb sie atemlos bei den anderen stehen. »Er ist da drinnen! Ich glaube er schläft noch, aber ich bin trotzdem weggerannt.«
Conny lachte innerlich über die blühende Phantasie ihrer Schwester und über Michaels Reaktion. Er hatte sich breitbeinig mit seinem Stock vor die Höhle gestellt und beteuerte immer wieder, er würde sie beide vor der Bestie beschützen. Aber alle drei erschraken, als sich die Höhle plötzlich mit einem lauten Knirschen schloß und ein Paar großer Augen darüber sichtbar wurde.
»Ach du liebe Güte!« plapperte der Berg los. Dabei bewegte sich das, was sie für einen Höhleneingang gehalten hatten, wie ein riesiger Mund auf und ab. »Ein Bär? In meiner Höhle? Ich glaube, den muß ich wohl zur Sicherheit einsperren, damit er euch nichts tut, nicht wahr?«
Conny machte voller Entsetzen einen Schritt zurück, stolperte und fiel auf den harten Felsboden. Michael stand nur mit offenem Mund da. Nicola hatte das dumpfe Gefühl, als hätte sie in der letzten Nacht doch nicht geträumt.
»Dich kenn' ich doch, oder irre ich mich?« Die Augen des Berges richteten sich auf Nicola. »Ja, natürlich. Ich war gestern bei dir am Fenster. So einen hübschen, blonden Lockenkopf vergesse ich nicht so schnell. Überhaupt vergesse ich kaum etwas. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich mich selbst in den letzten Jahrhunderten kaum verändert habe.« Während der Berg redete, kam Conny wieder auf die Beine und starrte das Wesen ungläubig an. Nicola hatte sich längst wieder gefaßt, und auch Michael sah lange nicht mehr so überrascht aus wie zuvor.
»Gestern warst du aber viel kleiner«, warf Nicola ein, als der Berg eine Pause machte.
»Oh ja, gewiß. Ich habe einen meiner Findlinge genommen, weil ich selbst zu schwer bin. Siehst du? Und da dieser kleine Felsen vor, ich weiß nicht genau, nun ja, etwa siebenhundertsechzehn Jahren von mir herabgefallen war, ist er ein Teil von mir. Genaugenommen ist so ziemlich jeder Stein, den ihr hier seht ein Stück von meinem Ganzen.«
»Warum kannst du denn sprechen?« wollte Michael wissen. »Ich habe noch nie einen sprechenden Berg gesehen.«
Ein tiefes Grollen klang aus dem Mund des Bergwesens, das wohl ein Räuspern gewesen sein mußte. »Tja, das ist schon eine sehr lange Geschichte. Seht ihr, ich war nicht immer ein Berg. Eigentlich stamme ich nicht einmal von hier. Vor langer Zeit war ich einmal ein Mensch, wie ihr auch.« Nicola machte es sich auf dem Boden bequem. Es schien tatsächlich eine lange Geschichte zu werden. Ungeduldig winkte sie den anderen, das gleiche zu tun. »Es liegt jetzt schon so weit zurück«, fuhr der Berg fort, »daß selbst ich mich nur schwach daran erinnern kann. Damals habe ich ein wunderschönes Burgfräulein kennengelernt und schließlich auch geheiratet. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, aber es war damals so richtig schön romantisch. Egal, wie dem auch sei, zu dieser Zeit, es mag wohl ein Jahr nach unserer Hochzeit gewesen sein, tauchte ein ziemlich zwielichtiger Kerl in meinem Land auf, der sich durch magische Beschwörungen einen Teil meines Besitzes aneignete. Darunter auch meine Gemahlin. Tagelang habe ich nach ihr gesucht und sie nicht gefunden. Meine eigenen Hofzauberer waren der Macht des Parrakan, so hieß er, nicht gewachsen. Also bat ich sie, mich an einen Ort zu bringen, wo ich Hilfe finden konnte. Es gelang ihnen schließlich in einem nahegelegenen Gebirge ein Tor zu schaffen, das mich in diese Welt hier leiten würde, doch als ich hindurchging unterlief einem meiner Magier ein kleines Mißgeschick. Im Prinzip war es nichts Großartiges, nur eine falsche Drehung des Kopfes, aber, nun ja, ihr seht ja, was dabei herausgekommen ist. Nun warten meine Freunde in meiner Welt auf mich, und ich kann nicht zu ihnen.«
»Aber werden sie denn nicht längst gestorben sein? Immerhin bist du schon so lange hier.«
»Oh nein, keineswegs! Sieh mal, kleine Prinzessin. Ich wußte, daß ich eine Zeitlang brauchen würde, um Hilfe zu holen, und so lange ich fort bin, darf mein Land nicht ungeschützt sein. Also richteten meine Zauberer eine Besonderheit des Tunnels mit ein: Die Zeit in meiner Welt wurde auf ein geringes Maß verlangsamt, allerdings werden dort mit Sicherheit auch schon einige Jahre vergangen sein. Oh, wenn ich doch nur aus dieser Hülle herauskönnte, dann würde ich es dem Parrakan schon zeigen.«
»Können wir dir denn nicht irgendwie helfen?« Nicolas Miene zeigte tiefes Mitgefühl.
»Hmm. Ihr könntet schon, davon bin ich überzeugt. Aber es ist sehr gefährlich. Der Parrakan ist ein nicht zu unterschätzender Gegner, und er ist gnadenlos.« Seine Stimme wurde hart und dunkel. »Er würde jeden, der es wagt mir zu helfen unerbittlich verfolgen, bis er ihn zu fassen kriegt. Was er dann mit ihm anstellen würde, wage ich mir gar nicht vorzustellen. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, daß du mir helfen möchtest, aber das kann ich nicht verantworten. Schließlich kennst du mich ja kaum, du hast im Prinzip ja auch gar nichts damit zu tun.«
»Ich glaube auch, daß wir uns da raushalten sollten«, sagte Conny, die endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Mir ist die ganze Sache mehr als unheimlich.«
Nicola schien sie gar nicht gehört zu haben. »Was müßten wir denn tun? Ich meine ja nicht, daß wir es tun werden«, fügte sie hastig hinzu, als ihre Schwester protestierte. »Ich will es eben nur wissen.«
Der Berg dachte einen Augenblick nach. »Ich habe Angst, euch zuviel zu erzählen. Jedes Wort, das ihr mehr wißt erhöht die Gefahr, daß der Parrakan in euch eine mögliche Bedrohung sieht. Ich will euch wirklich nicht in unnötige Schwierigkeiten bringen.« Wieder grübelte er eine Weile. Dann brummelte er etwas und fuhr schließlich fort: »Tja, also. Nun, ich glaube, ich kann euch soviel erzählen: Der Parrakan besitzt, wie jeder anständige oder nicht anständige Zauberer, einen Zauberstab. Aus diesem bezieht er seine Kraft, die er zur Ausführung seiner Magie braucht. Wenn es jemanden gelingen würde ihm diesen wegzunehmen, dann wäre er ziemlich hilflos, denke ich. Ach du Schreck, ich glaube ich sollte lieber still sein, bevor ich noch zuviel sage.« Nicola hatte den Eindruck, daß er sich die Hände vor den Mund gehalten hätte, wenn er welche gehabt hätte.
