Hilferuf
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)16.09.1994)

1. Kapitel: Der Schlüssel zum Glück

»To live without my music
Would be impossible to do.
In this world of trouble
My music pulls me through.«
(John Miles: »Music«)

Ein sanftes Ding-Dong kündigte Markus an, daß ein weiterer Kunde den Musikpalast besuchen wollte. Er legte die Prospekte, die er gerade las, beiseite und ging in den Verkaufsraum. Dort traf er auf einen altbekannten Stammkunden und Freund. »Hallo, Achim«, grüßte er ihn. »Was macht die Musik?«

»Alles läuft prima«, antwortete Achim, während er zu Markus hinüberging. »Heute ist aber nicht viel los«, meinte er nach einem schnellen Rundblick.

»So wie jeden Samstag«, meinte Markus, »aber wenigstens kann man sich auf dich noch verlassen. Ein Tag, an dem du nicht hier warst, ist bisher nur selten vorgekommen.« Er zwinkerte Achim zu.

»Jetzt übertreib mal nicht«, gab der andere zurück. »Aber ich bin im Augenblick ganz froh darüber, daß hier nicht viel los ist. Ich arbeite nämlich gerade an einem neuen Lied, und ich weiß nicht, ob ich die Melodie so stehenlassen kann.« Achim ging zu den Synthesizern und Keyboards hinüber, die in einer Ecke des Musikpalastes aufgebaut waren. Vor einem PSR6700 verharrte er. »Ich habe mir überlegt, mal etwas ganz anderes zu machen als sonst«, sagte er, während er sich die benötigten Klänge heraussuchte.

»Keine Balladen mehr?« fragte Markus mit einem weiteren Augenzwinkern. Achim hatte bisher viele brauchbare Synthesizerballaden geschrieben und aufgezeichnet, aber noch hatte er keine davon veröffentlicht. Nur eine Handvoll Freunde und Bekannte hatten sie je gehört.

Achims Finger flogen über die Tastatur, während er die verschiedenen Akkorde probierte. »Nein, keine Ballade. Es ist mehr eine Mischung aus Pop und Elektronik, etwas ganz anderes eben, du wirst es gleich hören. Die Idee kam mir, als ich neulich durch die Stadt ging und etwas vor mich hinpfiff, weißt du?« Achim wiederholte die Tonfolge, und Markus versuchte, aus den Noten eine brauchbare Melodie zu machen, aber das gelang ihm nicht.

»Ich weiß zwar nicht, wie du aus diesem Durcheinander ein ordentliches Lied komponieren willst, aber bitte! Spiel's mir mal vor.«

Es war nicht das erste Mal, daß Achim mit einer »Spitzenidee« bei ihm aufgetaucht war. Es kam öfter vor, daß Achim seinem Freund versuchte, eine neue Melodie pfeifend näherzubringen, aber Markus konnte meist erst mit einem fertigen Lied auf einem Instrument etwas anfangen.

Achim machte noch ein paar Einstellungen und griff dann einen düsteren H-Moll Akkord. Seine linke Hand spielte einen dumpfen Baßlauf, der jetzt schon eine gewisse Spannung aufbaute. Die Musikanlage des Musikpalastes hatte keine Probleme, diese tiefen Sounds sauber hinzubekommen, und nicht zuletzt deswegen ging Markus bereits der Anfang des Stückes voll unter die Haut. Achim schloß die Augen, während er weitermachte und überließ sich ganz den Bildern, die seine Musik in ihm wachrüttelte. Indessen spielten seine Finger gerade ein A-Moll, und der düstere Baß zog Markus, der erwartungsvoll zuhörte, vollends in seinen Bann. Flink wechselte Achim die Melodiestimme, während er den Baß weiterlaufen ließ und plötzlich schlug er einen lauten Gegenakkord an, der Baß stockte - für einen Augenblick war es totenstill. Dann folgte eine schnelle Melodie, und Achim schaltete die Rhythmusbegleitung zu. Schließlich setzte der Baß wieder ein. Zwischendurch spielte er ein paar leisere Passagen und steigerte die Spannung des Liedes, bis er sie am Ende mit einer schnellen Arpeggiofolge entlud. Wieder kehrte Stille ein. Achim spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand.

Markus blinzelte, als sei er sich nicht sicher, wo er war. Schließlich schüttelte er den Bann des Liedes ab und atmete tief durch. »Du bist ein Teufel«, brachte er lachend heraus. »Wie hast du das hingekriegt? Ich war ganz weg, das sag ich dir.«

»Ich hoffte, daß es dir gefallen würde«, meinte Achim bescheiden.

»Gefallen? Das war phantastisch! Irgendwie hatte ich den Eindruck, als ob da mehr war als nur Musik.«

»Exakt«, meinte Achim. »Frag mich aber bitte nicht, woher das kommt. Ich weiß nicht einmal, was es ist. Aber es ist gut.«

»Ohne Zweifel«, stimmte Markus leise zu.

»Na gut, ich muß jetzt wieder los, Markus. Viel Spaß noch heute.« Achim schlenderte auf den Ausgang zu und drehte sich vor der Tür um. »Vielen Dank«, sagte er und verließ den Laden.

Fröhlich schlenderte er durch die Straßen. Niemand vermutete die aufgewühlten Gedanken, die im Kopf dieses einsfünfundsiebzig großen Mannes vorgingen. Während er um die Ecken bog, dachte er über sein neues Lied nach. Er ließ die Klänge in seinem Kopf ablaufen, konzentrierte sich auf die kraftvolle Ausstrahlung, die von ihnen ausging und versuchte zu ergründen, was dieses Lied ausmachte. Jetzt, als er wieder über das Stück nachdachte, zog es ihn bereits wieder in seinen Bann. Wie vor ein paar Minuten im Musikpalast spürte er, wie etwas nach ihm griff, ihn irgendwie zu dirigieren versuchte. Achim fürchtete sich davor und verbannte die Melodie entschlossen aus seinen Gedanken. Sofort verflog das Gefühl und er sah wieder die Fußgängerzone, in der er wohnte. Er schüttelte die Verwirrung, die ihn befallen hatte, ab und machte sich weiter auf den Weg nach Hause, wobei er resolut jede Musik aus seinem Kopf ausschloß. Als er endlich seine Wohnungstür öffnete, konnte er kaum noch klar denken, so legte er sich in seinem Wohnzimmer auf die Couch und versuchte, sich zu entspannen. Aber leise im Hintergrund hörte er immer noch seine Melodie; sie verschwand erst, als er den Fernseher einschaltete und seinen Lieblingssender, MTV, laufen ließ.

In dieser Nacht träumte er wieder, er träumte den gleichen Traum von einer dunklen Welt, in der sich die Menschen als gebeugte Gestalten vor irgendeinem namenlosen Schrecken in die dunkelsten Schatten flüchteten.

Er wachte gerädert auf. Die neongelben Zeiger seiner schwarzen Wanduhr zeigten halb eins, Zeit, um aufzustehen. Er schwang seine Beine aus dem Bett und schlüpfte in die danebenstehenden Hausschuhe. Noch ein wenig benommen taumelte er ins Bad.

Zehn Minuten später saß er beim Frühstück am Tisch und trank langsam den heißen Tee, der dampfend sein Aroma verströmte. Er dachte darüber nach, was er heute zu tun hatte. Spontan fiel ihm nichts ein. Das kam ihm sehr gelegen, konnte er so doch an seinem neuen Lied weiterarbeiten. Flüchtig kam ihm der Gedanke, daß er das Lied besser ungespielt lassen sollte, aber dann schoß ihm plötzlich eine Idee für die Fortsetzung durch den Kopf, und alle vorherigen Gedanken waren wie ausgelöscht. Er ließ seine Tasse stehen, vergaß die Brötchen, die noch warm auf dem Tisch standen und stürmte in sein Studio, wo er all sein Musikequipment aufgestellt hatte. Kaum war er dort angekommen, hatte er auch schon den Hauptschalter für die Instrumente und das Mischpult bedient; die Netzlämpchen der Geräte begannen zu leuchten.

Aus den großen Studiomonitoren drangen laut die ersten Klänge des Liedes, und Achim spielte in voller Konzentration auf der Tastatur des D70, der als Master die restlichen Komponenten des Systems steuerte. Klare Sphärenklänge aus der Wavestation vermengten sich mit den kraftvollen Drums des D4 und den Sounds des D70 zu einem beeindruckenden Klangbild, das Achim so sehr überwältigte, daß er kaum mehr spürte, wie seine Finger die Tasten niederdrückten. Jetzt war er an der Stelle, wo er seine Fortsetzung anbringen wollte, und da fühlte er, wie eine Veränderung in ihm vorging. Es entsetzte und erquickte ihn zur selben Zeit, aber er war unfähig aufzuhören und die Melodie abzubrechen. Mehr und mehr entglitt ihm der Bezug zur Realität und wich einer anderen, die ihm genauso real erschien. Wie kurz aufeinanderfolgende Fotos sah er eine phantastische Landschaft vor sich, mit weiten Feldern, hohen Bergen und klaren Wasserläufen. Mit einer schweren Gewaltanstrengung riß er die Hände von der Tastatur und schlug sie sich vor das Gesicht, bis die Bilder verschwanden. Als er wieder klar denken konnte hörte er, wie der Sequenzer immer noch die Rhythmusbegleitung spielte, und Achim schaltete ihn ab. Er war vollkommen verwirrt.

Einige Minuten später, Achim saß bereits wieder am Frühstückstisch, klingelte es an der Tür. Seine Freunde, Roland und Katrin, hatten sich für heute angesagt. Sie hatten geplant, zusammen im Freibad schwimmen zu gehen, und das hätte Achim beinahe verschwitzt.

»Was denn, noch nicht fertig?« fragte Roland spitz, als er die Treppe heraufkam. Diese Art Kommentar hatte er schon oft genug fallen lassen müssen.

»Nein, ich frühstücke gerade.« Dabei grinste er, denn er wußte, wie spät es inzwischen war.

»Spar dir das für heute nachmittag auf«, bemerkte Katrin. »Vor dem Schwimmen soll man sowieso nicht so viel essen.«

»Ich weiß«, meinte Achim, während er die Tür hinter den beiden schloß. »Setzt euch noch einen Augenblick, ich bin gleich soweit.« Katrin und Roland machten es sich im Wohnzimmer bequem, während Achim im Schlafzimmer seine Badesachen zusammensuchte.

Der Tag verging wie im Flug, als er sich mit seinen Freunden im Freibad vergnügte. Zu dieser Zeit konnte Achim die Musik, die ihn plagte endlich vergessen und nur Spaß haben. Gegen abend fuhren sie dann noch beim Südstadt-Grill vorbei, der ihrer Meinung nach die beste Pizza der Stadt machte.

Als Roland Achim dann vor seiner Haustür absetzte, war es mittlerweile halb eins. Mit einem kurzen Wink verabschiedeten sich die beiden, und Roland fuhr wieder los. Achim schloß die Haustür auf und ging hinein. Müde brachte er seine Sachen in das Schlafzimmer und ging ins Bett. Morgen würde ihn wieder ein harter Montag auf der Arbeit erwarten.

Als Achim die Augen öffnete, war es bereits halb zehn. Fluchend stand er auf und beeilte sich, seine Arbeitssachen zusammenzupacken. Seit er als Aushilfe in einem Radio-Fernsehgeschäft arbeitete, war es ihm noch nicht passiert, daß er zu spät gekommen war, und so hoffte er, die verschlafenen zwei Stunden irgendwann nachholen zu können. Während der Arbeit schließlich hatte er Probleme, richtig wach zu bleiben, denn die vorige Nacht hatte er zwar lange, aber nicht erholsam geschlafen. Bereits am Nachmittag wieder todmüde kam er nach Hause und ließ sich in einen der Sessel fallen, die im Wohnzimmer standen. Augenblicke später ging ihm wieder eine Melodie durch den Kopf und er wußte, daß er sein Lied weiterschreiben mußte. So ging er ins Studio und war bald darauf wieder in seine Musik versunken. Diesmal aber geschah etwas Merkwürdiges. Die Bilder der Landschaft fügten sich zusammen, und er fühlte sich, als befände er sich selbst in dieser Landschaft, als bestimme jeder Ton seiner Melodie das Aussehen und die Geschicke dieser fremdartigen Welt. Er spürte nicht mehr, wie er spielte, sondern er dachte sich die Musik nur weiter aus und ließ sich dadurch über die Wiesen wandern, die sich gesund und stark ausbreiteten. Aber eine kleine Unstimmigkeit in den Klängen erzeugte einen dunklen Schatten am Horizont, der zwar weit weg erschien, aber doch langsam näherkam. Irgendwie fühlte er, daß es seine Aufgabe war, diesen Schatten, diese Unstimmigkeit, auszumerzen, um wieder eine reine Melodie - oder Landschaft - zu erzeugen. Aber bevor er etwas tun konnte, sperrte sich ein Teil seines Bewußtseins gegen diese Gefühle und drängte ihn zurück. Die Bilder verblaßten, und er entfernte sich von dieser Welt. Eine grelle Dissonanz riß ihn aus seinen Gedanken. Er hatte sich verspielt.

In den nächsten Tagen raubte ihm die Melodie immer mehr seinen Schlaf, und jeder, der Achim sah bemerkte, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Sein Gesicht war unrasiert, die Haare strähnig und ungekämmt. Herr Deffels, der Besitzer des Ladens, schickte ihn für ein paar Tage nach Hause, aber auch dort fand Achim keine Ruhe. Immer wieder spukten ihm wohlbekannte Töne durch den Kopf. Jedes Mal wenn er einschlief, tauchten die Bilder in seinem Kopf auf, aber sie wurden von Mal zu Mal schlimmer, und er schreckte immer wieder auf. Als ihm schließlich Katrin und Roland einen Besuch abstatteten, sah er eher wie eine Leiche als wie ein zwanzig Jahre junger Mann aus. Seine Wangen waren eingefallen; man merkte ihm an, daß er tagelang nichts gegessen hatte.

»Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?« fragte Katrin mit weit aufgerissenen Augen.

Achim erwiderte nichts, sondern drehte sich nur um und ging in die Küche. Roland und seine Freundin tauschten verwunderte Blicke und traten ein. Sie fanden ihn, wie er auf dem Boden vor der Spüle lag.

Die Nebel in seinen Gedanken klärten sich, als er erwachte. Katrin saß neben ihm auf dem Sessel und trank eine Tasse Tee, während Roland auf der anderen Seite des Tisches ein Kreuzworträtsel löste. Er lag im Wohnzimmer auf der Couch, und warme Decken umhüllten ihn. »Na, wieder wach?« Katrin stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Wie fühlst du dich?«

»Beschissen«, meinte Achim und stützte sich auf einen Ellbogen.

»Roland und ich haben dir etwas zu Essen gemacht, sonst fällst du uns noch vom Fleisch während wir dabeisitzen.« Sie stand auf und verließ das Zimmer.

Roland legte die Zeitung weg und blickte Achim an. »Was ist eigentlich mit dir los?«

Achim setzte sich mühsam auf und fuhr sich mit einer Hand durch das strähnige dunkle Haar. »Ich weiß auch nicht. Irgendwie ist alles durcheinandergeraten.«

Katrin brachte das Essen und eine Tasse heißen Tee. Achim aß dankbar, und der Tee belebte seine Lebensgeister ein wenig. »Wie meinst du das?« fragte Roland.

»Ich meine, irgendetwas läßt mich nicht los«, antwortete Achim zwischen zwei Bissen. »Ich weiß nicht, ob ich es euch sagen sollte. Ihr seht ja, was mit mir passiert ist.«

»Bist du in Schwierigkeiten?« fragte Katrin besorgt.

»Kommt darauf an.«

»Jetzt hör auf in Rätseln zu sprechen.« Roland lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Warum willst du uns nicht sagen, was los ist? Dafür sind wir doch deine Freunde.«

»Weil ich nicht will, daß ihr meinetwegen Unannehmlichkeiten bekommt.«

»Und ich will nicht, daß einer meiner besten Freunde langsam aber sicher vor die Hunde geht.« Katrin nickte zustimmend.

Achim nahm einen tiefen Zug aus seiner Tasse und blickte die beiden an. Dabei ging ihm ein Gedanke durch den Kopf. War er eigentlich der einzige, der diese Landschaften erblicken konnte, oder würden seine Freunde sie ebenfalls sehen können, wenn er ihnen die Musik vorspielte? Bei diesem Gedanken schoß ihm plötzlich wieder die Melodie durch den Kopf, grausam und dröhnend laut. Achim ließ mit einem Aufschrei die Tasse fallen, die klirrend auf dem Tisch zerschellte und hielt sich die Ohren zu.

Es dauerte einige Zeit, bis Katrin ihn beruhigt hatte. An ihrem mitleidigen Blick konnte er sehen, daß sie sich wirklich Sorgen um ihn machte. Als er wieder klar denken konnte, bat er sie, mit ihm ins Studio zu kommen. Schweigend folgten sie ihm.

»Ich weiß nicht, ob es etwas bringt, aber ich möchte euch zeigen, warum ich im Augenblick so verwirrt bin.« Er setzte sich wieder vor den D70 hin, während Roland und Katrin es sich auf den anderen Stühlen bequem machten. Achim legte seine zitternden Finger auf die Tasten und holte noch einmal tief Luft, bevor er den ersten Akkord anschlug. Unmittelbar darauf wurde er wieder fortgerissen, und die Wirklichkeit schwand. Weit entfernt hörte er überraschte Ausrufe, aber dann war wieder alles still. Langsam senkte er sich auf die weite Ebene hinunter, über die munter ein Bach plätscherte. Er nahm den Anblick dieser Landschaft in sich auf, die Musik verwob sich mit den leisen Geräuschen der Ebene. Sie löste sich von seinen Fingern und schien jetzt ganz für sich allein zu existieren.

»Was um alles in der Welt ist passiert?« Ein erschreckter Ausruf von hinten ließ Achim herumwirbeln. Er blickte in das Gesicht seines Freundes, der in merkwürdiger Kleidung hinter ihm stand und sich fassungslos umsah. An seine Seite klammerte sich Katrin, die ebenfalls sehr ungewöhnlich angezogen war und ängstlich umherblickte.

»Das ist der Grund, warum ich mich in letzter Zeit so verändert habe«, erklärte Achim. »Mir geht seit Tagen immer diese Melodie durch den Kopf, und jedesmal, wenn ich an sie denke oder sie spiele, lande ich hier. Wenn ich aber zu schlafen versuche, kommt mir eine andere Melodie in den Sinn, die mich erschreckt und schweißgebadet aufwachen läßt. Auch jetzt ist ein leiser Unterton dieser Melodie zu hören. Das ist der Grund dafür, warum dort hinten am Horizont diese dunkle Wolkenformation näherrückt.«

Fassungslos starrten seine Freunde ihn an. »Ich verstehe das nicht«, sagte Roland. »Wie konnte das alles geschehen?«

»Das weiß ich auch nicht«, Achim zuckte mit den Schultern. »Ich denke aber, ich muß den Grund für die Unstimmigkeit in der Melodie finden, dann wird auch das Wolkenband verschwinden, und ich werde wohl wieder meine Ruhe haben.«

»Bist du dir da sicher?« fragte Katrin mit zittriger Stimme.

»Nein«, gab Achim zu. »Aber was soll ich sonst tun?«

Gemeinsam brachen sie in die Richtung der dunklen Wolken auf und versuchten sich gegenseitig durch ihre Nähe Mut zu machen. Achim führte sie an, seine Musik erschuf weite Landschaften und einen wunderbar strahlenden Himmel. Seine Freunde würden ihm mit Sicherheit helfen, die Dissonanz zu finden, dieser Welt ihre Reinheit zu erhalten. Vielleicht war es auch nicht seine Musik. Er dachte darüber nach, daß er vielleicht durch diese Melodie in die Welt eines anderen Volkes gebracht werden sollte, um dort das Böse zu vertreiben. Er zuckte mit den Schultern, während er ging.

Egal, jedenfalls war diese Musik sein Schlüssel zum Glück.

2. Kapitel: Einhörner gibt es nicht

»And it seems like all is dying
And would leave the world to mourn.
In the distance hear the laughter
Of the last unicorn.«
(America: »The last Unicorn«)

»Du hast schon wieder danebengeschossen«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Nur die Ruhe, jetzt treffe ich bestimmt.« Jochen legte ein weiteres Mal an und zielte. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, und dann schoß er. Es gab einen leisen Knall - das kleine Gipsröhrchen am anderen Ende der Schießbude zerplatzte. Mit einem triumphierenden Blick gab er dem Mann hinter der Theke das Gewehr zurück und nahm seinen Gewinn entgegen, eine weiße Rose, die er Sylvia ins rotblonde Haar steckte. Er fand, daß sie im Licht der Schaustellerbuden einen ganz besonderen Reiz besaß. Sie war gut eine Handbreit kleiner als er, hatte faszinierende grüne Augen und ein paar Sommersprossen. Der kleine Ohrring in Form eines Einhorns blinkte im künstlichen Licht. Lächelnd prüfte sie den Sitz der Blume in ihrem Haar und hakte sich dann bei ihrem Freund ein, als sie gemeinsam zu Thomas und Richard zurückschlenderten, die an einer Bierbude auf sie warteten. Richards blonder Zopf, der aus den sonst kurzgeschnittenen Haaren heraushing, war nicht zu übersehen. Thomas hatte gerade eine Dose Pepsi-Cola in der Hand und versuchte Richard etwas zu erklären, was dieser offensichtlich nicht verstand.

»Mit diesem neuen Sportauspuff hole ich aus meiner Kiste glatt nochmal drei PS mehr raus«, hörten sie, als sie näherkamen. »Außerdem gibt das dann einen tollen Sound. Satt, kräftig und tief; besser als jeder teure Sportwagen.«

»Ja, das klingt, als ob du gar keinen Auspuff hättest«, gab Richard ein wenig ironisch zurück. »Was bringt dir denn das?«

»Das ist ein ganz anderes Feeling, weißt du? Du sitzt in deinem Auto, und wenn du Gas gibst, merkst du, wie viel Power du unterm Arsch hast!«

»Mir reicht meine eigene Power«, sagte Jochen, als er sich mit Sylvia zu ihnen gesellte und spielte mit seinen nicht unbeträchtlichen Muskeln, die unter dem T-Shirt deutlich zu sehen waren.

»Jetzt fang du nicht auch noch an«, nörgelte Thomas.

Die anderen drei lachten. Thomas war schnell auf die Palme zu bringen, wenn man ihn auf sein Hobby ansprach: Autos. Da verstand der sonst so humorvolle Kerl keinen Spaß. Sein ganzer Stolz war sein roter Scirocco, den er vor einem Jahr auf einem Gebrauchtwagenmarkt gekauft hatte. Seitdem bastelte er daran herum, baute hier ein neues Teil ein und dort ein anderes aus.

Zusammen schlenderten sie über den hell erleuchteten Kirmesplatz. Der Samstagabend war warm, und zum Glück war es bis jetzt noch trocken geblieben. Das gute Wetter brachte ebenso gute Laune mit sich, sogar Thomas vergaß bald seinen Ärger. Drei Fahrten auf dem Breakdance rüttelten sie tüchtig durch, und von dem anschließenden Besuch des Riesenrades bekamen eigentlich nur Thomas und Richard etwas mit, da sich Sylvia und Jochen eng umschlungen hatten und ihre Umwelt offensichtlich nicht wahrnahmen. Als dann die Fahrt zuende war, mußte Richard die beiden erst einmal aus ihren Träumen holen.

Später gingen sie die Fußgängerzone hinauf, in der noch viele Buden standen, die Süßigkeiten, Schmuck und Spielzeug verkauften. Schon von weitem konnten sie die Klänge der Jester-Rockers hören, die auf einer mobilen Bühne ein Konzert gaben. Es schien gerade erst begonnen zu haben, und die vier stellten sich zu den anderen Zuschauern. Sylvia kam jedes Jahr hierhin, denn diese Gruppe war ihrer Meinung nach die beste, die je auf dem Stadtfest gespielt hatte. Mit Hits wie Dave is on the Road again und Jump heizten die Musiker dem Publikum ein, bis alle im Takt mit den Händen klatschten. Kurz nach zehn Uhr verabschiedete sich die Band mit Needles and Pins, und langsam löste sich die Menschentraube auf, die sich vor der Bühne gebildet hatte.

Sylvia und Jochen wanderten zusammen mit Thomas und Richard weiter herum und kamen schließlich ans andere Ende des Festplatzes. Dort beherrschte ein größeres Gebäude das Bild. Es war mindestens fünfzehn Meter breit und, soweit sie sehen konnten, auch beinahe genauso lang. Vorne waren die verschiedensten Phantasiegestalten mit leuchtenden Farben aufgemalt, Feen, Elfen, Drachen und, zu Sylvias großer Freude, ein Einhorn. Es war die schönste Zeichnung, die sie je gesehen hatte. Es schien, als könne man es anfassen und auf ihm davonreiten. Mit bunten Lampen umrahmt, ragte ein großes Schild vom Dach empor.

Das Land der Phantasie
Sehen Sie, was noch nie ein Mensch
zuvor gesehen hat. Echte Wesen aus
der Welt der Märchen, für Sie hier
ausgestellt.

»Das ist ja Wahnsinn!« rief Sylvia verzückt aus. »Das muß ich mir ansehen.« Damit war sie auch schon unterwegs. Jochen und die anderen eilten hinterher, um sie im Gewühl nicht zu verlieren. Sie kannten ihre Liebe für Einhörner. Überall in ihrem Zimmer hingen Bilder dieser Wesen, glitzernde bunte Metallic-Zeichnungen, große Poster und selbst angefertigte Bleistiftskizzen. Auch kleine Figürchen standen an jedem freien Fleck. Wollte man ihr eine Freude machen, so brauchte man ihr nur ein weiteres Exemplar für ihre Sammlung zu schenken. Aber Jochen kannte noch eine weitere Seite ihrer Liebe zu den Einhörnern, die er aber bisher niemandem verraten hatte. Sylvia glaubte tatsächlich an die Existenz dieser Fabeltiere. Sie hatte es ihm einmal anvertraut, als er sie auf ihre Sammelleidenschaft angesprochen hatte. Damals waren sie gerade einen Monat lang zusammen gewesen. Sie hatten sich bis zu diesem Abend immer nur bei ihm getroffen, und er war neugierig gewesen, wie sie lebte. Bei dieser Gelegenheit hatte er die Bilder zum ersten Mal gesehen. Sie hatte ihm erzählt, daß sie seit ihrem achten Lebensjahr, als sie das Buch Das letzte Einhorn gelesen hatte, daran glaubte, daß diese Wesen tatsächlich auf der Erde lebten. Zwar hatte noch niemand eines gesehen, zumindest konnte es nie bewiesen werden, aber auch das brachte Sylvia nicht von ihrer Überzeugung ab. Jochen hatte schon an diesem Abend erkannt, wie ernst ihr die Sache war, und so hatte er kein weiteres Wort dazu gesagt.

Am Eingang angekommen, kaufte Sylvia sofort eine Karte und wartete ungeduldig darauf, daß sich die drei anderen ihr anschlossen. Achselzuckend bezahlten auch sie den Eintritt, und alle vier betraten den langen dunklen Gang, der sie ins Innere des Gebäudes führte.

Zuerst konnten sie überhaupt nichts außer den schummrigen Leuchten an beiden Seiten des engen Korridors sehen. Aber nachdem sie um eine Ecke gebogen waren, eröffnete sich rechts und links von ihnen jeweils ein Raum, der mit Gittern vom Gang abgetrennt war. Links saß eine menschliche Gestalt auf einem Stuhl. Vor ihr standen auf einem Tisch mehrere Fläschchen und Schälchen. Dann erkannten sie, daß es ein Zauberer war. Er trug einen hohen Spitzhut und weite Gewänder, die mit magischen Zeichen bestickt waren. Während sie ihn beobachteten, murmelte er ein paar Worte, und plötzlich erschien aus einer Rauchwolke ein Frosch auf dem Tisch, der munter davonhüpfte. Thomas mußte lachen, und die anderen drei lachten mit. Der andere Käfig beinhaltete eine weitere menschenähnliche Kreatur, jedoch besaß diese ein Gesicht, das dem eines Löwen sehr nahe kam. Als er die Besucher bemerkte, kam er zum Gitter gerannt und versuchte, sie mit seinen Klauen zu erreichen. Erschreckt machte Sylvia einen Schritt zurück, aber die anderen gingen einfach weiter. Sie wußte natürlich, daß das alles nur Schauspieler in Masken waren. Dennoch war der direkte Anblick der Kreatur beängstigend - sie sah wirklich sehr lebensecht aus.

Ein paar Meter weiter machte die rechte Wand einem weiteren Gitter Platz. Dahinter konnten sie ein vierbeiniges Tier erkennen, das sich in der hinteren Ecke des Käfigs verkrochen hatte. Einen Augenblick später flatterte es mit seinen Flügeln und stieß eine kleine Flamme aus.

Nachdem sie sechs weitere Räume und Wesen wie Zwerge und Elfen gesehen hatten, kamen sie in einen großen Saal, in dem auf dem ersten Blick nichts Besonderes zu erkennen war. Hier und da hingen Bilder an den Wänden, die eine Phantasielandschaft darstellten, oder irgendwelche Geschöpfe zeigten. Doch plötzlich wurden die Lichter dunkel, ein dumpfes Grollen erklang, und einen Augenblick später donnerte ein berittenes Heer in grellbunten Farben an ihnen vorbei. Lautes Kampfgeschrei und Gesänge begleiteten es. Fackeln wurden geschwenkt, Peitschen knallten. Wieder wich Sylvia zurück, aber als sie sah, wie die Reiter durch einen anderen Besucher hindurchritten, legte sich ihre Angst. Wenige Sekunden später war es vorbei, und das Licht ging wieder an.

Sylvia war enttäuscht. Auch wenn alles eine Illusion war, so hätte sie doch zu gerne das Einhorn gesehen.

Der Rest des Abends verging wie im Fluge. Schließlich gingen sie wieder zum Parkplatz, wo Thomas seinen Wagen abgestellt hatte. Auf der Rückfahrt lief Thomas' Lieblingsmusik, Losing my Religion von R.E.M., und nacheinander auch die anderen Lieder der CD. Wie es seine Art war, fuhr er hart an der Grenze, nahm die Kurven so eng er konnte und reizte die Beschleunigung seiner 115 PS voll aus. Die anderen hatten sich schon an seinen Fahrstil gewöhnt. Nur Jochen war nie wohl bei der Sache. Er mochte es lieber, wenn die Situation voll beherrschbar blieb. Aber es nützte nichts, das Thomas zu erklären und außerdem: Jochen hatte ihn schließlich selbst gebeten, sie zum Fest zu fahren.