»Warum ist denn das so schwer?« Nicola dachte an das Bett, das sie von ihrem Bruder erobert hatte.
»Er weiß natürlich, wieviel von seinem Stab abhängt. Deshalb trägt er ihn auch immer bei sich, selbst nachts, wenn er schläft. Niemand kann in seine Nähe kommen, ohne daß er es bemerken würde. Deshalb fürchte ich, gibt es keine Hoffnung mehr für mich und mein Volk.«
»Können denn deine eigenen Zauberer nichts dagegen machen?«
»Wenn das so einfach wäre, könnte ich mich glücklich schätzen. Leider ist es aber so, daß der Parrakan viel mehr Macht besitzt, als alle meine Magier zusammen.«
»Dann sollten wir uns einen Plan ausdenken«, meinte Michael und ging zu Nicola hinüber.
Conny war außer sich. »Ihr seid wohl ganz verrückt geworden! Habt ihr denn nicht gehört, wie gefährlich das ist? Wollt ihr euch wegen eines...« Sie stockte als ihr bewußt wurde, daß sie ihre Geschwister vor einem sprechenden Berg warnen wollte. »Ich meine, das klingt doch alles sehr seltsam, oder nicht?«
»Jaaa...« Nicola dachte nach. »Aber wenn er doch Hilfe braucht? Ich finde, wir sollten es zumindest versuchen, Conny.«
»Was werden Mutti und Papa dazu sagen?« fragte Michael.
»Frag sie mal«, meinte Conny. »Alles was sie sagen werden, ist: Ja, ja, oder so was ähnliches. Wer glaubt denn schon an sprechende Berge. Entschuldige«, fügte sie hastig hinzu, falls sich das Bergwesen gekränkt fühlen sollte.
»Wie heißt du eigentlich?« wollte Nicola wissen.
»Sinder. Prinz Sinder, um genau zu sein.« Unterschwelliger Stolz schwang in seiner Stimme mit, und Nicola fragte sich, ob sie bisher nicht ein wenig zu respektlos gewesen waren. Allerdings schien er nicht verärgert oder gereizt zu sein. »Hört mal zu«, fuhr er fort. »Bevor ihr jetzt etwas tut, was ihr später vielleicht bereuen werdet, denkt noch einmal vorher genau über die Gefahren nach, die auftreten können.«
Sie überlegten, aber für Nicola stand längst fest, welche Antwort sie geben würde. »Ich helfe dir. Ich will nicht, daß er deinen Freunden was tut.«
»Ich helfe auch«, schloß sich Michael an.
»Oh nein!« Conny verdrehte die Augen. Die Geschwister berieten sich noch eine Zeit lang, und als Conny schließlich doch noch zustimmte, geschah das nicht aus Überzeugung, sondern eher aus dem Grunde, daß die ganze Sache für sie ziemlich unglaublich war.
Sinder seufzte einmal tief. »Also dann. Ich danke euch von ganzem Herzen für eure Hilfsbereitschaft. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um euch zu schützen, aber das Risiko wird doch noch sehr hoch sein. Wenn ihr euch also wirklich entschieden habt, dann geht in meine Höhle und immer geradeaus. Ich werde euch dann führen.« Langsam öffnete er den Eingang zu seiner ursprünglichen Größe.
Mit einem unguten Gefühl folgte Conny ihren beiden kleineren Geschwistern, die sich bereits staunend im Inneren des Tunnels umsahen. Sie waren schon zehn Meter weit gekommen, als sich plötzlich der Eingang hinter ihnen schloß. Die unvermittelte Dunkelheit erschreckte sie, und sie blieben wie angewurzelt stehen. Eine Stille legte sich über den Raum, die dann von einem leisen Kratzen in einer entfernten Ecke unterbrochen wurde. Conny hörte die leisen Aufschreie von Nicola und Michael, als sie vor dem Geräusch zurückwichen. Die Echos hallten unheimlich von den Wänden wider.
Einen Augenblick später leuchteten zwei kleine Punkte in Bodennähe schwach auf. Das schummrige Licht half den Geschwistern, zueinander zu finden. Ängstlich drängten sie sich aneinander, bis sich das Licht in ein grelles Strahlen verwandelte, das ihre Augen blendete. Conny schrie laut auf. Als sie wieder sehen konnten, war die Dunkelheit zurückgekehrt, mit Ausnahme von zwei hellen Flecken auf einem kleinen Felsen.
»Entschuldigt, daß ich euch erschreckt habe«, sagte der Felsen. »Die Verwandlung dauert immer eine Weile, und leider geht es manchmal nicht ohne gewisse Überraschungen ab. Ich hätte euch wohl warnen sollen«, schloß er, sichtlich zerknirscht. Die steinernen Züge des Felsens verzogen sich zu einer bedauernden Miene.
»Das will ich aber auch gemeint haben«, entrüstete sich Conny, die sich mittlerweile an sprechende Steine zu gewöhnen begann. »Was sollen wir jetzt tun?«
Der Felsen rollte zu einem weiterführenden Gang. »Folgt mir einfach. Ich zeige euch den Weg. Folgt einfach meinem Licht.« Damit verschwand er hinter einer Wand, und die Geschwister eilten ihm nach. Der Tunnel war steinig, überall lagen kleinere und größere Felsen herum, die sie stolpern ließen. Sinder führte sie jedoch unbeirrt weiter, selbst dann noch, als die drei schon längst jede Orientierung verloren hatten. Auf ihrem Weg durch die Höhlen hatten sie Zeit, sich umzublicken. Stalagmiten wuchsen vom Boden empor, um sich mit den darüberhängenden Stalagtiten in vielen Jahrhunderten zu vereinigen. Einmal durchquerten sie eine geräumige Halle, in deren Mitte sich ein klarer See gesammelt hatte. Das Wasser leuchtete seltsam grünlich, aber Sinder ließ Nicola keine Gelegenheit, sich den Tümpel genauer anzusehen. Lange Zeit führte er sie zielstrebig durch das Innere des großen Berges. Conny wurde es langsam unbehaglich. Was, wenn sie nun nicht mehr hier herauskamen? Entsetzt dachte sie daran, daß sie keine Vorräte mitgenommen hatten.