Sie hatten bereits die Stadtautobahn verlassen, und schon bald verabschiedeten sich Jochen und Sylvia von Thomas und Richard. Jochen brachte Sylvia nach Hause, Thomas fuhr mit Richard weiter.

Bei Sylvia angekommen, verabschiedete sie sich von Jochen. Er gab ihr einen so leidenschaftlichen Abschiedskuß, daß sie ganz durcheinander war, als sich ihre Lippen voneinander lösten. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, und dann schloß sie die Haustür auf. Sie bemühte sich, leise zu sein, damit sie ihre Eltern nicht weckte und ging in ihr Zimmer. Als ihr Blick auf die Bilder an der Wand fiel, mußte sie wieder an die Zeichnung an dem Gebäude denken. Es war die beste Abbildung eines Einhorns gewesen, die sie je gesehen hatte. Irgendwie schien sie mehr wie ein Foto gewesen zu sein, als hätte es jemand mit einer Kamera in der freien Natur eingefangen.

Der Gedanke an das Einhorn beherrschte ihre Träume in dieser Nacht. Sie sah sich, wie sie in einem weißen Gewand mitten durch einen Wald eilte und nach etwas suchte. Nebel umspielte ihre Beine, als sie weiter und weiter durch das Gehölz lief. Sie erhaschte einen Blick auf ein kurzes Aufleuchten in der Finsternis vor ihr. Angestrengt versuchte sie, etwas zu erkennen, aber es war bereits wieder dunkel. Langsam ging sie weiter. Wieder blitzte etwas kurz auf, und sie meinte, ein Tier erkannt zu haben, von dessen Kopf das merkwürdige Licht ausgegangen war. Immer noch versuchte sie, zu dem seltsamen Wesen zu kommen, aber jedesmal, wenn sie meinte, die Stelle erreicht zu haben, blitzte es an einer anderen wieder auf. Doch plötzlich stand es vor ihr. Es schien aus sich selbst zu leuchten, ein freundliches, warmes Licht. Es war ein schneeweißes Tier mit einem einzigen gedrehten, goldenen Horn auf der Stirn. Doch trotz all der Wärme und der Güte, die es ausstrahlte, konnte Sylvia eine Träne erkennen, die dem Einhorn über die Wange rann. Jetzt hielt sie es nicht mehr aus. Sie rannte auf das arme Geschöpf zu, sie wollte es trösten, den Grund für seine Traurigkeit erfahren. Aber bevor sie es erreichen konnte, verschwand der Wald, und um sie herum herrschte Dunkelheit. Unvermittelt flackerten Lichter auf, sie stand in einem schmalen Gang, und vor ihr war ein Gitter. Dahinter sah sie das Einhorn, wie es versuchte, die Kette zu zerreißen, die eines seiner Hinterläufe an die Wand fesselte.

Plötzlich wurde sie von hinten gepackt und herumgeschleudert. Sie blickte in das Gesicht der löwenähnlichen Kreatur. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme war weg. Die Kreatur packte sie und stieß sie durch einen Korridor, der vollkommen dunkel war. Ohne Vorwarnung verlor Sylvia den Boden unter den Füßen. Wild um sich schlagend, versuchte sie verzweifelt Halt zu finden, aber sie fiel immer tiefer, immer tiefer...

Im Moment des Erwachens schien sie immer noch zu fallen. Aber einen Augenblick später erkannte sie, daß sie in ihrem Bett lag. Erleichtert atmete sie auf. Ein Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, daß es gerade halb zwei war. Draußen vor ihrem Fenster herrschte Dunkelheit. Hin und wieder hörte sie ein Auto über die nicht weit entfernte Hauptstraße fahren, aber sonst war es still. Schließlich rollte sie sich auf die andere Seite und schloß erneut die Augen.

Sie war sich nicht sicher, ob sie träumte oder nicht, denn plötzlich waren vor ihrem Fenster merkwürdige Geräusche zu hören. Es klang wie Hufe eines Pferdes, das auf dem Steinpflaster vor ihrem Zimmer auf und ab ging. Verwirrt richtete sie sich auf. Als sie durch das Fenster nach draußen spähte, war es wieder still. Aber in einiger Entfernung konnte sie unvermittelt den schneeweißen Körper eines Tieres sehen, der hinter einer Hausecke verschwand. Auch war dort ein leichter Lichtschein zu sehen. Sie rieb sich die Augen und sah noch einmal hin. Das Licht war verschwunden, genau wie das Wesen. Vielleicht waren das noch Auswirkungen ihres Traumes gewesen. Aber sie wünschte sich so sehr, ein leibhaftiges Einhorn zu sehen, daß sie sich anzog und auf den Weg machte, das Tier zu verfolgen.

Die Luft draußen war eisig, von der warmen Brise des frühen Abends war nichts mehr übrig geblieben. Sie zog ihre leichte Jacke enger um sich und verließ das Grundstück durch die breite Straßeneinfahrt. Die Häuserzeilen waren in nächtliche Stille getaucht, von den wenigen Bäumen, die man zu beiden Seiten der Straße gepflanzt hatte, war Blätterrauschen zu vernehmen, das tagsüber meist durch den allgegenwärtigen Autolärm übertönt wurde. Sylvia wandte sich in die Richtung, in die das Tier ihrer Meinung nach verschwunden war. Nach etwa dreihundert Metern erreichte sie die große Kreuzung, an der sechs Straßen zusammentrafen. Hier hatte man erst vor kurzer Zeit einen doppelten Kreisverkehr errichtet, um zumindest ein wenig Übersicht in die Verkehrslage zu bringen. An dieser Stelle stutzte sie zuerst. Wo sollte sie nun weitergehen? In Richtung des Marktplatzes war lautes Gejohle zu vernehmen, dort würde sie das Einhorn nicht finden, da war sie sich sicher. Es blieben aber dann noch die vier anderen Richtungen. Sie entschied sich für die Straße, die in das ruhigere Stadtviertel führte. Dort wohnte auch Jochen. Vielleicht hatte er es auch gesehen. Aber er hätte es wahrscheinlich für einen Traum gehalten. Aber sie wußte, daß es kein Traum war, es war tatsächlich zu ihr gekommen. Nun war sie fest entschlossen, Jochen davon zu überzeugen, daß die Einhörner existierten.

Vor der Haustür hielt sie an. Immer noch wehte dieser kalte Wind durch die Straßen und riß hier und da ein weggeworfenes Blatt Papier mit sich. Sie klingelte. Nichts geschah. Er liegt bestimmt in den tiefsten Träumen, dachte sie und drückte noch einmal den Knopf, der neben dem Namensschild hing, auf dem in roten Buchstaben J. Neckar aufgedruckt war. Wieder geschah nichts, und Sylvia wurde ungeduldig. Sie setzte gerade zum dritten Läuten an, da öffnete sich ein Fenster im ersten Stockwerk, und eine Gestalt beugte sich heraus. »Sylvia? Was machst du denn hier um diese Zeit?«

»Mach auf, Jochen! Schnell, du mußt mitkommen! Wir müssen es verfolgen, bevor es fort ist!«

»Was verfolgen? Wovon redest du eigentlich? Es ist viertel vor zwei!«

»Ja, aber das Einhorn war bei mir! Jochen, wir müssen es wiederfinden!«

»Das Einhorn?« Jochens Stimme verriet Unverständnis. »Was denn für ein Einhorn?«

»Es ist zu mir ans Fenster gekommen«, versuchte sie ihm verzweifelt klarzumachen. »Ich habe es gesehen, Jochen! Es war schneeweiß, und es hat in der Nacht geleuchtet!«

»Ich glaube, du solltest erst einmal hereinkommen«, meinte er. »Es ist verdammt kalt geworden. Dann erzählst du mir alles nochmal in Ruhe.«

Bevor Sylvia etwas erwidern konnte, war er schon vom Fenster verschwunden, und wenige Sekunden später summte der Türöffner. Sie betrat das Treppenhaus und hastete so schnell die Stufen hinauf, daß sie beinahe stürzte. Jochen stand in der Wohnungstür, nur mit einem Boxershort bekleidet und wartete auf sie. Kaum hatte er die Wohnungstür geschlossen, da sprudelte sie auch schon ihre Erlebnisse hervor, ausgehend von ihrem Traum bis zur Begegnung mit dem Wesen. Jochen führte sie indessen in sein Wohnzimmer, und sie setzten sich an den rechteckigen Glastisch.

»Du bist sicher, daß das alles nicht nur ein Traum war?« fragte Jochen nun schon zum dritten Mal. »Ich meine, bei deiner Liebe zu diesen Tieren wäre das doch wohl kein Wunder, oder?«

»Es war kein Traum, glaub mir doch«, sagte Sylvia verzweifelt. »Ich habe schon früher davon geträumt, aber dieses Mal war es anders! Es war wirklich da, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«

»Und was denkst du, sollen wir jetzt tun?«

»Wir müssen es suchen! Vielleicht braucht es Hilfe. Ich habe es in Ketten gesehen, es war so traurig. Oh, Jochen!« Schluchzend schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Er konnte fühlen, wie ihre heißen Tränen seine nackte Haut benetzten. Tröstend fuhr er ihr mit einer Hand durchs Haar, während er sie mit der anderen an sich drückte.

»Beruhige dich, Sylvia«, sagte er zärtlich. »Auch wenn das Einhorn wirklich da war, es hat jetzt keinen Zweck, nach ihm zu suchen, wir würden es nicht finden. Komm, du mußt dich ausruhen.« Behutsam führte er sie in sein Schlafzimmer. Bald lagen sie eng umschlungen in den weichen Decken, und Sylvia weinte sich in den Schlaf.

Nach langen traumlosen Stunden erwachte Sylvia. Sie brauchte einen Augenblick bis sie wieder wußte, wo sie war. Jochen schlief friedlich neben ihr - er hatte einen Arm leicht um ihre Schultern gelegt. Durch die zugezogenen Vorhänge schien ein wenig Sonnenlicht in den Raum. Sie drehte sich etwas herum, so daß sie auf dem Rücken lag. Jochen brummelte etwas, und sein Arm tastete umher. Sie griff nach seiner Hand, woraufhin er wieder ruhiger wurde. Behutsam legte sie seinen Arm neben sich auf die Decke, stand auf und ging ins Badezimmer.

Als Jochen schließlich eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer kam, war der Frühstückstisch bereits gedeckt. Kaffee dampfte aus einer großen Kanne und zwei Tassen, die neben den Brettchen standen. Zucker und Trockenmilch waren in Porzellanschüsseln, Butter, Brot und Wurst lagen auf kleinen Tellern. Auf einem der beiden Stühle hatte Sylvia Platz genommen, und Jochen benutzte den anderen, nachdem er ihr einen Dankeskuß gegeben und einen guten Morgen gewünscht hatte. Sie hatte sich die Blume wieder ins Haar gesteckt; Jochen fühlte sich geschmeichelt.

»Wie geht's dir heute?« fragte er, während er sich eine der Brotscheiben vom Teller nahm.

»Viel besser«, meinte sie. »Ich habe geschlafen, als hätte man mir eine Betäubung verabreicht.«

»Keine Träume über Einhörner?«

»Nein.« Das klang fast bedauernd. »Ich habe überhaupt nicht geträumt, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.«

Jochen war erleichtert. Gestern abend war sie wirklich vollkommen verstört gewesen. Es war zwar schon oft vorgekommen, daß sie von ihren Lieblingstieren geträumt hatte, aber so schlimm wie dieses Mal war es noch nie gewesen. Gott sei Dank schien sie den albernen Gedanken endlich abgeschüttelt zu haben. Aber ihre nächsten Worte widerlegten seine Vermutung.

»Wollen wir es heute suchen gehen?« Ihr Blick war hoffnungsvoll auf ihn gerichtet.

Jochen stöhnte innerlich. Also war sie immer noch der Meinung, sie hätte ein wirkliches Einhorn gesehen. »Sylvia, verstehst du denn nicht-«

»Du hast mir nicht geglaubt«, unterbrach sie ihn. Enttäuschung spiegelte sich in ihrem Gesicht wider. »Ich hatte gedacht, daß du mir endlich glauben würdest. Ich schwöre dir, ich habe es gesehen! Und ich werde es suchen.«

»Deine Phantasie hat dir einen Streich gespielt, Sylvia. Du warst müde, hast geträumt. Einhörner gibt es nicht, glaube mir.«

»Ich weiß sehr gut, was Traum ist und was nicht.« Ihre Stimme klang beinahe verzweifelt. »Jochen, ich weiß, daß es bei mir war. Ich muß es wiederfinden!«

»Also gut nehmen wir an, es war bei dir-«

»Daran besteht kein Zweifel.«

»Wo willst du es denn suchen? Es kann jetzt bereits kilometerweit weg sein. Du würdest tagelang suchen können und nichts finden! Schließlich ist es kein Hund oder Katze, für die man eine Entlaufen-Anzeige in der Zeitung aufgibt.«

»Jochen, hör bitte auf zu lästern.«

»Aber hör dich doch mal an! Du erwartest zu viel von mir. Du mußt doch zugeben, daß sich diese Geschichte mehr als verrückt-«

»Du hältst mich also für irre!« Ihre Augen blitzten. »Es ist nicht meine Schuld, daß du deine Phantasie ganz verloren hast. Du glaubst doch an nichts, was du nicht schon mit eigenen Augen gesehen hast.«

»Jedenfalls laufe ich nicht herum und bilde mir irgendwelche Dummheiten ein. Ich bleibe mit beiden Beinen auf dem Boden.«

Wütend sprang Sylvia auf. »Dann schlag meinetwegen auch Wurzeln!« Sie wirbelte herum, und bevor Jochen etwas erwidern konnte, knallte auch schon die Wohnungstür.

Als Sylvia eine halbe Stunde später im Zug saß, dachte sie an den Streit zurück. Sie war immer noch wütend auf ihren Freund. Gestern abend hatte er ihr noch das Gefühl gegeben, daß er ihr glaubte und sie verstand. Aber heute morgen war alles anders gewesen. Er hatte sie verspottet und sich über sie lustig gemacht. Das hatten bisher alle getan, die von ihrem Glauben an die Einhörner erfahren hatten. Sie hatte immer gehofft, mit Jochen würde das anders sein. Schließlich hatte er bisher nie ein Wort darüber verloren, und auch den anderen hatte er nichts davon erzählt. Aber es hatte sich nun herausgestellt, daß er auch nicht anders war als sie.

Egal, das würde sie auch nicht davon abhalten, nach dem Tier zu suchen. Ihr erstes Ziel war der Kirmesplatz, wo die Phantasiegestalten ausgestellt worden waren. Vielleicht konnte sie dort einen Anhaltspunkt finden.

Regen prasselte gegen die Seitenfenster des Waggons, als wolle er ihre düstere Stimmung noch verstärken. Aber glücklicherweise flaute der Schauer kurz vor der Stadtmitte ab. Dort stieg sie aus und machte sich auf den Weg. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Festplatz, also ging sie zu Fuß, anstatt in den gerade bereitstehenden Bus einzusteigen. Der nasse Asphalt glänzte in der kühlen Vormittagssonne, und gelegentlich fiel ein verirrter Regentropfen auf sie herunter. Leise hörte sie schon die Musik der Schaustellerbuden und Fahrgeschäfte, die bereits auf vollen Touren liefen. Fünf Minuten später sah sie den Kirmesplatz. Aber anstatt genau darauf zuzugehen, bog sie in eine Seitenstraße ein, die parallel zu dem Fest verlief. Hier waren weniger Menschen, und sie kam schneller voran. Sylvia hatte ohnehin keine große Lust, sich lange im dichten Trubel aufzuhalten. Ihr einziger Wunsch war es, zum Land der Phantasie zu kommen.