Es dauerte lange, bis sie den Ausgang erreichten. Nicola stöhnte leicht auf, und auch die anderen hielten sich die Hände an den Kopf. »Das ist normal«, erklärte Sinder fröhlich. »Eine Folge der Zeitverschiebung, nehme ich an. Aber es geht schnell vorbei.« In der Tat klärte sich Nicolas Blick einige Sekunden später. Sie blinzelte in dem ungewohnten Licht der Sonne, die durch den Höhlenausgang hereinschien. Nicola spähte ins Dunkel der Grotte zurück und versuchte zu ergründen, wohin Sinder sie geführt hatte. Lange genug waren sie ja gelaufen. Sie wandte sich wieder den anderen zu, die alle, Sinder ausgenommen, auf die Landschaft starrten, die sich vor ihnen ausbreitete. Ein hellblauer Himmel hing über sattgrünen Wiesen und Bäumen, die ihre üppigen Zweige der Sonne entgegenreckten. Sinder war neben die Geschwister gerollt und genoß sichtlich die Überraschung der drei. Seine steinernen Züge waren zu einem schiefen Lächeln verzogen.
»Ich hoffe, es gefällt euch hier«, meinte er, nachdem sie eine lange Zeit schweigend dagestanden hatten.
Nicola fing sich als erste wieder. »Es ist wirklich schön hier«, stimmte sie seiner Hoffnung zu. »Genau so habe ich mir immer die Märchen vorgestellt, die Mutti uns erzählt hat. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn wir hier ein paar Elfen treffen würden.«
»Nicht, daß mich überhaupt noch irgendetwas wundern würde«, meinte Conny.
»Elfen habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, sagte Sinder, unbeeindruckt von Connys Kommentar. »Sie haben sich von uns zurückgezogen, wollten wohl eine eigene Gesellschaft gründen, oder so. Na ja, jedenfalls sind sie hier vermutlich seltener anzutreffen als Rerks zum Beispiel.«
»Was sind denn Rerks?«
»Ziemlich dümmliche Kreaturen.« Sinder zog verächtlich die steinernen Augenbrauen hoch. »Schrecklich neugierig, geschwätzig, klein und unglaublich geschickt, wenn sie schnell verschwinden müssen. Allerdings sind sie sehr mutig, was ich aber eher auf ihre Dummheit zurückführen möchte. Noch nie hat ein Mensch, Zwerg oder Elf beobachtet, daß ein Rerk vor etwas davongelaufen ist. Sie haben einfach keine Angst.«
»Klingt ziemlich merkwürdig«, sagte Conny. »Bevor wir hier noch lange herumstehen, sollten wir uns langsam auf den Weg machen, wohin wir auch immer gehen werden. Ich möchte nämlich nicht, daß wir zu lange hierbleiben.«
»Keine Sorge, mein Kind«, sagte Sinder. »Unser Ziel ist nicht mehr weit von hier entfernt, höchstens eine Stunde, oder so.«
Es stellte sich schließlich heraus, daß sie zweieinhalb Stunden brauchten, bis Sinder endlich ein großes Bauwerk am Fuße eines Berges entdeckte. Sie waren gerade aus einem Wald gekommen, den er mit »Schädelwald« bezeichnet hatte, als er sein Ziel endlich erblickte. Mehrere hundert Meter von ihnen entfernt stand das Schloß, mit einer Seite an den Hang des Berges geschmiegt, als wäre es mit ihm verwachsen. Dort, berichtete Sinder, hatten er und seine Gemahlin in der Vergangenheit gewohnt und regiert. Dann hatte sich der Parrakan in seinen Mauern verschanzt und Sinders Volk unter seine Kontrolle gebracht.
»Näher heran kann ich euch nicht bringen«, sagte Sinder und bedeutete den Geschwistern, Halt zu machen. »Ich muß mich vom Schloß fernhalten, denn sonst spürt er die Magie, mit der mich meine Zauberer in diese Gestalt gebannt haben. Es gibt einen unterirdischen Zugang ins Innere, den ihr unbemerkt erreichen könnt, wenn es erst einmal dunkel ist. Ursprünglich hatten wir ihn als letzten Ausweg angelegt, aber es spricht ja nichts dagegen, ihn umgekehrt zu benutzen. Drinnen müßt ihr das Schlafgemach des Zauberers finden und seinen Stab zerstören. Erst dann bin ich wieder in der Lage, euch beizustehen.«
»Tolle Aussichten«, maulte Conny. »Ist ja schon gut, Nicki!« Sie machte eine beschwichtigende Handbewegung, als ihre kleine Schwester gerade wütend werden wollte. »Ich habe ja nicht gesagt, daß ich nicht hineingehe. Also, wo ist dieser Eingang?«
»Bevor ich euch das sage, möchte ich noch einmal vor dem Parrakan warnen! Die Gefahren sind nicht zu unterschätzen. Ich würde es durchaus verstehen, wenn ihr die Sache doch lieber bleiben lassen wollt.«
»Gerade jetzt, wo es interessant wird?« beschwerte sich Nicola. »Nein, ich mache mit!«
»Ich auch, ich auch!« schloß sich Michael begeistert an, was auch niemand anders erwartet hatte. Nicola und Sinder blickten nun erwartungsvoll zu Conny hinüber, die unschlüssig das ferne Schloß betrachtete.
»Was soll ich da noch gegen sagen?« meinte sie schließlich und zuckte mit den Schultern. »Die Sache ist wohl bereits entschieden.«
»Worauf warten wir dann noch?« fragte Michael ungeduldig. »Suchen wir den Eingang und den Zauberer.«
Sinder lächelte. »Ich schulde euch dreien meinen tiefsten Dank. Ich weiß wirklich zu schätzen, was ihr da auf euch nehmt.« Etwas verlegen blickte er in die kleine Runde. »Nun ja, also dann. Nach Einbruch der Dämmerung könnt ihr euch bis zu den Bergen voranschleichen. Von dort aus müßt ihr euch am Rande des Gebirges entlang auf das Schloß zubewegen, bis ihr an drei Findlinge kommt, die in einer regelmäßigen Formation aufgestellt sind. Genau in der Mitte des Dreiecks befindet sich der Eingang zum Schloß. Der geheime Tunnel endet im Vorratskeller des Haupthauses. Von dort aus müßt ihr selber weiterkommen, da der Parrakan sicher einiges verändert hat. Auf jeden Fall müßt ihr euch vor Wächtern in Acht nehmen. Ich wäre untröstlich, wenn euch etwas zustoßen sollte.«
Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont entgegen, das Licht des Tages schwand mit jeder Minute. Endlich, als es beinahe dunkel war, gab Sinder das Zeichen zum Aufbruch. Conny, Nicola und Michael verabschiedeten sich von ihm und begannen ihre ungewisse Reise, jeder von ihnen mit Ahnungen und Vorstellungen über das bevorstehende Ereignis erfüllt. Langsam wanderten sie über die Grasebene auf die riesige Bergwand zu, die sich vor ihnen himmelhoch auftürmte. Unterwegs überquerten sie einen schmalen Bach, an dem sie ihren Durst stillen konnten. Im Schein des seltsam grünlichen Mondes, der gerade aufgegangen war, erreichten sie das Gebirge, an dessen Fuß sie erst einmal eine kleine Pause einlegten. Nicola schnaufte schwer, mit ihren kurzen Beinen hatte sie die meisten Probleme gehabt, die Strecke zurückzulegen. Michael grinste fröhlich vor sich hin, während Connys düsterer Blick an der Silhouette des Schlosses hing. Offensichtlich machte ihr diese Sache mehr Angst, als sie zugeben wollte.