Schließlich bog sie in die Straße ein, die zu dem großen Platz führte, wo sie am Abend gewesen waren. Mit Schrecken sah sie auf den großen leeren Fleck in der Mitte des Geländes. Dort hatte das Gebäude gestanden, und jetzt war es verschwunden. Ungläubig lief sie hin und achtete nicht auf die empörten Ausrufe derer, die sie zur Seite stieß. Es lagen noch zertretene Eintrittskarten herum und auch ein Programmheft, aber sonst war nichts zurückgeblieben. Rund um die Stelle herum standen die restlichen Los- und Bierbuden, genau so, wie am letzten Abend.

Niedergeschlagen blätterte sie in dem durchnäßten Programmheft herum. Besuchen Sie unser Land der Phantasie, stand darin. Danach eine kurze Beschreibung, was zu sehen war und, zu Sylvias Erleichterung, eine Liste mit Auftrittsorten. Eiligst blätterte sie weiter um zu erfahren, wo die nächste Station war. Doch das Ergebnis war ernüchternd. Sie war nicht weniger als zweihundert Kilometer weit weg.

Seit sie sich vor ein paar Minuten so abrupt verabschiedet hatte, machte sich Jochen ernsthafte Sorgen. Was war bloß in das Mädchen gefahren? Reichte es nicht, daß sie ununterbrochen von irgendwelchen Phantasiegestalten faselte? Nun mußte sie auch noch einem Traum hinterherjagen. Aber wer konnte wissen, in was für Situationen sie sich stürzen würde. Verdammt, wenn er doch nur besser auf seine Worte geachtet hätte, vielleicht wäre sie dann zur Vernunft gekommen. Er seufzte und begann, den Tisch abzuräumen. Was geschehen war, war geschehen. Er konnte nur noch hoffen, daß sie ihm nicht zu lange böse war. Wenn er hier fertig war, würde er gleich losfahren, um sie zu suchen.

Er hatte sich gerade seine Schuhe angezogen, als es an der Haustür klingelte. Sylvia? dachte er, während er auf den Türöffner drückte. Als er dann in den Hausflur ging, kamen ihm seine beiden Freunde Thomas und Richard entgegen. Thomas hatte wie immer laut klackende Cowboystiefel an, und Richard trug eine seiner heißgeliebten Lederjacken. »Hallöchen«, meinte er. »Wie geht's?«

»Nicht so toll«, antwortete Jochen, als er die beiden hereinbat und die Tür schloß. »Ich wollte gerade wegfahren und Sylvia abholen.«

»Dann hast du also keine Zeit?« wollte Thomas wissen. »Wir wollten nämlich heute nochmal zum Fest 'rüberfahren und uns ein bißchen amüsieren.«

Jochen ging mit seinen Freunden ins Wohnzimmer, wo sie sich an den Tisch setzten. »Ich glaube, dazu steht mir im Augenblick nicht der Sinn.«

»Ärger mit Sylvia?« fragte Richard.

Jochen sagte nichts. Er konnte den anderen kaum den Grund ihres Streites erklären. Thomas und Richard schienen allerdings verstanden zu haben und stellten keine weiteren Fragen mehr.

Nachdem sich seine Freunde verabschiedet hatten, holte er seinen Kadett aus der Garage und fuhr zu Sylvia. Aber sie war nicht zu Hause. Es war allerdings nicht schwer zu erraten, wohin sie gegangen war. Bestimmt war sie zu dem großen Schuppen auf der Kirmes gefahren, den sie am gestrigen Abend besucht hatten. Also lenkte er seinen Wagen zur Stadtautobahn, die ins Zentrum führte. Er fühlte sich wesentlich wohler, wenn er selbst hinterm Steuer saß. Thomas hatte die Angewohnheit, sein Glück mit der Straße gelegentlich arg zu strapazieren, und das behagte Jochen ganz und gar nicht. Leider war Thomas der einzige, der freiwillig auf Alkohol verzichten wollte. So mußten sie wohl oder übel seinen Fahrstil in Kauf nehmen.

In der Nähe des Festplatzes parkte er und ging geradewegs auf sein Ziel zu. Doch wie auch Sylvia vor ihm bemerkte er sofort das Fehlen des großen Gebäudes. Innerlich fluchte er. Wo sollte er sie jetzt suchen? Glücklicherweise beantwortete sich diese Frage einen Augenblick später von selbst. Als er sich in der Menschenmenge rund um den Platz umsah, bemerkte er schon bald die unverwechselbare Gestalt seiner Freundin, wie sie gerade das Fest in Richtung des Bahnhofes verließ. Sofort rannte er los. Beim Autoscooter war er nur noch wenige Meter hinter ihr.

»Sylvia, warte!« rief er, kurz bevor er sie erreicht hatte.

Überrascht blickte sie sich um. Ärger blitzte in ihren sonst so hübschen, grünen Augen auf, als sie ihn erkannte. »Laß mich zufrieden!« sagte sie wütend. Demonstrativ wandte sie sich wieder um und ging weiter.

»Bleib doch mal stehen«, sagte Jochen. »Wo willst du denn hin?«

»Hau ab, verschwinde!« rief sie ohne anzuhalten. »Ich will mich nicht wieder mit dir streiten.«

»Ich auch nicht. Ich will nur mit dir reden.« Mittlerweile hatte er sie eingeholt und ging jetzt neben ihr.

»Kapierst du denn immer noch nicht? Ich will, daß du mich in Ruhe läßt.« Endlich blieb sie stehen. Sie stützte ihre Hände in die Hüften. »Wie kannst du erwarten, daß ich jetzt noch mit dir reden will? Du hast mich im Stich gelassen, als ich dich am nötigsten brauchte.« Mit energischen Schritten ging sie wieder weiter.

»Ich habe doch nur versucht, dir zu helfen.«

»Auf diese Art von Hilfe kann ich gut verzichten!« Ihre Stimme wurde schrill. Mit krampfhaften Bewegungen zerknüllte sie das Programmheft, das sie immer noch in der Hand hielt. »Du hast dich über mich lustig gemacht, genau wie alle anderen. Ich will deine Hilfe nicht. Ich will auch nicht, daß du mir hinterherläufst. Laß mich einfach in Ruhe!« Sie schleuderte ihm das Papierknäuel ins Gesicht und wirbelte herum. Jochen blieb verdattert stehen, bis sie außer Sicht war. Geistesabwesend hob er das Programmheft auf und begann, es auseinanderzuwickeln.

Wütend wischte Sylvia sich die Tränen aus ihren Augen, während sie sich durch die Menschenmenge drängelte. Warum konnte er sie nicht einfach in Frieden lassen? Er würde sie ja doch nicht verstehen. Niemand hatte sie bisher verstanden. Sie mußte ihre Suche alleine fortsetzen, koste es, was es wolle.

Am Bahnhof stellte sie fest, daß ihr Geld nur für die Hälfte der Strecke reichte. Sie beschloß, erst einmal so weit zu fahren, wie sie konnte. Den Rest der Strecke würde sie per Anhalter zurücklegen. Sie kaufte sich eine Fahrkarte und stieg in den Zug, der wenige Minuten später einfuhr.

Am frühen Nachmittag stieg sie wieder aus. Sie verließ den Bahnhof durch die Unterführung und befand sich kurz darauf auf einer Hauptstraße. Sie las die Schilder um festzustellen, in welche Richtung sie nun weiterfahren mußte. Aber zuerst brauchte sie etwas zu essen. Seit dem Frühstück war viel Zeit vergangen, und sie war außerdem sehr durstig. Für ihr restliches Geld kaufte sie sich in einer Bäckerei ein paar Brötchen und aß eines davon bereits auf dem Rückweg zur Straße. Schließlich streckte sie ihren Daumen aus und hoffte, daß sie jemand mitnehmen würde.

Oliver, der junge Mann, der neben ihr am Steuer saß, war ein sehr angenehmer Reisegefährte. Er hatte sie, nachdem sie eine Dreiviertelstunde an der Straße gestanden hatte, mitgenommen, und seitdem unterhielten sie sich prächtig. Er erzählte, daß er unterwegs zu einem guten Freund sei, der mit ihm die gleiche Klasse besucht hatte. Aber seit er weggezogen war, sahen sie sich nur noch sehr selten. Entweder spürte er, daß Sylvia Kummer hatte, oder es war nur Zufall, aber er hatte sie bis jetzt nicht gefragt, wohin sie fahren wollte und auch nicht, warum. Sylvia war das nur recht. Sie ließ ihn reden und hörte zu. Zwar wollte sie nicht daran denken, aber dies war beinahe dieselbe Situation, in der sie Jochen kennengelernt hatte. Sie war zwar nicht alleine in seinem Wagen gewesen und auch nicht per Anhalter gefahren, aber trotzdem erinnerte sie diese Fahrt daran.

Damals hatte sie sich mit Thomas und Richard, die sie auf ihrer Arbeitsstelle kennengelernt hatte, zum Minigolf verabredet. Sie hatte sich gerade fertig gemacht, als es auch schon an der Tür klingelte. Richard stand draußen. Er hatte noch nicht diesen Kurzhaarschnitt mit dem Zopf gehabt, aber seine Lederjacken trug er auch damals schon. Sie packte ihre Sachen zusammen und ging mit ihm auf die Straße. Dort warteten Thomas und Jochen bereits auf sie. Jochen war ein guter Freund von Richard gewesen und deshalb mitgekommen. Er saß hinten im Wagen, und sie nahm neben ihm Platz, während Richard auf der Beifahrerseite einstieg. Schon beim ersten Blickkontakt war der Funke übergesprungen, und sie ertappte sich während der Fahrt und auch nachher beim Spielen mehr als einmal dabei, daß sie ein wenig zu laut lachte oder während eines Gespräches den Faden verlor.

»...oder nicht?« fragte Oliver gerade.

»Was? Oh, entschuldige. Ich war gerade total in Gedanken.«

»Macht nichts. War sowieso nicht wichtig.« Eine halbe Stunde später setzte er sie an einer Kreuzung ab von der er, wie er sagte, nur noch ein paar Schritte von seinem Ziel entfernt war. Sie winkte ihm zum Abschied, und der blaue Honda Accord fuhr mit einem kurzen Hupkonzert davon. Nachdenklich betrachtete Sylvia die Schilder. Weit war sie nicht mehr weg, aber doch zu weit, um zu laufen. Also stellte sie sich abermals mit ausgestrecktem Daumen an die Straße.

Jochen fuhr mit einhundertzwanzig über die Landstraße. Die Reifen rutschten leicht auf der feuchten Fahrbahn, als er die Autobahnauffahrt hochfuhr. Seine sonst so vorsichtige Fahrweise begann sich nun langsam der von Thomas zu ähneln. Vor ihm bremste ein Mercedes, und Jochen wich im letzten Augenblick aus. Der Fahrer des anderen Wagens hupte, Jochen achtete nicht darauf. Durch das zerknüllte Papier, das Sylvia ihm entgegengeworfen hatte, hatte er erfahren, wohin sie unterwegs war. Nun beeilte er sich, sie dort zu treffen. Daß er den Motor und die Reifen seines Kadetts arg beanspruchte, kümmerte ihn kaum - er nahm es gar nicht zur Kenntnis. So war es beinahe ein Wunder, daß er unbeschadet sein Ziel erreichte. Wieder geriet der Wagen in der Ausfahrt leicht ins Rutschen, doch hier war die Straße beinahe trocken, und so blieb ihm Schlimmeres erspart. Von der Autobahn aus fuhr er wieder über die Landstraße, die hier allerdings belebter war. Das hinderte ihn aber nicht an waghalsigen Überholmanövern. Vor sich sah er die Ortseinfahrt und trat nur noch fester auf das Gaspedal.

Sylvia verabschiedete sich von der netten älteren Frau, die sie das letzte Stück gefahren hatte. Sie hatte sie ganz in der Nähe des Festes abgesetzt, wo sie die einzelnen Buden erkennen konnte. Auch hier war einiges los, genau wie in ihrer Heimatstadt. Aber Sylvia war nur an einer bestimmten Attraktion interessiert und achtete kaum auf die restlichen Fahrgeschäfte um sie herum. Sie suchte den Festplatz nach dem großen Gebäude ab. Ganz am anderen Ende wurde sie fündig. Vor dem Eingang blieb sie stehen und betrachtete wieder das Bild. Auch jetzt hatte sie den Eindruck, es berühren zu können, auf ihm davonreiten zu können. Nachdenklich fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar. Dabei blieb sie an der weißen Rose hängen, die Jochen ihr geschossen hatte. Jochen. Das erinnerte sie wieder an heute morgen, und sie warf die Blume wütend zu Boden, bevor sie schließlich eine Karte kaufte.

Bis Jochen seinen Wagen endlich zum Stehen brachte, vergingen viele lange Minuten. Insgeheim hegte er Zweifel am Erfolg seines Vorhabens. Würde sie ihm überhaupt zuhören? Wahrscheinlich mußte sie selbst erst einmal die Erfahrung machen, daß er recht gehabt hatte, daß all diese Dinge nur ihrer Phantasie entsprungen waren. Dann würde er für sie da sein, er würde sie trösten, ihr über den Schock hinweghelfen. Dann würde sie ihm wieder ganz und gar gehören.

Aber zuerst mußte er sie finden. Er wanderte zwischen den Festbesuchern herum, die sich offensichtlich amüsierten. Jochen amüsierte sich dagegen kaum. Erst als er an die Stelle kam, wo er sein Ziel erblicken konnte, hob sich seine Laune ein wenig. Bald hatte er die Chance, Sylvia von seiner Ansicht zu überzeugen. Vor dem Eingang wartete er, denn er war sicher, daß sie hier auftauchen würde, wenn sie nicht schon drinnen war.

Er stand bereits einige Minuten vor dem Kartenverkauf, als er etwas auf dem Boden liegen sah. Es war eine von vielen Füßen zertretene weiße Rose, deren helle Blütenblätter bereits vollkommen zerfetzt waren. Also war sie schon hier gewesen. Er beschloß, erst einmal den Verkäufer zu fragen, ob er sie gesehen hätte. Aber auf seine Frage bekam er nur die Antwort, daß hier eine Menge junger Mädchen ein- und ausgingen und man sich unmöglich das Aussehen jeder einzelnen merken konnte.

Als sie allerdings nach einer Stunde nicht aufgetaucht war, entschied er sich dafür, sie auf dem Rummelplatz zu suchen. So begann er ziellos in der Hoffnung herumzuwandern, sie irgendwo zwischen den zahlreichen Buden und Fahrgeschäften zu treffen.

Wieder ging sie durch die dunklen Gänge, die an den Seiten ihre Attraktionen zeigten. Scheinbar war die Reihenfolge geändert worden, denn der Zauberer befand sich nun am Ende des Ganges. Dort blieb sie einen Moment länger stehen, denn sie bemerkte, daß er sie unverwandt anstarrte. Unsicher blickte sie an sich herunter, konnte aber nichts feststellen, was seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte. Dann winkte er sie zu sich heran, und sie trat ans Gitter. Mit leiser Stimme murmelte er ein paar Worte, die sie nicht verstehen konnte und hielt plötzlich ein Stück altes Pergament in der Hand. Eine leichte Bewegung ließ es zu ihr hinflattern, wo es zu Boden fiel. Verwundert bückte sie sich danach und las die in uralter geschwungener Handschrift geschriebene Botschaft.

Endlich ist die Zeit des Wartens vorüber. Endlich ist die Zeit der Befreiung da.
Kehre heute in der Nacht zurück. Wir werden auf dich warten. Bitte laß uns nicht im Stich.

Überrascht sah sie auf, aber der Mann hatte schon wieder begonnen, seine Tricks vorzuführen. Fragen konnte sie ihn nicht, es waren bereits andere Besucher hinter ihr. Also wanderte sie durch den restlichen Teil des Gebäudes, ohne jedoch irgendetwas zu registrieren. Am Ausgang drehte sie sich noch einmal um und betrachtete die buntbemalte Front. Später konnte sie nicht mehr sagen, ob es Einbildung gewesen war, oder ob ihr das Einhorn wirklich einen flehenden Blick zugeworfen hatte.

Es war schon dunkel, als die meisten der Schausteller ihre Buden schlossen. Jochen hatte überall gesucht, aber Sylvia war nirgends zu sehen gewesen. Er kannte mittlerweile jeden Stand und jedes Fahrgeschäft auf dem Platz, so oft hatte er ihn überquert. Jetzt endlich ließ er sich auf den Stufen des großen Gebäudes nieder, wo er seine Suche begonnen hatte. Auch hier war schon alles geschlossen. Niedergeschlagen hob er die kläglichen Überreste der Blume auf und betrachtete sie. Gestern um diese Zeit hatte sie sie noch im Haar getragen.

Auf dem Platz waren nur vereinzelt noch Schritte zu hören, meist von betrunkenen Besuchern, die nicht nach Hause wollten oder konnten. Aber plötzlich ließ ihn ein anderes Geräusch aufhorchen. Es waren eindeutig Schritte eines Menschen, der seinen Weg kannte. Noch bevor er sie sah, wußte er, daß Sylvia endlich wieder zurückkam. Verwundert blieb sie stehen, als sie ihn erkannte. Langsam stand er auf. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte er leise und hielt die verwelkte Rose hoch. Innerlich schwor er sich, es diesmal nicht wieder zu verbocken.

Sie ging langsam auf ihn zu. Der überraschte Blick in ihren Augen wandelte sich langsam zu einer kühlen Miene. »Willst du mir wieder eine Predigt halten?«

»Nein«, erwiderte Jochen vorsichtig. »Ich helfe dir bei deiner Suche.«

Erstaunen zeigte sich in ihrem Gesicht. »Du willst mir wirklich helfen?«

»Ja.« Jochen zeigte auf das Bauwerk hinter sich. »Du glaubst, dort findest du, was du suchst?«

»Der Zauberer hat mir gesagt, ich solle in der Nacht hierhin zurückkehren.«

Der Zauberer? dachte Jochen. Aber er hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Statt dessen beobachtete er sie, wie sie langsam an ihm vorbei auf die Zeichnung des Einhorns zuging.

Lange Zeit betrachtete sie stumm das Bild. Dann hob sie vorsichtig eine Hand und berührte es. Erschreckt zuckte sie zurück. Es war warm. Wieder strömten die Bilder ihres Traumes auf sie ein. Die Traurigkeit des Tieres schlug auf sie über, und Tränen flossen ihre Wangen hinab. Sie preßte ihr Gesicht gegen die Wand und schluchzte.

Plötzlich gab es einen grellen Lichtblitz, und Sylvia taumelte auf die Straße zurück. Hätte Jochen nicht rechtzeitig reagiert, wäre sie auf das harte Pflaster gestürzt. Ungläubig starrten die beiden auf die Front des Gebäudes. Die Umrisse des Einhorns begannen zu strahlen, und unvermittelt bewegte es seine Vorderläufe. Jochen keuchte, und Sylvia sah gebannt zu, wie es sich aus der Zeichnung löste und auf den Platz trat. Sein triumphierendes Wiehern hallte von den dunklen Ständen zurück. Eine Stimme klang in Sylvias Kopf auf: Die Träne eines wahrhaft glaubenden Menschen hat mich aus meiner Verbannung befreit. Doch der Rest meiner Welt ist noch in großer Gefahr. Ich brauche eure Hilfe. Steigt auf meinen Rücken, ich trage euch in meine Welt.

Sylvia umfaßte Jochens Hand. Er starrte immer noch auf die leuchtende Gestalt des Tieres vor sich. Er weigerte sich, an das zu glauben, was er dort sah. Ungeduldig zerrte Sylvia ihn mit sich, und als sie schließlich beide auf dem Rücken des Geschöpfes saßen, überkam sie ein solches Glücksgefühl, daß es beinahe schmerzte.

Leichtfüßig begann das Einhorn zu traben, die Wirklichkeit um sie herum verblaßte. Sie machte einer anderen Wirklichkeit Platz, die mit ihrer Welt nur wenig gemein hatte. Hier gab es saubere Luft, grüne Wälder und weite Wiesen, klare Bäche und Seen. Eine Weile trug sie das Tier über eine dieser Grasflächen, bis es schließlich stehenblieb und sie absteigen ließ. Lebt nun wohl. Wir alle vertrauen auf eure Hilfe. Ich werde bei euch sein. Damit galoppierte es davon, und die beiden starrten ihm nach, bis es nicht mehr zu sehen war.

Jochen hatte, seit das Einhorn aufgetaucht war, kein Wort herausgebracht. Jetzt, als er gerade etwas sagen wollte, hörte er plötzlich Musik, eine Musik, die ihn in seinen Bann schlug. Es war eine wunderschöne Melodie, die genau zu ihrer Umgebung paßte. Doch dann fiel sein Blick auf eine dunkle Wolkenformation am Horizont, und er hörte einen Mißklang in der Melodie.

Sylvia wandte sich um. Am Ende der Graslandschaft tauchten drei Gestalten auf.

3. Kapitel: Das Verlorene Volk

»Dusk is dawn, is day
Where did it go?«
(R.E.M.: »Low«)

Während sie wanderten, sprachen sie kein Wort. Die drei Freunde nahmen die Landschaft in sich auf, ihre Blicke versuchten zu begreifen, was geschehen war. Achim ging voraus, suchte sich seinen Weg auf die Wolkenfront zu. Er hatte keine Vorstellung von dem, was ihn dort erwarten würde, aber er hatte es schon lange aufgegeben, darüber nachzudenken. Jetzt zählte einzig und alleine das Gefühl. Er ließ sich von seinem Instinkt leiten, und der führte ihn immer weiter über die ausgedehnte Graslandschaft, auf einen Fluß zu, der in der hellen Sonne blau glitzerte.

Sie waren schon mehrere Minuten gewandert, als es plötzlich auf der anderen Seite des Flusses einen grellen Lichtblitz gab, der sie für einen Augenblick blendete. Sie bedeckten ihre Augen mit den Händen und blieben stehen. Ein Knall erreichte sie einen Moment später. Als sie dann wieder nach vorne blickten, sahen sie zwei Personen, die von einem weißen Tier abstiegen. Es sah wie ein Pferd aus, aber auf seiner Stirn prangte ein goldenes Horn, das hell glänzte.

»Aber... Das gibt es doch nicht!« rief Katrin. »So etwas gibt es doch nur in Märchen.«

Fassungslos starrten die drei auf das Tier, das plötzlich zu laufen begann und schnell wie ein Blitz in den Wäldern verschwand. Die anderen beiden standen immer noch dort, wo sie abgestiegen waren und blickten dem Einhorn hinterher. Jetzt konnte Achim erkennen, daß es sich um ein Pärchen etwa in Katrins und Rolands Alter handelte. Das Mädchen wandte sich jetzt in seine Richtung und stieß seinen Begleiter an, der sich daraufhin ebenfalls umdrehte.

»Wer ist das?« fragte Katrin, aber sie bekam keine Antwort, denn die anderen waren genauso ratlos wie sie selbst. Schweigend warteten sie ab. Niemand rührte sich.

Achim verlor die Geduld. »Das ist doch Blödsinn, hier zu Säulen zu erstarren. Wenn die beiden da hinten uns schaden wollten, würden sie nicht dort rumstehen. Ich denke eher, die wissen genausowenig wie wir, was hier los ist. Vielleicht sollten wir uns zusammentun.«

»Bist du sicher?« Katrin hatte sich wieder an Roland geklammert.

»Nein.« Er setzte sich in Bewegung, und sie folgten ihm, obwohl sie nicht wußten, was sie erwarten würde. Etwa dreihundert Meter vor ihnen hatten sich die beiden anderen ebenfalls ein Herz gefaßt und sich auf den Weg gemacht.

Am Fluß trafen sich die beiden Gruppen und musterten einander mißtrauisch. Achim fiel auf, daß das Mädchen am gegenüberliegenden Ufer wirklich hübsch war. Ihr rotblondes Haar war mit einem violetten Band zusammengebunden, und die Kleidung, genau wie die seiner Freunde auf die Umgebung abgestimmt, paßte irgendwie zu ihr, während sie ihm selbst seiner Meinung nach überhaupt nicht stand. Der junge Mann, der bei ihr war, hatte eine kräftige Statur: Breite Schultern und starke Arme zeichneten sich unter dem dünnen Leinenhemd ab, das er trug. Er war zwar nicht so groß wie Roland, sah aber wesentlich muskulöser aus. Achim schätzte, daß man sich mit diesem Mann besser nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen sollte. Alles in allem hatte es den Eindruck, als säßen sie alle im selben Boot, einer fremden Welt und fremden Menschen gegenüberstehend.

Ein paar Meter flußaufwärts sah Achim einen kleinen Steg, der den Fluß überwand. Ohne große Worte steuerte er darauf zu. Er wollte endlich Klarheit schaffen, wer nun aus welchem Grunde hier war. Dieses endlose Begaffe von beiden Seiten hatte er nun wirklich satt. Vielleicht konnten sie ja sogar einander helfen.

Am Steg angekommen stellte er fest, daß der kräftige, junge Mann ebenfalls diese Stelle erreicht hatte. In der Mitte der kleinen Brücke trafen sie sich. Achim streckte die Hand aus. »Achim Richter.«

»Jochen Neckar.«

Es bedurfte keiner weiteren Erklärungen. Nacheinander stellten sich die anderen vor, die mittlerweile dazugekommen waren. Dann machten sie es sich auf der Wiese am Ufer des Flusses bequem, wo sie sich unterhalten konnten. Achim bemerkte, wie Sylvia, das Mädchen mit den rotblonden Haaren, eine welke, ehemals weiße Rose hielt, mit der sie ein wenig herumspielte. »Habt ihr das Einhorn gesehen?« fragte sie nach einer Weile. Achim und seine Freunde nickten. »Es hat uns hergebracht«, fuhr sie fort. »Es sagte, wir wären die Hilfe für sein Volk hier in dieser Welt. Und wie seid ihr hierhergekommen?«

»Durch eine Melodie«, antwortete Achim. »Mir kam vor ein paar Tagen ein Lied in den Sinn, das mich immer wieder in den Bann geschlagen hat. Jetzt glaube ich, daß die Melodie der Schlüssel zu dieser Welt war. Seht ihr die Wolken dort drüben?« Er deutete auf die dunklen Schatten am Horizont. »Das ist der Mißklang in der Musik. Ich glaube, mein Ziel ist es, ihn zu finden und die Melodie zu reinigen.« Jetzt erst fiel ihm auf, daß das Lied verklungen war.

»Ich habe eine leise Musik gehört, als ich mit Sylvia hierherkam. War das die Melodie, die du meinst?«

Achim nickte. »Jetzt ist sie weg.« Nach einer Pause fragte er: »Wohin werdet ihr jetzt gehen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht einmal eine Ahnung, was ich hier soll. Die Sache mit dem Einhorn und das alles hat mich doch ziemlich überrascht, na ja, verwirrt ist eigentlich der bessere Ausdruck dafür. Jetzt weiß ich zwar, daß wir beide nicht die einzigen sind, die es hierher verschlagen hat, aber mehr auch nicht.«

»Ob wohl noch mehr kommen werden?« überlegte Sylvia. »Ich frage mich, wo wir beginnen sollen.«

»Womit beginnen?« fragte Jochen.

Sylvia blickte zu den Wolken hinüber. »Achim sprach von einem Mißklang, den er ausräumen wollte, und das Einhorn hat uns ausgesucht, seine Welt aus einer Gefahr herauszuhelfen. Es könnte doch sein, daß es hier ein und dasselbe ist. Vielleicht war es so bestimmt, daß wir uns treffen. Wahrscheinlich sollen wir gemeinsam gegen die Gefahr kämpfen, wie sie auch immer aussehen mag.«

»Ich habe das gleiche Gefühl«, meinte Achim. »Zumindest sollten wir zusammen reisen, das ist sicherer und bestimmt auch angenehmer für uns. Auch wenn wir nachher doch noch unterschiedliche Wege gehen müssen, sollten wir solange zusammenbleiben, wie es geht. Nur, wenn ihr damit einverstanden seid, natürlich.« Alle stimmten diesem Vorschlag zu, allen voran Katrin, die sich immer noch sehr unsicher fühlte.

Schließlich beschlossen sie, der Wolkenformation entgegenzuwandern, die sich bisher nur wenig verändert hatte und bedrohlich am Horizont hing. Das Einhorn beobachtete von einem Waldstück in der Nähe ihren Aufbruch. Vielleicht wird ja doch alles gut werden, dachte es. Dann drehte es sich um und verschwand im dichten Gehölz.

Der Abend brach an, und sie schlugen ihr Lager unter den Bäumen eines Wäldchens auf. Unterwegs hatten sie einige Bäume mit eßbaren Früchten gefunden, die ihnen nun ein willkommenes Abendbrot bescherten. Aus kleinen Zweigen, Ästen und mit Hilfe von Katrins Piezo-Feuerzeug war schnell ein wärmendes Lagerfeuer entstanden, dessen Flackern ihre erschöpften Gesichter erhellte. Sie machten es sich so bequem wie es ging und starrten in die Flammen. Viele Fragen gingen durch ihre Köpfe, aber niemand wußte die Antworten. Katrin war bald schon eingeschlafen, ihr Kopf ruhte auf Rolands Brust, der sich an einen Baumstamm gelehnt hatte. Jochen lag der Länge nach auf dem Boden ausgestreckt, Sylvia saß neben ihm, ihr Blick war in irgendeine unbestimmte Ferne gerichtet. Sie schien in Gedanken versunken. Achim konnte beim besten Willen nicht schlafen. Auch er saß aufrecht am Feuer und dachte nach.