Nachdem sich Nicola halbwegs erholt hatte, wanderten sie weiter. Die Dunkelheit schützte sie vor neugierigen Blicken, machte den Weg aber auch nicht angenehmer. Als sie endlich die Mauern des Schlosses erreichten, war die Spannung kaum noch auszuhalten. Unterwegs hatten sie die ganze Zeit nach der Steinformation Ausschau gehalten, die Sinder beschrieben hatte. Vielleicht gab es diesen geheimen Gang ja gar nicht mehr. Sinder hatte ja schließlich gesagt, daß er eine längere Zeit nicht mehr hier gewesen war. Immerhin könnte der Parrakan den Tunnel entdeckt haben. Nach einigem Hin und Her entschlossen sie sich, umzukehren. Vielleicht fanden sie den Eingang ja auf dem Rückweg. Ansonsten wollten sie Sinder fragen, was sie tun sollten. Nicola ging nun voran, da sie die langsamste der kleinen Gruppe war. Auch ihr wurde es langsam unheimlich. Das grünliche Licht des Himmelstrabanten über ihnen beleuchtete die Landschaft ringsum in einer Art und Weise, die sie erschauern ließ. Vielleicht lag es an der größeren Vorsicht, mit der sie sich nun bewegten, oder es hatte einen anderen Grund, daß Michael plötzlich eine regelmäßige Anordnung von drei Findlingen bemerkte, die ein kleines Stück vom Bergrand entfernt auf der Wiese standen.
»Der Eingang!« jubelte er los. »Ich habe den Eingang gefunden!«
»Schscht!« machte Conny und legte ihm eine Hand auf den Mund, obwohl sie sich selbst in heller Aufregung befand. »Wenn du weiter so einen Lärm machst, werden die Schloßbewohner uns finden, Micha!« Sie gab ihren kleinen Bruder frei und wandte sich den Felsen zu, die blaß im Mondlicht schimmerten. »Ein Dreieck hat er gesagt, nicht wahr? Dann wollen wir mal sehen. Ja, tatsächlich, es ist ein Dreieck«, sagte sie aufgeregt, nachdem sie die Steine erreicht hatte.
»Und in der Mitte ist der Eingang«, erklärte Nicola, die ihrer Schwester nachgeeilt war. Noch bevor Michael zu ihnen stieß, suchte sie schon den Boden zwischen den Findlingen ab. Da sie wußten, wonach sie suchten, entdeckten sie schon bald eine hölzerne Klappe, die von Grassoden völlig verborgen gewesen war. Behutsam öffneten die Geschwister den Einstieg und spähten in den dunklen Gang, der sich darunter auftat.
»Wer geht zuerst rein?« fragte Nicola ängstlich und äugte in das Dunkel.
»Ohne Licht wird das wohl ziemlich egal sein«, meinte Conny. Einen Augenblick später leuchtete neben ihr eine kleine Flamme auf. »Wo hast du das denn her?«
»Ich wollte einen neuen Zaubertrick ausprobieren«, sagte Michael. »Da habe ich es aus Papas Tasche genommen.«
Am liebsten hätte sie ihren kleinen Bruder vor Freude umhergewirbelt, aber sie beherrschte sich und begnügte sich mit einem: »Dann haben wir wohl noch einmal Glück gehabt.« Sie nahm das Feuerzeug aus Michaels Hand und bastelte aus einem Stück Holz und ihrem Stofftaschentuch eine provisorische Fackel, mit der sie schließlich in den Stollen hinunterstieg. Wenige Augenblicke später schloß Nicola die Luke und folgte dem hüpfenden Licht der Fackel, die ihre Schwester trug. Der zweite Teil der Reise hatte begonnen.
*
»Langsam wird es aber Zeit«, murmelte Maria und stieß Stefan an, der im warmen Sonnenlicht eingeschlafen war. Protestierend regte er sich, sein Blick war noch verschwommen vom Schlaf. Nachdem er sich die Augen gerieben hatte, setzte er sich auf und blickte umher.
»Wie spät ist es denn?«
»Gleich zwei Uhr«, teilte ihm Maria nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr mit. »Wir sollten die Kinder langsam zurückholen, die Stunde ist schon lange vorbei.«
Stefan war endlich aufgestanden und streckte seinen Rücken durch. »Das sieht den kleinen Teufeln ähnlich. Nutzen jede Zeit bis zum Ende aus. Wo sind sie denn hingelaufen?« Maria deutete in die entsprechende Richtung. »Conny ist ja alt genug. Sie werden schon nicht allzuweit weg sein. Am besten packst du schon einmal zusammen. Ich hole die Kinder, einverstanden?«
Maria nickte und machte sich daran, die Reste des Picknicks in die Rucksäcke zu packen, damit sie bald weitergehen konnten. Stefan ging in die angegebene Richtung los. Warme Sonnenstrahlen schienen auf ihn herab und wärmten das Land ringsum. Er bewunderte die Schönheit der Umgebung, die in der Stadt nur erträumt werden konnte. Aber man konnte Industrie und Natur nun einmal nicht an derselben Stelle haben. Leise seufzend setzte er seinen Weg fort. Ein kleiner, hellblauer Schmetterling flatterte über den Pfad hinweg und setzte sich auf eine Blume. Wenige Augenblicke später war er schon wieder weitergeflogen. Hier wurde das Gelände langsam steiniger. Weniger Gras, dafür mehr Felsbrocken waren zu sehen. Schon bald war von dem dichten Bewuchs nicht mehr als etwas anspruchsloses Moos übriggeblieben. Vor ihm befand sich eine ziemlich große Höhle, die ins Innere eines der Berge führte. Eine solche Höhle würde seine Kinder mit Sicherheit reizen. Er stellte sich vor den Eingang hin und rief laut ihre Namen. Echos hallten von den Felsen und aus der Höhle zurück. Stefan wartete auf eine Antwort, die allerdings nicht kam. Noch einmal rief er, diesmal lauter und bestimmter. Nichts rührte sich. Der laue Wind wehte über die steinige Landschaft, ein paar Vögel kreisten am Himmel, gerade noch als dunkle Punkte im Blau zu erkennen. Stefan ging einige Schritte in den Tunnel hinein, bis das Licht zu schwach wurde. Aufmerksam blickte er umher und suchte den Boden ab. Wenige Augenblicke später fand er eine kleine, blaue Blume, die mitten im Gang lag. Ihre Blätter waren zertreten, aber immer noch duftete sie, als Stefan sie aufhob. Nicola hatte solche Blumen im Haar getragen. Dann waren sie also zumindest hier gewesen. »Nicola! Conny! Michael!« rief er in das Dunkel hinein, aber nichts geschah. Langsam kroch ihm ein mulmiges Gefühl in den Magen. Vorsichtig ging er ein paar Meter weiter hinein, aber er mußte schon bald feststellen, daß eine Suche ohne Licht hier keinen Sinn hatte, sein Feuerzeug konnte er auch nicht finden. Wahrscheinlich würde er sich nur selbst verlaufen. Zurückgehen wollte er allerdings auch nicht. Vielleicht waren sie in Gefahr? Unschlüssig und besorgt spielte er mit der lädierten Blume in seiner Hand herum und überlegte.