»Wohin werden wir gehen?« fragte Sylvia leise, wie zu sich selbst. »Ich... Unser Weg ist mir nicht klar, alles ist so anders geworden. Das Einhorn hat uns hierher geführt, aber wie geht es weiter? Was tun wir hier?« Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. »Ich wünschte, ich könnte es noch einmal sehen. Kein Geschöpf der Erde ist so vollkommen wie das Einhorn. Und es hat mich zu sich gerufen, weil ich an es geglaubt habe. Trotzdem liegt unser Schicksal immer noch im Dunkeln.«

»Vielleicht werden wir morgen einen Anhaltspunkt finden«, meinte Achim. »Wir sollten nicht schon zu Anfang aufgeben. Viel kann noch geschehen, und ich habe das Gefühl, als würden die Ereignisse nicht mehr lange auf sich warten lassen.«

»Es ist nur die Ungewißheit, die mich so nervös macht. Wir wissen nicht einmal, was uns erwartet. Wir haben ja auch keine Ahnung, wie wir wieder zurückkommen sollen.«

Achim nickte. »Aber wir können jetzt nichts dagegen tun. Es hat keinen Zweck, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir sollten beide versuchen, etwas Schlaf zu bekommen. Es ist möglich, daß morgen ein harter Tag auf uns zukommt.«

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schlafen kann. Aber natürlich hast du recht, wir sollten uns alle ausruhen. Was auch vor uns liegt, es wird einfacher für uns sein, wenn wir bei klarem Verstand sind.« Ihr Blick streifte Achims, und er spürte, wie sehr ihre Seelen doch verwandt waren. Vielleicht waren sie deshalb auch auserwählt worden.

»Gute Nacht«, sagte Achim.

»Gute Nacht.«

Trotz ihrer Befürchtungen waren sie schon nach wenigen Minuten eingeschlafen. Die Nacht senkte sich ruhig und klar über die ruhenden Gefährten, die sich unter so merkwürdigen Umständen getroffen hatten. Ihre Träume waren wirr, erfüllt von vagen Ahnungen und Vorstellungen von dem, was kommen sollte. Doch bis zum Morgen waren all diese Bilder wieder aus ihren Köpfen verschwunden.

Das feine Sonnenlicht, das durch das grüne Blätterdach des Waldes zu ihnen hinunterdrang, weckte sie sanft. Ein warmer Wind wehte und erfrischte ihre müden Körper. Das Feuer war während der Nacht heruntergebrannt, nur noch leichte Rauchwölkchen stiegen von dem Aschehäufchen auf. Sie verzehrten ein kleines Frühstück, das aus den restlichen Früchten bestand, die sie am Abend übrig gelassen hatten. Bald darauf wanderten sie weiter. Ein munterer Bach plätscherte quer zu ihrer Reiserichtung, sie wuschen sich mit seinem klaren Wasser und setzten ihren Weg in gehobener Stimmung weiter fort. Bis zum Mittag überquerten sie Grasflächen, durchwanderten Wälder und erkletterten Hügel, die in weite Täler führten. Als die Sonne dann den höchsten Punkt am Himmel erreicht hatte, bemerkte Sylvia ein leichtes Glitzern am Horizont. Als sie genauer hinsah erkannte sie Gebäude, sie hatten eine Stadt gefunden. Nachdem sie den anderen ihre Entdeckung mitgeteilt hatte wurden sie sich sofort einig, den direkten Weg dorthin einzuschlagen. Achim übernahm wieder die Führung, dicht gefolgt von Sylvia und Jochen. Roland bildete mit Katrin die Nachhut.

Je näher sie der Ansiedlung kamen, desto klarer konnten sie den ungewöhnlichen Baustil der Häuser studieren. Helle Holzbalken bildeten um die meisten der Bauwerke eine Art Säulenreihe, die sich um das gesamte Gebäude zog. Das Dach ragte ein kleines Stück darüber hinaus, die Wände der Häuser lagen im Schatten darunter, die meisten von ihnen waren dunkelbraun bis schwarz angestrichen. Von den Bewohnern war bisher noch nichts erkennbar gewesen.

Sie erreichten das erste der Häuser. Der lose Sand unter ihren Füßen knirschte, als sie weiter in die Stadt hineingingen. Es war niemand zu sehen. Verwirrt blieben sie stehen. Die Straßen sahen aus, als würden sie viel benutzt, auch die Gebäudefronten waren in gutem Zustand; hinter den Fenstern standen Blumen. Es deutete nichts darauf hin, daß die Ortschaft verlassen worden wäre. Dennoch war nicht ein Mensch auf der Straße.

»Versteht ihr das?« fragte Jochen. »Um diese Zeit müßte es eigentlich von Menschen wimmeln. Noch dazu bei diesem tollen Wetter.«

»Bei uns schon, das stimmt«, meinte Sylvia. »Wer weiß, was diese Menschen hier für Gewohnheiten haben.« Unschlüssig blickten sie sich um. Eine getigerte Katze strich an den Hauswänden entlang, sprang eine Veranda hinauf, stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz darüber hinweg und überquerte dann die Straße, auf der die kleine Reisegruppe stand. Doch plötzlich blieb sie mitten auf dem Weg stehen und starrte in einen Seitenweg hinein, die Achim und seine Begleiter nicht einsehen konnten. Ein leises Miauen drang zu ihnen herüber, und das Tier ließ sich auf alle viere nieder. Immer wieder miaute sie kurz, und unablässig starrte sie in die Nebenstraße hinein. Gerade als Sylvia nachsehen wollte, was die Aufmerksamkeit der Katze erregt haben mochte, tauchte ein schneeweißer Kopf mit einem goldenen Horn aus der Einmündung heraus auf. Sylvia hielt den Atem an. Das Einhorn war zu ihr zurückgekehrt. Es kam langsam näher, seine gespaltenen Hufe schienen den Boden der Straße kaum zu berühren, so leicht wirkte die Bewegung des Tieres. Wenige Meter vor ihnen blieb es stehen. Einige Augenblicke später bäumte es sich auf und wieherte zweimal schrill. Die Gefährten blickten sich verwundert an, bis sich die Stadt unvermittelt mit Menschen zu füllen begann. Sie kamen aus den Häusern, die an die Straße angrenzten, Unglauben zeigte sich auf den Gesichtern der Bewohner. Aber, so stellte Achim erschreckt fest, sie waren nicht überrascht, das Einhorn zu sehen, vielmehr waren sie davon überrascht, ihn und seine Begleiter zu sehen. Unsicher blickten sie sich um und versuchten herauszufinden, warum sich diese Menschen so sonderbar verhielten. Das Einhorn kam nun mit langsamen Schritten zu ihnen und stellte sich neben Sylvia hin. Das Mädchen streckte eine Hand aus und streichelte sanft den Hals des wunderschönen Tieres. Ein Raunen ging durch die Menge, und plötzlich brachen die Menschen der Stadt in hemmungslosen Jubel aus.

Ehe sie es richtig registrierten, waren sie von den Bewohnern umringt. Überall waren Männer und Frauen jeden Alters, sie schwenkten ihre Arme und riefen ihnen Worte zu, die sie aber wegen des riesigen Durcheinanders nicht verstehen konnten. Das Einhorn blieb wo es war. Sylvia suchte Schutz an seiner Seite, denn die vielen Menschen machten sie nervös. Jochen ging zu ihr hinüber und nahm sie bei der Hand. Die anderen drei konnten nur stumm dastehen und die ausgelassenen Bürger verwundert anstarren.

Unvermittelt klang eine Stimme, ruhig aber bestimmt, aus der Menge auf. Sie hatte ein weiches, besänftigendes Timbre, drang aber unüberhörbar bis zu ihnen herüber. Die Stimme sagte: »Freunde! Macht bitte Platz. Unsere Gäste warten. Macht Platz für den Rhaad!«

Das Jubelgeschrei verebbte langsam, und eine Gasse bildete sich in der Ansammlung. Durch diese Gasse kamen drei Männer, einer, der offensichtlich der Sprecher gewesen war, trug farbenfrohe Gewänder, die sich weit ausbauschten, während er ging. Der Mann, der am weitesten rechts ging sah dagegen viel schlichter aus. Er trug eine dunkle Robe mit roten Säumen, in einer Hand hielt er ein Buch, in der anderen einen Federkiel. Der Sprecher war es aber, der Sylvias Aufmerksamkeit erregte. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, das wußte sie. Angestrengt überlegte sie, woher sie ihn kannte. Als die drei Männer nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt waren, fiel es ihr wieder ein. Sie zog ihren Freund am Ärmel. »Jochen! Das ist der Zauberer. Der aus dem Land der Phantasie

Bevor er etwas sagen konnte, blieben die Männer vor ihnen stehen, und es setzte Stille ein. Dann verbeugten sie sich vor den Reisenden. Unsicher ahmten sie die Bewegung nach. »Es ist uns eine Ehre, euch hier willkommen zu heißen«, begann der Mann mit der bunten Kleidung. »Mein Name ist Tharas, Hofberater des Rhaad. Dies dort vorne ist Schreiber Jorrah, die rechte Hand des Rhaad in allen schriftlichen Angelegenheiten. Euer Majestät«, er verbeugte sich vor dem Mann in der Mitte. »Dies sind die uns verkündeten Erlöser.«

Der Rhaad trat einen Schritt vor. Allein schon seine prachtvollen Gewänder zeigten seinen hohen Rang, aber auch sein Gesicht war das eines Herrschers, harte, aber gerechte Züge, von einem schwarzen Bart umrahmt. Die klugen, dunklen Augen musterten die Neuankömmlinge genau. Achim trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, und ein Blick auf seine Begleiter zeigte, daß sie sich ebenfalls nicht ganz wohl in ihrer Haut fühlten. Es verging einige Zeit, bis der Rhaad seine Musterung einstellte. »Im Namen des Verlorenen Volkes heiße ich euch in meiner Stadt willkommen. Meine persönlichen Berater werden euch zur Seite stehen, während ich meine Vorbereitungen treffe. Tharas«, er wandte sich an den Mann in der bunten Kleidung. »Ihr sorgt dafür, daß sich die Menge zerstreut. Jorrah! Bringt unsere Gäste in meinem Anwesen unter. Ich werde mich später mit ihnen unterhalten.« Damit wandte er sich ab und schritt die Gasse entlang zurück. Während der Sprecher nun die Menge aufforderte, sich wieder in ihre Häuser zu begeben, kam Jorrah auf sie zu. Mit einer Handbewegung bat er sie, ihm zu folgen. Da sie ohnehin nichts anderes tun konnten, kamen sie der Bitte nach.

Es verging nur wenig Zeit, bis sie an ihrem Ziel angekommen waren. Das Zimmer, in dem sie sich jetzt befanden, war luxuriös eingerichtet. Ein dicker, weicher Teppich lag auf edlem Holzboden, die Wände waren dort mit Schnitzereien und Ornamenten verziert, wo keine der kostbar aussehenden Bilder hingen. In der Mitte des Raumes stand ein schwerer Tisch mit sechs Stühlen. Darauf befanden sich zwei goldfarbene Kerzenhalter, in denen jeweils fünf Lichter brannten. Die Vorhänge an den Fenstern waren reich bestickt, hier hatte man wirklich an nichts gespart.

Achim und seine Freunde sahen sich unsicher um. Jorrah hatte sie durch die Straßen der Stadt bis zum Regentshaus gebracht, ihnen diesen Raum gezeigt und sie gebeten, hier zu warten. Dann hatte er sie verlassen, und bis jetzt war er nicht wiedergekommen. Nach einiger Zeit aber öffnete sich die Tür, und Tharas kam herein. »Der Rhaad möchte euch nun sehen«, sagte er. »Bitte folgt mir.«

Sie traten wieder in den prächtigen Gang hinaus, durch den sie vorher von Jorrah geführt worden waren. Tharas brachte sie über eine breite Treppe ins obere Stockwerk des Hauses. Dort wies er sie an auf ihn zu warten, während er durch ein doppelflügliges Portal auf der rechten Seite ging, das von zwei kräftigen Männern bewacht wurde. Es dauerte nicht lange, bis sie hereingerufen wurden. War ihnen der Raum, in dem sie vorhin gewesen waren, schon prächtig vorgekommen, so übertraf diese Halle ihre Erwartungen um ein Vielfaches. Es ließ sich kaum beschreiben, wie viel Reichtum sich hier befand. Ein feiner Teppich führte durch den Raum zu einem erhöhten Sitz, auf dem sich der Rhaad niedergelassen hatte. An seinen beiden Seiten standen Tharas und Jorrah, die sie näherwinkten. Sie gingen langsam über den Teppich und bestaunten die sorgfältig bearbeiteten Säulen, die die Decke stützten. An der Decke selbst hingen mehrere Kronleuchter mit unzähligen Kerzen, die den Raum beleuchteten. Vor dem Thron hatte man einen Tisch mit fünf Stühlen aufgestellt. Tharas gab ihnen ein Zeichen, daß sie sich setzen sollten. Nachdem sie dieser Aufforderung Folge geleistet hatten, kam er zu ihnen herüber und wandte sich zu dem Rhaad um.

»Euer Majestät, unsere Gäste sind eingetroffen, wie Ihr befohlen habt.«

Der Rhaad nickte, und Tharas kehrte zu seinem Platz an der Seite des Thrones zurück. »Der Augenblick ist endlich gekommen«, begann der Rhaad. »Die Erlösung unseres Volkes liegt schließlich vor uns. Wir warten schon einige Zeit auf euch, daß ihr uns aus der Not herausführt.«

»Einen Augenblick.« Jochen war aufgestanden und blickte nun den Rhaad an. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Wieso habt ihr auf uns gewartet? Ich weiß noch nicht einmal, wo wir hier sind.«

»Schscht«, machte Sylvia und versuchte, ihren Freund auf den Stuhl zurückzuziehen. Jochen machte sich mit einer heftigen Bewegung frei und starrte den Mann auf dem Thron unverwandt an.

»Die Seher haben das Ende unserer Not vorhergesagt«, erklärte der Rhaad. »Sie sagten, es würden Menschen kommen, die uns beistehen. Es werden fünf sein, sagten sie. Und ein Einhorn wird sie anführen.«

»Dann haben sich eure Seher eben geirrt«, erwiderte Jochen. »Jedenfalls bin ich sicher, daß ich hier nicht hingehöre.«

»Jochen, er hat recht«, sagte Sylvia.

Verdutzt sah er seine Freundin an, die nun ebenfalls aufgestanden war. »Wie meinst du das?«

Sie griff in ihre Hosentasche und gab ihm einen zerknitterten Zettel. »Den hat mir der Zauberer, Tharas, gegeben, im Land der Phantasie. Und das Einhorn hat doch auch gesagt, daß sein Volk in großer Gefahr ist.«

Jochen las die Botschaft und schüttelte mit dem Kopf. »Ich verstehe das nicht«, murmelte er und setzte sich langsam wieder hin.

»Dann habt Ihr mir also die Musik geschickt, damit ich hierherkomme?« fragte Achim.

Der Rhaad nickte. »In unserer Welt bestehen die stärksten Kräfte in der Musik. Mit ihrer Hilfe lassen wir unsere Felder Nahrung hervorbringen, halten wir unser Wasser sauber und schützen wir uns vor unseren Feinden. Aber gerade das ist seit einiger Zeit sehr schwierig geworden. Der Herrscher eines fremden Volkes hat einen Weg gefunden, unsere Musik zu verunreinigen. Mittlerweile ist es so weit gekommen, daß wir uns nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße wagen können, weil dann die lichtscheuen Schergen dieses Volkes dort herumschleichen und Schrecken verbreiten. Glücklicherweise ist es uns bis jetzt noch gelungen, sie von unseren Häusern fernzuhalten. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sie auch diesen Schutz niedergerannt haben werden.«

»Und das alles nur wegen ein paar Liedern?« fragte Roland.

»Musik ist reine Macht in unserem Reich«, erklärte der Rhaad. »Mit ihr steht und fällt das Glück unseres Volkes. Ohne sie können wir uns nicht schützen. Jetzt, da die Musik durch Dissonanzen geschwächt worden ist, wird es für unsere Widersacher immer leichter werden, ihr neue Wunden zuzufügen.«

»Aber warum schreibt ihr dann nicht einfach ein neues Lied?« fragte Achim. »Oder nehmt doch die falschen Noten aus der Melodie heraus.«

»Leider ist es nicht so einfach, wie man denken könnte.« Tharas seufzte. »Ich schätze, ich sollte euch zu unseren Musikern bringen. Dort kann ich die Zusammenhänge besser erklären.« Er wandte sich um. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich sie zu den unteren Höhlen bringen, Herr.« Der Rhaad nickte ihm zu. »Kommt dann«, bat er die fünf jungen Leute. Mit einer leichten Verbeugung zum Thron hin führte er sie wieder aus dem Regentshaus hinaus. Ein paar Minuten später hatten sie die Straßen und Häuser der Stadt hinter sich gelassen, und jetzt wanderten sie durch einen lichten Wald, der direkt an die Siedlung anschloß. Tharas ging voraus, führte sie einen Abhang hinunter, in den man zur Erleichterung ein paar Stufen hineingehauen hatte. Unten angekommen standen sie auf felsigem Boden, am Fuße eines recht hohen Berges, der vor ihnen aufragte. Hier konnten sie einige Höhlen erkennen, die in das Gestein hineinführten. Dann hörten sie wieder die Musik, doch reiner und vollkommener als zuvor auf der Ebene. Achim lauschte fasziniert, entdeckte von neuem die perfekte Struktur und die Harmonien, zu denen sich die Klänge verwoben. Es war nicht die leiseste Unstimmigkeit in der Melodie zu erkennen.

Der Berater ging nun zielstrebig auf einen der Höhleneingänge zu. Sie folgten ihm in den Berg hinein, wo die Musik lauter wurde. Fackeln zu beiden Seiten des Ganges leuchteten den Tunnel auf ihrem Weg gut aus. Tharas brachte sie schließlich zu einer geräumigen Kaverne, in der sie erst einmal voller Staunen stehenblieben. Der riesige Raum war hell erleuchtet. In der Mitte befand sich eine merkwürdige Apparatur, in deren Zentrum ein hell glühender Kristall hing. Lichtstrahlen trafen ihn von einer Ecke der Kaverne, und der Stein spaltete sie zu farbenfrohen Regenbogen, die sich überall auf den Wänden abzeichneten. Von diesem Kristall ging die Musik aus.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Achim zu Tharas, der im Eingang stehengeblieben war. »Die Musik ist so perfekt, wie es nur möglich ist. Warum höre ich die Dissonanzen nicht mehr?«

»Aus dem gleichen Grund wie dem, warum wir nichts dagegen tun können, daß die Musik verunreinigt wird.« Tharas' Hand wies auf den Kristall. »Unsere Musiker haben hier die Melodie erschaffen, der Kristall bringt sie in das Land hinaus, wo sie unserem Volke zum Guten dient. Aber dort kommen die Dissonanzen in die Musik, sie werden nicht hier erzeugt, sondern im Reich unserer Feinde. Von dort aus stören sie unser Gleichgewicht der Harmonie. Daher können wir auch keine neue Melodie komponieren, da auch sie schon bald verunreinigt würde.«

»Dann muß also jemand verhindern, daß die falschen Töne dieses Land erreichen«, überlegte Sylvia.

Tharas nickte. »Ja, genau so ist es.« Seine Stimme wurde leiser. »Die Seher haben uns auch erklärt, was getan werden muß, nur ist niemand aus unserem kleinen Reich fähig, diese Aufgabe zu bewältigen.«

»Ist es denn so gefährlich?« fragte Katrin.

»Das ist nur ein Grund. Die Gefahren könnten auch unsere Stadtgardisten überstehen. Jedoch fehlen ihnen andere Voraussetzungen, die unabdingbar sind, um die Mission erfolgreich abzuschließen.« Er schwieg einen Augenblick. »Ihnen fehlt das Gefühl für Musik.«

»Aber... Ich dachte...« begann Achim.

»Trotz der wichtigen Stellung, die die Musik hier hat, sind nur die wenigsten unseres Volkes in der Lage, sie richtig zu verstehen, so wie es bei euch auch ist. Und diese Menschen brauchen wir, um den Kristall zu bedienen. Wir können nicht einen von ihnen entbehren. Aber jetzt hat das Schicksal euch zu uns gebracht. Ich möchte euch daher im Namen des Verlorenen Volkes darum bitten, für uns auf die Suche nach der Heilung unseres Landes zu gehen. Ihr besitzt Stärke, Mut, Liebe, Toleranz und nicht zuletzt das richtige Gefühl für die Musik. Ich möchte euch nicht zwingen, in der Tat kann ich das auch nicht. Jedoch sollt ihr wissen, daß unsere Zukunft in euren Händen liegt.«

»Wenn wir es uns aber anders überlegen«, warf Jochen ein, »wie wird es dann hier weitergehen?«

»Unsere Feinde werden nach und nach den Schutz zerstören und hier eindringen, die schleichenden Wesen werden unsere Häuser endgültig betreten können. Es würde nicht lange dauern, bis niemand von uns mehr am Leben wäre.«

»Das Einhorn?« fragte Sylvia.

Tharas schüttelte traurig den Kopf. »Es würde nicht überleben.«

»Was können wir tun, um euch zu helfen?« Achim hatte seinen Entschluß gefaßt. »Wie können wir der Zerstörung ein Ende setzen?«

Der Berater führte sie mit einer Handbewegung aus der Höhle hinaus. Sie gingen wieder die Stufen hinauf, um dann das Tal zu umrunden, bis sie auf der anderen Seite standen, etwa zweihundert Meter über dem umliegenden Land. Tharas blickte in die Richtung, in der die Sonne in einigen Stunden untergehen würde. Ein Band dunkler Wolken lag über schneebedeckten Gipfeln. »Dort liegt das Grenzgebirge, das Ende dieses Reiches. Dahinter beginnt das Land unserer Widersacher. Einst hat uns ein großer Teil des Besitzes jenseits der Berge gehört, doch längst haben sie ihn uns weggenommen. Doch bilden die schweren Felsen dort eine natürliche Barriere, die sie bisher nicht haben überschreiten können. Wenn sie es aber einmal geschafft haben, wird sie nichts und niemand auf dieser weiten Fläche aufhalten können.« In der Tat war das Land bis hin zu den entfernten Bergen eben und frei. Hier und da standen kleinere Wäldchen inmitten von ausgedehnten Wiesen, die an vielen Stellen von Flüssen und Seen unterbrochen wurden. »Es muß jemand dorthin gehen und das Gebirge überqueren. Die Quelle der Dissonanzen muß ausgemerzt werden, durch entgegengesetzte Energie. Aber es bleibt nicht mehr viel Zeit, die Macht der Feinde wächst Tag für Tag. Wollt ihr uns helfen?«

4. Kapitel: Reise ins Ungewisse

»There's a high wind in the trees
A cold sound in the air
And nobody ever knows when we'll go
And where do you start
Oh, into the dark.«
(Art Garfunkel: »Bright Eyes«)

Der erste Tag ging zuende, vor ihnen versank die Sonne in einem glühend roten Feuermeer aus Wolken, bis sie vollständig hinter dem Grenzgebirge verschwunden war. Das Licht, das vom Himmel noch herabschien, tönte die Landschaft mit einer unwirklichen Färbung. Die Schatten der Bäume und Büsche, die hier auf der weiten Ebene noch vereinzelt standen, lösten sich langsam auf, um mit dem allgemeinen Zwielicht der Umgebung zu verschmelzen. Die Wärme des Tages wurde nun von leichten Windböen abgelöst, die kühlere Luft zu ihnen hinübertrugen. Sie suchten sich ihren Platz unter einem der dickstämmigen Bäume in der Nähe, um dort ihr Lager zu errichten.

»Weiß jemand von euch, wohin wir eigentlich gehen?« fragte Katrin, die sich eine Decke über die Schultern geworfen hatte. »Sehr klar waren die Beschreibungen ja nicht gerade.«

»Ich schätze, es kommt gar nicht so sehr darauf an, welchen Weg wir nehmen«, meinte Achim. »Unser Gefühl wird uns schon die Richtung zeigen. Zumindest nehme ich das an, da bisher alles ohne große Überlegungen stattgefunden hat.«

»Jochen und ich sind aber nicht alleine gekommen«, wandte Sylvia ein. »Das Einhorn hat uns hergeführt. Aber seit wir im Palast waren, haben wir es nicht mehr gesehen.«

»Natürlich sind wir auch nicht von selbst hergekommen«, erwiderte Achim. »Die Musik hat uns den Weg in diese Welt geöffnet. Jetzt ist sie überall zu hören, weist uns also keinen Weg mehr, aber es gibt da immer noch ein Gefühl, ich weiß nicht, ob ihr es auch spürt, ich jedenfalls fühle einen gewissen Drang, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Und das, denke ich, wird wohl auch so gewollt sein.«

»Also ich spüre gar nichts«, meinte Roland, der sich bequem neben Katrin ausgestreckt hatte. »Abgesehen von meiner Müdigkeit. Wir sind den halben Tag gelaufen, können wir uns jetzt nicht ausruhen, statt noch viel herumzuquatschen?«

»Ich finde es ziemlich wichtig zu wissen, wo wir hingehen«, sagte Jochen. »Immerhin, wer weiß von uns schon, was noch alles kommen wird. Für meinen Geschmack ist schon viel zuviel dagewesen, was sich mit meinem Denken nicht vereinbaren läßt. Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, haufenweise unerklärliches Zeug vor die Nase gesetzt zu bekommen, aber ich bin froh über jeden kleinen Fetzen dieser ganzen Sache, den ich verstehe.«

»So geht es uns wahrscheinlich allen«, meinte Achim. »Mehr oder weniger, jedenfalls. Aber Roland hat wohl doch recht. Was bringt es, viel zu reden, wir wissen dann ja doch nicht mehr als vorher. Lassen wir die Sache bis morgen ruhen, wer weiß wie es dann aussieht.«

»Hoffentlich nicht noch düsterer als jetzt schon«, meinte Sylvia. »Diese Wolken über dem Gebirge machen mir Angst.«

Achim versuchte, die Noten zu ordnen, die vor ihm wild durcheinanderstanden. Er nahm eine Achtelnote und stellte sie ein paar Takte weiter nach vorne, doch beschwerte sich die dort stehende Viertelnote darüber, daß sie die Achtelnote nicht leiden könne. Sie hüpfte einen halben Takt weiter vor, und Achim mußte sich eine andere Note suchen, die sich mit der Achtelnote vertrug. Indessen kündigte der G-Schlüssel am Anfang der Partitur an, daß er noch andere Termine hätte und zog kurzerhand in Begleitung mehrerer halber und ganzer Noten ab. »Das könnt ihr doch nicht machen!« schrie Achim. »Ihr zerstört die ganze Musik!« Aber seine Worte formten sich zu Notenköpfen und -hälsen, die sich in vollkommen wirrer Art und Weise auf den Linien zusammensetzten. Achim las die Melodie, die sich mittlerweile auf dem Blatt ergeben hatte, konnte aber keine Struktur darin erkennen. »Vielleicht muß ich dieses D zuerst um zwei Halbtöne transponieren«, dachte er und streckte die Hand nach der punktierten Viertelnote aus, doch als er sie erreicht hatte, biß sie ihn in den Finger.

Achim schreckte von seinem Lager hoch. Eine wilde Katze, offenbar durch die Bewegungen angelockt, hatte sich in seinen Finger verbissen, ließ aber sofort los als sie merkte, daß an ihrer Beute noch etwas Größeres dranhing. Er sah gerade noch, wie sie blitzschnell im dichten Unterholz des kleinen Wäldchens verschwand. Kopfschüttelnd richtete er sich auf. Die Sonne kitzelte seine Nase, während sie ihre frühen Strahlen über die Ebene schickte. Die anderen schliefen, wie es aussah, noch tief und fest; also beschloß er, einen kleinen Spaziergang zu machen, um ein wenig nachzudenken.

Tharas hatte davon gesprochen, daß sie die Quelle der Dissonanzen auslöschen sollten, mit Hilfe gegensätzlicher Energie. Welcher Art die Energie sein sollte, hatte er nicht näher erläutert. »Ich bin sicher, ihr werdet es herausfinden«, hatte er gesagt. »Eure Gruppe hat alle Voraussetzungen, diese Aufgabe zu meistern.« Schön und gut, aber welche Voraussetzungen - und wofür? Sein Blick wanderte zu den noch immer recht weit entfernten Bergen hinüber. Die Wolkenformation war näher gerückt, oder bildete er sich das nur ein? Nein, er war sicher, daß sie am gestrigen Abend noch nicht so nahe gewesen war. Bedrohlich hing sie über den Gipfeln des Grenzgebirges, wie ein dunkler Vorhang, der im Laufe der Zeit alles bedecken wollte. Düstere Gedanken formten sich in ihm zu einer unheilvollen Melodie, die er aber kurz entschlossen aus seinem Kopf verbannte. Mit Freuden stellte er fest, daß sie nicht mehr wiederkam.

Nachdem Achim seine Begleiter geweckt hatte, frühstückten sie kurz und machten sich bald darauf auf den weiteren Weg in Richtung Westen. Da es unterwegs außer Bäumen, Sträuchern und schmalen Bächen nur wenig zu sehen gab, erzählten sie sich gegenseitig voneinander, um die Zeit zu verbringen. Einmal sahen sie einen Vogel, der wie ein Bussard im Himmel schwebte, als suche er nach Beute. Ob es tatsächlich ein Bussard war, stand nicht fest, da es in dieser Welt wohl auch ganz andere Tiere geben mochte. Plötzlich ließ sich der Vogel fallen, schlug auf dem Boden auf und hob ein paar Sekunden später wieder ab, um in einem kleinen Wäldchen weiter voraus zu verschwinden.

Die Landschaft, die sie durchwanderten, wurde zunehmend offener. Während sie am ersten Tag mehr durch Wälder gegangen waren, überquerten sie nun weite Wiesen und Stoppelgraslandschaften, die nach und nach immer größer wurden. Am zweiten Tag rasteten sie mitten auf einer solchen Fläche, da der nächste Wald mindestens drei oder vier Wegstunden weiter voraus lag. Gegen Abend hatten sie dann diesen Wald erreicht, und weiter in seinem Schatten schlugen sie ihr Nachtlager auf, wagten aber nicht, auf dem trockenen Waldboden ein Feuer zu entfachen. Daher wickelten sie sich in ihre Decken, wünschten sich gegenseitig eine gute Nacht und ruhten ihre Glieder für den nächsten Tag ihrer Wanderung aus.

So vergingen einige Tage, in denen sie dem Grenzgebirge immer näher kamen. Schon bald trennte sie nur noch eine weite Steppe von den ersten steinigen Ausläufern der hohen Berge. Die Wolkenformation, die sich vorher noch über den Gipfeln befunden hatte, war nun seit zwei Tagen über ihnen und verhüllte den Himmel. Die wärmenden Sonnenstrahlen kamen nur sehr schwach durch, rauhe Winde ließen sie frösteln. Die Musik, die aus dem Land des Verlorenen Volkes kam, war nun verstummt, eine düstere Spannung lag statt dessen in der Luft. Achim schreckte in der Nacht mehrmals schweißgebadet aus schlechten Träumen auf, und am Tage dann fielen ihm beim Gehen fast die Augen zu. Doch letztendlich erreichten sie eines frühen Abends das Gebirge, eine riesige Masse aus Gestein, himmelhoch aufgetürmt und düster wie die Wolken darüber.