*
Trotz Connys Fackel blieb der Weg vor ihnen nur spärlich beleuchtet. Behutsam setzten sie einen Fuß vor den anderen, um nicht über eine Unebenheit des Bodens zu stolpern. Ab und an fiel ein Erdklumpen von der Decke herab, aber alles in allem schien der Stollen sicher zu sein, zumal Sinder gesagt hatte, daß der Weg nun schon viele Jahre existierte. Das Alter des Ganges spiegelte sich auch in der Beschaffenheit der Wände wider. Überall ragten Wurzeln heraus, von der Decke hingen dünne Fasern herab, die die Vorübergehenden im Gesicht kitzelten. Der Boden war an manchen Stellen von seichten Pfützen bedeckt. Die muffige Luft ergänzte den Eindruck noch.
Hier unter der Erde war es schwer, Entfernungen abzuschätzen. Conny hatte fünfhundertsechzehn Schritte gezählt, bis der Gang an einem senkrecht nach oben verlaufenden Schacht endete. Sie hielt ihre beinahe niedergebrannte Fackel hoch, um den Schacht auszuleuchten. Er führte etwa drei Meter hinauf, und dort konnte sie schemenhaft eine Holzplatte erkennen, die den Ausstieg bedeckte. Allerdings wehte hier ein leichter Wind, der die Fackel noch stärker zum Flackern brachte.
»Ich schätze, da oben kommen wir raus«, berichtete Conny und deutete hinauf. Die Tatsache, daß es hier keine Steigeisen oder Leiter gab bestätigte Sinders Angabe, daß es sich um einen Fluchtweg handelte. »Micha, halt mal die Fackel. Ich versuche, da raufzuklettern.« Ihr kleiner Bruder nahm das flimmernde Licht, während sie sich in die Seiten des Schachtes stemmte. So zog sie sich Stück für Stück weiter hinauf und bedachte ihre Geschwister dabei mit kleinen Sandschauern, worüber sich Nicola lauthals beschwerte. Schließlich gelang es ihr, die Decke des Schachtes zu erreichen. Vorsichtig drückte sie gegen das Holz und war angenehm überrascht, daß es sich problemlos anheben ließ. Langsam öffnete sie den Ausgang und klappte die Luke schließlich komplett auf.
»Was ist da oben?« fragte Nicola. »Conny! Was siehst du?«
»Pssst!« machte Conny und kletterte leise hinaus. Sie wollte nicht riskieren, daß sie bemerkt wurden. Der Raum, in dem sie jetzt stand, war vollkommen still. Durch vergitterte Öffnungen in den Wänden fiel ein leichter, grünlicher Schimmer herein und beleuchtete schwach das Innere. Mehrere Fässer standen hier, die meisten aufrecht, an einer Seite aber auch ein paar liegend. Eine Anzahl Truhen und Säcke war ebenfalls zu erkennen. Außer den schwachen Nachtgeräuschen draußen war nichts zu hören. Anscheinend waren sie bis jetzt noch nicht bemerkt worden. Mit einem langen Stab, den sie in einer Ecke des Raumes gefunden hatte, half sie ihren Geschwistern, den Schacht hinaufzuklettern. Michael ließ die mittlerweile nur noch schwach brennende Fackel in den Staub des Ganges fallen, wo sie beinahe sofort erlosch. Sie brauchten sie ohnehin nicht mehr.
Nachdem sie nun alle oben waren, untersuchten sie den Inhalt der Fässer. Es war schon eine ganze Zeit her, seit sie etwas gegessen hatten, und ihre Mägen knurrten fürchterlich. Die liegenden Fässer enthielten allesamt Wein, den Conny ihren Geschwistern resolut verbot zu trinken. In den aufrecht stehenden Behältern fanden sie gesammelte Früchte und gepflücktes Obst. Zusammen mit dem Brot aus einer der Truhen ergab das ein leckeres Abendessen. Wie Sinder ihnen gesagt hatte, war dies ein Vorratsraum. Die hier gelagerten Reserven schienen durchaus ausreichend, fünf Familien eine Woche lang zu ernähren. Sie hatten es sich während sie aßen mit ein paar alten Säcken bequem gemacht, aber bald schon wandten sie sich wieder ihrer ursprünglichen Aufgabe zu. Sorgfältig rollten sie die Säcke wieder zusammen und beseitigten die Essensreste, damit sie nicht bemerkt wurden. Anschließend gingen sie zu der kleinen Treppe, deren unregelmäßige Stufen hinauf in das Gebäude führten. Schritt für Schritt wagten sie sich voran. Die vollkommene Stille dieses Ortes verunsicherte die Geschwister. Jeden Augenblick erwarteten sie ein Geräusch, einen Alarmruf oder Verfolgungen, aber nichts dergleichen geschah. Auch als sie das obere Ende der Treppe erreicht hatten, war kein Ton zu hören. Sie standen jetzt in einem schmalen Flur, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Das wenige Licht, welches durch schmale Schlitze an der rechten Gangseite hereinschien half ihnen, den Korridor zu überblicken. Das Ende des Ganges wurde durch eine weitere Treppe gebildet, die aufwärts führte. Diesmal aber waren die Stufen gerade und in gleichmäßigen Abständen errichtet worden. Umrisse von Wandgemälden und einem Treppenläufer ließen diesen Teil des Schlosses wesentlich gemütlicher erscheinen, als es der Vorratskeller gewesen war. Allerdings mußten sie hier noch vorsichtiger sein, offensichtlich wurden diese Gänge hier öfter benutzt.
Daß dies tatsächlich der Fall war stellten sie einige Augenblicke später fest. Schritte kamen von der Treppe oben herunter. Es waren schwere, laute Schritte, und bei jedem einzelnen war noch das Geklimper von Metall zu vernehmen. Hastig blickte Conny sich um. Sie waren schon zu weit von der Treppe zum Vorratsraum entfernt, um unbemerkt in den Keller fliehen zu können. Deshalb öffnete sie kurz entschlossen eine der zahlreichen Türen und schlüpfte mit ihren beiden kleinen Begleitern lautlos in den dahinterliegenden Raum. Angespannt lauschten sie auf die Geräusche im Gang auf der anderen Seite.
Die Schritte kamen näher. Nicola drängte sich an Conny, die allerdings mindestens genauso ängstlich war. Michael, der das Ganze wohl eher als ein Spiel betrachtete, hatte sich horchend an die Tür gestellt.
Immer noch näherten sich die stampfenden Geräusche. Wenige Augenblicke später öffnete sich eine Tür auf dem Gang. Die Schritte wurden leiser, die Tür fiel ins Schloß. Dann herrschte wieder Stille. Angespannt warteten die drei auf weitere Geräusche.
»Das war nur der Wächter, der kommt so schnell nicht zurück.«
Mit einem leisen Schrei fuhr Conny herum und wich an die Wand zurück. Nicola drückte sich noch fester an sie. Ihr Bruder spähte in den Raum hinein, der nur schwach erleuchtet war. Die Stimme war aus der hinteren Ecke gekommen, dort, wo die drei nichts erkennen konnten. »Wer ist da?« fragte Michael.
»Fil«, sagte die Stimme. »Und wer seid ihr?«
»Wer bist du?«
»Na hört mal«, die Stimme klang etwas ärgerlich. »Ich habe euch zuerst gefragt.«
»Gut, von mir aus. Ich bin Michael, und das sind Conny und Nicola. Sagst du uns jetzt, wer du bist?«
»Habe ich doch schon. Ich bin Fil. Nicht mehr und nicht weniger.« Die Stimme kam näher. Jetzt konnten sie den schemenhaften Umriß eines kleinen Körpers sehen, der sich auf sie zubewegte. »Keine Angst, meine Damen«, sagte der Schatten. »Ich bin in friedlicher Absicht hier.« Langsam konnten sie das Wesen erkennen. Es sah eigentlich aus, wie ein Mensch, nur kleiner. Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht und die fröhlich-bunte Kleidung unterstrich seine unbeschwerte Ausstrahlung. »Ihr scheint ja auch nicht zum Schloß zu gehören, oder irre ich mich? Zumindest habe ich euch hier noch nie gesehen.« Wenige Schritte vor ihnen blieb er stehen und musterte die Neuankömmlinge.
»Du wohnst auch nicht im Schloß? Warum bist du dann hier?«
»Dasselbe könnte ich euch fragen.« Fil legte den Kopf schief. »Aber eigentlich interessiert es mich auch gar nicht. Ich bin nur hier, weil ich es möchte. Ich wollte nur mal sehen, wer hier so wohnt und wie es in einem Schloß aussieht. Allerdings muß ich sagen, daß ich es mir eigentlich viel schöner vorgestellt habe. Mein Onkel Schleicher zum Beispiel war auch schonmal hier, und er hatte mir ganz andere Dinge erzählt. Das ist jetzt zwar schon sieben Jahre her, aber das ist trotzdem kein Grund, daß jetzt alles so trostlos aussieht, gerade, wenn ich mir alles ansehen will.«
»Möglicherweise liegt das an dem neuen Besitzer des Schlosses«, überlegte Michael laut.
»Ja, der dunkle Kerl. Das ist vielleicht ein komischer Kauz, kann ich euch sagen. Er spricht mit kaum jemanden, außer, wenn er irgendwelche Befehle erteilt. Und immer hat er diese häßlichen, schwarzen Roben an. Manchmal hat man echte Probleme, ihn zu erkennen. Er macht ja auch nie Licht.«
»Spricht er denn mit dir?«
Fil sah ihn geringschätzig an, indem er eine Augenbraue hob. »Wenn der wüßte, daß ich hier bin, wäre ich längst im hohen Bogen rausgeflogen. Niemand weiß von mir.« Das klang sehr selbstzufrieden. »Niemand außer euch, natürlich. Aber ihr gehört ja auch nicht hierher. Übrigens, wem hat denn das Schloß vorher gehört?«
Michael wunderte sich, daß ein Wesen, das offensichtlich hier wohnte, das nicht wußte, aber er beschloß, es ihm zu erzählen. Vielleicht konnte er sich ja noch als nützlich erweisen. »Dem Prinzen Sinder«, antwortete er. »Der Parrakan hat ihm das Schloß mit Hilfe seines Zauberstabes gestohlen.«
»Ach so, das ist ein Zauberstab. Ich wunderte mich schon, warum er den ganzen Tag mit diesem komischen Stock herumläuft. Er hat ihn noch nie weggelegt, da bin ich sicher.«
»Du hast den Stab gesehen?« fragte Nicola, die sich mittlerweile von Conny gelöst hatte.
»Ja, sag' ich doch. Manchmal macht er damit auch so ein paar komische Bewegungen, aber sonst hab' ich noch nichts darüber herausfinden können.« Das schien er ziemlich zu bedauern. Dann leuchteten seine Augen auf. »Wißt ihr denn mehr darüber?«
Conny hatte eine Idee. »Wir wissen alles über den Stab. Aber wir können dir das nur zeigen, wenn wir ihn hier haben. Solange der Parrakan ihn hat, geht das nicht.« Sie machte ihren Geschwistern eine unauffällige Geste die bedeutete, daß sie später alles erklären würde. »Der Stab kann viele Dinge, interessante Dinge. Aber der schwarze Mann wird sie dir nie zeigen. Aber wenn du ihn uns bringst...«
»Wie soll er das tun?« wollte Nicola wissen. »Sinder hat gesagt, daß niemand an ihn rankommt, selbst wenn er schläft.«
»Da kennt ihr mich aber schlecht«, sagte Fil und baute sich stolz auf. »Ich habe mir den Stab schon ein paarmal angesehen, und nie hat er was bemerkt. Ich wette, der kriegt es nicht einmal mit, wenn ich den Stock mitnehme.«
Conny konnte ihr Glück kaum fassen. »Wann?«
»Wenn er schläft. Da liegt das Problem. Man weiß nie genau, wann er sich das nächste Mal hinlegen wird. Aber wir können ja vor seinem Schlafgemach warten.«
»Wird er uns nicht bemerken?« fragte Conny.
Jetzt war seine Stimme verächtlich geworden. »Meine liebe Dame! Kein Rerk, der aus seinen ersten Klamotten raus ist, wird gefunden, wenn er es nicht will.« Conny hoffte, daß das alles stimmte, was er behauptete.
»Und was ist mit uns? Dich sieht er vielleicht nicht. Aber wir können uns wahrscheinlich nicht so leicht vor ihm verbergen.«
»Dann muß ich wohl alleine gehen. Ich werde aber erst einmal Ausschau halten, ob und wann er sich zur Ruhe begeben wird. Es dauert nicht lange.« Damit wandte er sich um und steuerte auf die Tür zu, durch die sie vorhin hereingekommen waren.
»Wo ist denn das Schlafzimmer?« wollte Nicola wissen.
»Nebenan«, antwortete Fil lapidar und schloß die Tür hinter sich.
*
Sie warteten nun schon eine Stunde. Fil war kurz nach seinem Aufbruch wiedergekommen und hatte ihnen mitgeteilt, daß der Magier wohl erst bei Sonnenaufgang schlafen gehen würde. Danach war er wieder verschwunden und bis jetzt nicht mehr aufgetaucht. Die Geschwister hatten es sich auf einer Sitzgruppe bequem gemacht, die in einer Ecke des großen Arbeitsraumes stand. Um sie herum war es absolut still, nichts regte sich auf dem Gang. Nicola war an Connys Schulter eingeschlafen, und auch Michael sah aus, als würden ihm jeden Moment die Augen zufallen. Sie selbst war dagegen hellwach. Ihr ging zu viel im Kopf herum, als daß sie hätte schlafen können. Da war ersteinmal ihre Begegnung mit dem Felsenwesen, das sich selbst als Prinz Sinder bezeichnete. Dann dieser Durchgang in eine andere Welt, in der Kobolde, Elfen und Zwerge nichts Besonderes waren. Und die Gefahr, in der sie sich befanden. Irgendwie schien ihre gesamte Weltvorstellung auseinanderzufallen. Sie drückte ihre schlafende, kleine Schwester an sich und fragte sich gleichzeitig, wie lange sie dies noch tun konnte.
Ein leises Klappern schreckte sie aus einem unruhigen Halbschlummer. Ihr Blick wanderte im Raum umher bis sie bemerkte, daß sich die Tür bewegte. Hastig weckte sie ihre kleineren Geschwister, die sie aus großen, verschlafenen Augen anstarrten. Dann öffnete sich die Tür ganz, und ein beängstigend kräftig aussehender Mann betrat das Arbeitszimmer. Ziemlich sofort entdeckte er die drei, die sich auf den Kissen zusammendrängten und zog seine Waffe. Die lange Klinge glänzte im fahlen Mondlicht, das durch die Tür hereinschien.
»Wer seid ihr? Was macht ihr hier?« Drohend kam er auf sie zu. Conny drückte sich mit Nicola und Michael weiter in die Polster. Sie brachte kein Wort heraus. »Raus mit der Sprache«, forderte der Mann. »Was habt ihr hier zu suchen?« Aber immer noch antwortete Conny nicht. Sie schlang nur beschützend die Arme um ihre Geschwister. Endlich schien der große Wächter zu begreifen, daß sie nicht antworten würde. So zwang er sie, aufzustehen und führte sie aus dem Raum hinaus.
Anfangs versuchte Conny noch sich zu wehren, doch sie konnte nichts gegen die Kraft des Mannes ausrichten. Resigniert gab sie ihren Widerstand auf und ließ sich durch die dunklen Gänge führen, sicher, daß nun ihr letztes Stündchen geschlagen hatte. Sie wurden einige Zeit durch verschiedenste Korridore geführt, und schließlich machten sie vor einer vergitterten Stahltür Halt, hinter der sich ein kleiner Raum befand. »Ihr könnt euch glücklich schätzen, daß sich der Meister von einem seiner Rituale erholen muß. Sonst wäret ihr schon längst bei ihm.« Er öffnete die Zellentür und stieß seine drei Gefangenen hinein. »Aber ich bin sicher, daß er sich noch persönlich mit euch befassen wird.« Damit schloß der Mann die Tür und wies einen hageren, zerlumpten Kerl an, auf sie achtzugeben. Eifrig nickend stand ihr neuer Wächter da, bis sich der andere abwandte und den Gang hinunter verschwand.
Conny und die anderen beiden rappelten sich auf und bürsteten das schmutzige Stroh aus ihren Kleidern, das hier den Boden bedeckte. Nicola und Michael kamen zu Conny und klammerten sich schutzsuchend an sie. Ihr brach beinahe das Herz, da sie nichts anderes tun konnte, als sie schwach zu trösten. »Es kommt schon alles wieder in Ordnung«, flüsterte sie. »Keine Angst.« Sie hoffte, daß ihre Worte auch sie selbst ruhiger werden ließen.
»He! Still da! Reden nicht, setzen hin, sein leise!« Der Wächter hüpfte an das Gitter heran und begann, mit den Armen herumzufuchteln. Conny ließ sich zu Boden sinken, mit Nicola und Michael an ihrer Seite. »Gut, gut. Hübsch leise. Nicht reden.« Er betrachtete sie eingehend und wackelte mit seinem beinahe kahlen Kopf hin und her. Dann wandte er sich wieder zu seinem Schemel um, der in einer Nische im Gang stand. Dort ließ er sich nieder und beobachtete sie.
Wie hatten sie sich nur auf so etwas einlassen können? Die Sache war doch von Anfang an merkwürdig gewesen. Aber das Schlimmste war, daß niemand wußte, wo sie waren und sie somit nicht auf Hilfe hoffen konnten. Ihre Eltern würden sich wahrscheinlich die größten Sorgen machen. Was, wenn sie nun nicht mehr zurückkehren würden?
Jetzt mach aber mal 'nen Punkt, schalt sie sich selbst. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzudenken. Sie waren hier, und das ließ sich nicht mehr ändern. Also mußten sie abwarten, was geschah, oder eine Möglichkeit zur Flucht finden. Geistesabwesend kraulte sie Nicolas Haar in der Hoffnung, sich selbst und ihr ein wenig Trost zu spenden.
Zu ihrer Linken saß Michael und übte seine Zaubertricks. Conny wünschte, daß sie genauso unbekümmert wie ihr kleiner Bruder wäre. Sie sah ihm zu, wie er eine Münze abwechselnd auftauchen und wieder verschwinden ließ.
»Schöne Magie«, sagte eine Stimme. Der Wächter war wieder ans Gitter gekommen und schaute fasziniert zu. »Nicht große, schwarze Zauber. Ist schön.«
Michael unterbrach unsicher seine Übungen, aber Conny raunte ihm zu, daß er weitermachen sollte.
Also führte er seinen Lieblingszaubertrick vor. Er streckte seine linke Hand mit der Fläche nach unten aus und legte die Münze über die Fingernägel des Mittel- und Ringfingers. Nach einer kurzen Konzentration warf er das Geldstück in die Luft, um es wieder aufzufangen. Dann öffnete er die Hand, mit der er das Geldstück geschnappt hatte. Sie war leer.
Der hagere Mann stieß einen heiseren Schrei aus. »Wo?« fragte er und beugte sich dabei so weit vor, daß es aussah, als wolle er seinen Kopf durch das Gitter zwängen.
»Weggezaubert«, sagte Michael.
»Nein, nein!« Der Wächter schüttelte energisch den Kopf. »Haben noch! Haben versteckt! In seiner Tasche!« Michael verneinte. »Doch! In seiner Tasche. Haben versteckt, nicht weggezaubert. Nein!« Immer noch schüttelte Michael den Kopf. Das schien den alten Mann wütend zu machen. Er kramte an seinem Gürtel herum und holte den Zellenschlüssel hervor. »Ich zeigen! Haben ihn bestimmt noch!« Damit schloß er die Gittertür auf und kam zu ihnen herein, wobei er die dürren Spinnenfinger nach Michael ausstreckte. Conny wartete, bis er nahe genug herangekommen war, erhob sich schnell und rammte ihm ihr Knie zwischen die Beine. Er heulte einmal vor Schmerzen laut auf und brach dann im Stroh zusammen.
»Kommt jetzt! Raus hier.« Conny nahm Nicola und Michael am Arm und floh aus der Zelle. Dann warf sie die Gittertür ins Schloß, den Schlüssel nahm sie mit. Sekunden später rannten sie den Korridor, begleitet von schmerzerfüllten Flüchen, in die Richtung, aus der sie hergebracht worden waren, entlang.
Mehr als einmal mußten sie sich in einer dunklen Ecke verstecken, um nicht von jemandem entdeckt zu werden. Ihre Befürchtung, daß einer der Wächter die Schreie aus dem Kerker hören könnte, erwies sich als unbegründet, denn schon nach wenigen Minuten war von ihm nichts mehr zu vernehmen gewesen. Anscheinend hatte man die Zellen so gebaut, daß die Schreie der Gefangenen niemanden stören würden. Conny hoffte, daß dies auch eine längere Zeit so bleiben würde.
Endlich erreichten sie den Gang, wo sich das Arbeitszimmer und das Schlafgemach des Parrakan befanden. Leise schlichen sie sich bis an die Tür des Zimmers und öffneten sie vorsichtig. Drinnen war es so dunkel wie zuvor, obwohl im Korridor bereits die ersten Sonnenstrahlen sichtbar waren. »Da seid ihr ja endlich«, sagte eine bekannte Stimme, und einen Moment später tauchte Fil aus dem Schatten auf. »Ich dachte schon, ihr wäret verschwunden. Ich habe euch etwas mitgebracht.« Damit hielt er einen schwarzen Stab hoch.
»Der Zauberstab?« fragte Conny, und der Rerk nickte feierlich.
»Ich sagte doch, daß er es nicht merken würde. Jetzt müßt ihr mir aber auch zeigen, was er so alles kann.«
Conny nahm den Stab entgegen und spürte sofort das warme Pulsieren der Kraft, die in ihm wohnte. Dafür haben wir das alles hier durchgemacht. Also auf zum letzten Schritt. Sie hob den Stab mit beiden Händen über den Kopf und schlug ihn mit voller Wucht auf den Boden. Dann glaubte sie, daß die Welt unterging.
Von einem grellen Lichtblitz wurde sie zurückgeschleudert. Der ohrenbetäubende Knall bohrte sich in ihren Geist. Irgendwo hörte sie jemanden schreien. Der Boden zu ihren Füßen schwankte und bekam Risse. Splitter fielen um sie herum zu Boden, feiner Steinstaub senkte sich herab. Das blendende Licht erstarb zu einem roten Glühen an der Stelle, wo der Stab auseinandergebrochen war. Nicola und Michael hatten sich aneinandergeklammert und lagen auf dem Boden, halb unter Schutt und Staub begraben. Der Rerk dagegen stand mitten im Raum und starrte entzückt auf die immer noch herabfallenden Steinsplitter. Die Schreie, die sie gehört hatte, kamen aus dem Nebenzimmer. Sie wurden nach und nach immer lauter, bis sie schließlich röchelnd erstarben. Im selben Augenblick erlosch auch das letzte Glühen des Stabes, und die Dunkelheit kehrte zurück. Langsam erholten sie sich von dem Schock und fanden wieder zueinander. Conny tröstete die weinende Nicola, während Michael fassungslos auf die Reste des Zauberstabes starrte. Dann verließen sie den Raum, um zu Sinder zurückzugehen.
»Also, das war wirklich das interessanteste Erlebnis, das ich je hatte«, meinte der Rerk, als sie im Korridor standen, der leicht von den Strahlen der aufgehenden Sonne erleuchtet wurde. »Was habt ihr denn sonst noch auf Lager?«
Niemand antwortete ihm. Plötzlich hörten sie ein leises Schluchzen, das aus dem Schlafgemach des Parrakan kam. Unschlüssig blickten sie sich an, bis Fil das Schweigen brach: »Äh, meint ihr, wir sollten die Tür aufmachen?«
»Ich glaube, wir sollten dabei sehr vorsichtig sein«, mahnte Conny. Fil nickte und legte behutsam eine Hand auf den Knauf. Langsam drehte er ihn herum und öffnete die Tür. Dahinter leuchtete ein flackerndes Fackellicht. Der Rerk ging in das Zimmer hinein.
Die anderen drei warteten auf dem Gang. Das Schluchzen hörte abrupt auf, und dann hörten sie Fils Stimme: »Aber, aber, liebe Dame.« Er sagte noch etwas, das aber zu leise war. Schließlich kam er mit einer recht hübschen, jungen Frau aus dem Zimmer. Er führte sie an der Hand, sie tastete sich an der Wand entlang, als könne sie nicht sehen. »Ich würde an eurer Stelle nicht hineingehen«, meinte Fil zu den Geschwistern. »Es sieht wirklich nicht sehr appetitlich aus.«
»Du bist Prinz Sinders Gemahlin?« fragte Conny.
»Sinder? Wo ist er?« Die junge Frau blickte umher, ohne etwas zu sehen. »Ist er hier?«
»Nein, aber er wartet auf uns. Wir werden dich zu ihm bringen. Aber wir müssen uns beeilen. Er wird sicher schon ungeduldig.« Conny sah die Tränen der Erleichterung in den Augen der Prinzessin und gab das Zeichen zum Aufbruch.
*
Gegen Mittag saßen sie mit Sinder und seiner Gemahlin am Rande des Schädelwaldes im Gras. Er hatte nun wieder seine menschliche Gestalt, da der Zauber gebrochen war. Llana, seine Gemahlin, hatte auch ihr Augenlicht zurück. Sie war von dem Lichtschein geblendet gewesen, doch jetzt erholten sich ihre Augen nach und nach wieder. Fil hatte sich von ihnen verabschiedet, er wollte seinem Onkel erzählen, daß die Schlösser nicht mehr so waren, wie er sie kannte. In der Ferne, am Fuße des Berges stand dieses Schloß, das endlich wieder seinem rechtmäßigen Besitzer gehörte. Die Wächter und auch der alte Mann waren aus dem Gebäude geflohen, und sie sollten nie mehr in Prinz Sinders Reich gesehen werden. Wie sie von Llana erfuhren, waren seit Sinders Verschwinden drei Jahre vergangen, und jeder im Königreich hatte den Prinzen für tot gehalten. Der Parrakan hatte immer wieder versucht, die Prinzessin zu seiner Frau zu machen, doch sie hatte ihm bis zum heutigen Tage widerstanden. Die Leiden, die diese Frau ertragen hatte, waren deutlich in ihrem Gesicht zu lesen, doch die Freude, die sie ausstrahlte, würde diese Spuren bald verwischen.
Wie sie so friedlich im Gras unter den Bäumen saßen, kam Conny ein Gedanke. »Es gibt da eine Sache, die ich nicht so ganz verstehe. Wie konnte Fil sich den Stab nähern, ohne daß der Parrakan davon Wind bekam?«
Sinder dachte einen Augenblick nach, dann lachte er. »Vielleicht liegt es daran, daß auch die Magie ihren Stolz hat.«
ENDE