Lange standen sie vor dem felsigen Hindernis und blickten hinauf. Vor elf Tagen hatten sie die kleine Stadt verlassen, diese Zeit hatte an den meisten von ihnen ihre Wirkung hinterlassen. Bei Jochen war es am wenigsten zu bemerken, er war gut in Form. Roland war die Erschöpfung allerdings sehr klar anzusehen. Seine Stirn war trotz der kühlen Luft mit Schweißperlen bedeckt, und sein Gesicht war rot angelaufen. Katrin war auch ziemlich am Ende ihrer Kräfte, sie stützte sich haltsuchend an Rolands Schulter ab. Sylvia ging es noch verhältnismäßig gut, ihr Atem ging zwar auch schwer, aber sie schien nicht ganz so geschafft wie Katrin zu sein Ihr Blick wanderte allerdings immer wieder nach oben, wo sich die Wolken zu einer beinahe starren Masse zusammengezogen hatten. Achim war ebenfalls ziemlich fertig, aber ihn belastete weniger die körperliche Anstrengung als der fehlende Schlaf.

»Sollen wir heute noch hinaufsteigen?« fragte Jochen und blickte sich in der kleinen Runde um.

»Aber nur, wenn du mich trägst«, meinte Roland. »Ich gehe heute keinen Meter mehr. Wir sollten bis morgen früh damit warten.«

Der Rest der Gruppe nickte zustimmend, also bereiteten sie sich hier auf eine Ruhepause vor. Der Boden war hier besser für ein Feuer geeignet. Jochen ging zurück und suchte auf der Wiese nach brennbarem Material für die Nacht, während die anderen ihre Decken um die geplante Feuerstelle herum ausbreiteten. Wenig später knisterten niedrige Flammen, die ein wenig verzweifelte Wärme zu den fünf Gefährten ausstrahlten.

Achim erwachte mit dem schlimmsten Muskelkater, den er jemals gehabt hatte. Seine Beine waren schwer wie die Felsen um ihn herum, in seiner Seite pochte ein stetiger Schmerz, der um so stärker wurde, je mehr er sich bewegte. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt aufstehen konnte. Nach den Geräuschen zu urteilen die er hörte, erging es zumindest Roland und Katrin kaum anders. Ein spartanisches Frühstück aus den mittlerweile stark reduzierten Vorräten war schnell verzehrt, dann drängte Jochen zum Aufbruch.

Wie es sich herausstellte war Achim tatsächlich noch fähig, auf die Füße zu kommen, und nachdem er einmal stand, erwies sich das Laufen noch als erträglich, allerdings nur mit zusammengebissenen Zähnen und einer großen Portion Selbstbeherrschung. Dann stiegen sie den Berg hinauf, folgten einem mehr oder weniger sicheren Weg, den Jochen voraus auskundschaftete. Hier und da kletterten sie über loses Geröll, das klappernd hinunterfiel; an anderen Stellen mußten sie eineinhalb Meter hohe Felsen überwinden, damit sie weiterkamen. Stück für Stück erklommen sie den ersten Paß des Gebirges, wie viele noch folgen würden wußten sie nicht.

Die Sonne, die sie hinter den Wolken nur schwach erkennen konnten, stand schon hoch am Himmel, als der schier endlose Anstieg vorerst zuende ging. Das Gelände führte weniger Bergauf, hier und da fiel es sogar ein paar Meter ab. Sie waren in einer Art Schlucht angekommen, rechts und links ragten ziemlich hohe Felswände auf die zwar sehr steil waren, trotzdem nicht unbezwingbar erschienen. Der Einschnitt zwischen diesen beiden Wänden war jedoch noch einfacher zu begehen, barg aber das Risiko, eingesperrt zu sein. In der körperlichen Verfassung, in der sie im Augenblick waren, gab es allerdings nicht viel zu überlegen. Sie setzten ihren Weg entlang der Schlucht fort, zumindest führte sie in die richtige Richtung.

Gegen Abend hatten sie das Ende des Einschnittes erreicht. Hier stieg der Weg wieder an, um sich weiter oben mit den Wänden der Schlucht zu treffen. Ein riesiger Geröllhaufen war das, was man mit viel gutem Willen als den Weg bezeichnen konnte, den sie jetzt gehen mußten. Also schleppten sie sich weiter, um das Ende der Schlucht vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.

Oben angekommen erkannten sie, wie beschwerlich der nächste Tag werden würde. Hier war der einfache Teil des Weges zuende, ab jetzt bestimmten große Felsen, steile Anstiege und eine Menge loses Gestein das Bild des Berges. Zurückblickend konnten sie die Ebene sehen, die sie zuvor überquert hatten. Die Wälder und Grasflächen erschienen im düsteren Licht der beginnenden Nacht klein und unwirklich, die Entfernungen lächerlich; aber sie wußten wie weit die Strecke war, sie hatten sie schließlich selbst zurückgelegt.

Am Morgen wurden sie ziemlich unsanft geweckt. Eine Horde merkwürdiger Pelztiere, etwa so groß wie Kaninchen, raste mitten durch ihr Lager hindurch und nahm dabei keine Rücksicht darauf, was ihr im Weg lag. Bis die Gefährten endlich aufgestanden und aus der Gefahrenzone heraus waren, hatte Roland einen Kratzer im Gesicht, und Sylvia blutete aus mehreren parallelen Wunden, die sie auf ihrem rechten Oberarm abbekommen hatte. Es waren ziemlich viele dieser Geschöpfe, mindestens drei Dutzend. Sie rannten in wilder Geschwindigkeit an ihnen vorbei und verschwanden den Geröllhaufen hinunter in der Schlucht. Wenig später waren sie fort.

»Was war das?« fragte Katrin, die jetzt so nach und nach richtig wach wurde.

»Wer weiß«, gab Roland zurück und befühlte den Kratzer auf seiner linken Wange. »Jedenfalls hatten sie scharfe Krallen.«

Achim blickte den Tieren nachdenklich hinterher. »Was mag sie wohl so erschreckt haben?«

Jochen zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war etwas hinter ihnen her, ein größeres Raubtier oder so was. Vielleicht aber auch nicht. Wir sollten jedenfalls jetzt losgehen, wo wir schon mal wach sind.«

»Und wenn dieses größere Wesen immer noch auf der Spur dieser - dieser Dinger ist?« fragte Sylvia. »Womöglich kommt es genauso hierher. Ich meine, was sollen wir dann machen?«

»Ich habe nur vermutet, daß es so sein könnte«, versuchte Jochen seine Freundin zu beruhigen. »Es muß ja nicht wirklich so sein. Es ist ja auch möglich, daß diese Tiere immer einen solchen Aufstand machen. Wir kennen uns hier ja nicht aus. Also mach dich nicht verrückt, wenn es kein Grund dafür gibt. Wir müssen einfach ein bißchen vorsichtig sein.«

Sylvia sagte nichts mehr, aber sie hielt sich an Jochens Seite, während sie schließlich losgingen. Durch den morgendlichen Aufruhr gewarnt blickten sie sich regelmäßig nach allen Seiten um, ob nicht vielleicht doch dieses imaginäre Raubtier auftauchen würde. Unterwegs hielten sie Ausschau nach einer Möglichkeit, ihre nun fast aufgebrauchten Wasserreserven aufzufüllen.

Sie waren nun schon mehr als zwei Stunden gegangen, und der Pfad stieg immer noch an. Weiter oben war das Ende dieser Felswand zu erkennen, aber bis dahin war es noch ein ziemliches Stück Weg. Jochen führte die kleine Gruppe mit Sylvia an seiner Seite an, danach kamen Katrin und Roland. Achim bildete die Nachhut. Sie kamen recht gut voran, ihre letzte Lagerstelle war nur noch schwach weit unter ihnen zu erkennen. Sie kletterten noch eine Weile bergauf, bis endlich ein Nachlassen der Steigung spürbar war. Leider wurde dieses freudige Ereignis schon bald überschattet.

Achim vernahm das Knurren nur einen Moment bevor Jochen seinen Warnruf ausstieß. Er drängte die anderen zurück, während das schwarz-rot gestreifte Tier sich vor ihnen aufbaute. Es hatte etwa die Größe eines Rottweilers, aber vier mächtige Pranken, deren Krallen lang und scharf aussahen. »Zurück!« rief Jochen den anderen zu. »Bleibt hinten, vielleicht können wir noch weg!«

Dafür war es jedoch bereits zu spät. Ein Augenblick verging, bis das Wesen auf sie zurannte. Mit einem lauten Knurren warf es sich Jochen entgegen, riß ihn zu Boden. Er schrie auf, als es ihm mit seinen Krallen die Schulter aufriß. Jochens Faust schnellte vor und traf das Tier mitten auf der Schnauze. Einen Moment lang war es betäubt, und Jochen versuchte, unter dem Körper herauszukommen, doch bald schon hatte es sich wieder erholt und war nur noch wilder geworden.

»Jochen! Scheiße! Bitte, Jochen!« Sylvia rannen Tränen über die Wangen, jedoch sperrte ihre Angst sie dagegen, etwas zu unternehmen. »Mein Gott, es wird ihn umbringen!«

Plötzlich kam ein tennisballgroßer Stein von hinten angeflogen und traf das Wesen an der Stirn. Es ließ von Jochen ab und sprang ein Stück zurück, wobei es heftig den Kopf schüttelte. Ein weiterer Stein prallte an seiner Seite ab. »Na los, du verdammtes Miststück!« Katrin kam nach vorne, mit ein paar weiteren Steinen beladen. Einen davon schleuderte sie jetzt zielsicher dem Tier vor einen Vorderlauf. »Verschwinde, aber schnell, bevor ich richtig wütend werde!« Sie ging weiter auf das Geschöpf zu und warf einen Stein nach dem anderen. Zuerst sah es so aus, als wartete das Wesen ab um anzugreifen, doch als Katrin auf etwa vier Meter herangekommen war, drehte es sich plötzlich um und verschwand so schnell, wie es gekommen war.

Sofort war Sylvia bei Jochen, der immer noch auf dem Boden lag und ergriff seine Hand. »Es tut mir leid«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Es tut mir leid, ich konnte nicht, ich konnte nicht...« Sie umarmte ihren Freund.

»Ist schon gut, Sylvi. Ist schon gut.« Er richtete sich mühsam auf. »Es ist ja noch mal gut gegangen. Mir ist nichts passiert. Beruhige dich, du sperrst mir ja die Luft ab.«

»Es ist weg«, berichtete Roland, der nach oben gegangen war. »Es hat sich wohl zwischen die Felsen zurückgezogen. Hoffentlich macht es in Zukunft einen Bogen um uns.«

»Hoffentlich, ja«, sagte Achim. »Das nächste Mal könnte es nicht so glimpflich ausgehen.«

Jochen hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt. »Das stimmt. Ich hab' nur was an der Schulter abgekriegt. Brennt ziemlich, aber es hätte schlimmer sein können. Katrin, das war ganz große Klasse. Ich schulde dir was.«

»Schon vergessen«, sagte sie und warf die restlichen Steine fort, die sie noch trug. »Diese Bestie hatte wohl nicht damit gerechnet, daß wir uns wehren würden. Das wird sie Respekt lehren.«

»Oder Vorsicht«, warnte Roland. »Vielleicht wird es später besser auf der Hut sein.«

»Es kommt so schnell nicht wieder, glaube ich«, sagte Katrin. »Es gibt mit Sicherheit leichtere Beute, so wie diese Pelzviecher von heute morgen. Die werfen ganz bestimmt nicht mit Steinen.«

»Wollen wir hoffen, daß du recht hast«, sagte Jochen. »Wir sollten weitergehen, solange es sich verkrochen hat.«

Mit düsteren Ahnungen setzten sie ihre Wanderung fort. Achim hatte jetzt die Führung übernommen. Jochen ging mit Sylvia an der Hand hinter ihm her. Seine Freundin hatte ihm die stark blutende Schulter mit einem Streifen ihrer Kleidung verbunden. Jochen verspürte zwar weiterhin Schmerzen, aber wenigstens konnte der tiefe Kratzer nun abheilen. Er hinkte ein wenig, da er sich bei seinem Sturz den Knöchel angeschlagen hatte, doch diese leichtere Verletzung würde wohl mit der Zeit verschwinden. Roland hielt seinen Arm um Katrin gelegt. Nach dem vergangenen Ereignis konnte er nicht umhin, sie immer wieder mit neuer Bewunderung anzusehen. Er hatte zwar gewußt, daß sie gelegentlich ein Aufbrausen ihres Temperamentes zeigen konnte, aber daß sie so weit gehen würde hätte er niemals vermutet. Es steckte wohl viel mehr in diesem unscheinbaren Mädchen, als er gedacht hatte. Dabei war sie ihm immer so schüchtern vorgekommen, besonders an dem Tag, als er sie das erste Mal zum Essen eingeladen hatte. Sie war für ihn etwas unberechenbarer geworden, und er fand das ziemlich interessant.

Weniger interessant zeigte sich ihre Umgebung in den nächsten Stunden. Überall Steine und Felsen, Felsen und Steine, nichts außer Geröll und größeren Brocken, die umgangen werden mußten. Die Steigung war beinahe unmerklich geworden, vielleicht hatten sie sich aber auch an den Aufstieg gewöhnt und spürten leichte Hügel nicht mehr. Zumindest konnten sie ihren Weg voraus bis auf etwa fünfzig Meter klar überblicken. Wenn dieses Katzentier also wieder auftauchen sollte, wären sie recht früh gewarnt. Ob sie das nun zu ihrem Vorteil nutzen konnten, blieb dahingestellt, aber es vermittelte wenigstens ein besseres Gefühl. Sie behielten bis zum Mittag eine gemütliche Reisegeschwindigkeit bei, bis sie auf einer beinahe ebenen Geröllfläche Halt machten. Hier waren ihre Wasservorräte endgültig aufgebraucht, zumal sie eine ganze Menge des kostbaren Gutes am Morgen verwendet hatten, um Jochens Schulter zu säubern. Langsam begannen sie sich zu sorgen, ob sie den Berg noch rechtzeitig überqueren konnten. Rechts und links von ihrem Lagerplatz erhoben sich die höheren Gipfel des Grenzgebirges, deren Spitzen in die dunklen Wolken einstachen. Achim mochte sich irren, jedenfalls glaubte er, wieder Musik zu hören, leise im Hintergrund, zu filigran, um sich sicher zu sein. Dann mußte er an seinen Traum denken. Beißende Viertelnoten, dazu noch punktierte! So 'n Blödsinn. Die Vorstellung von diesem Bild brachte ihn zum Lachen, ein ungewöhnliches Geräusch inmitten dieser unwirtlichen Gegend. Die anderen versuchten, den Grund seines Gelächters ausfindig zu machen, aber Achim sagte nur, er erinnere sich an einen Traum. Die Einzelheiten behielt er für sich, als sein kleines Geheimnis.

Die Überquerung des Gerölls ging weiter. Vor sich konnten sie in einigen hundert Metern Entfernung das Ende dieses Abschnittes erkennen, wo der Weg wieder abfiel. Achim, der vorausging, sah als erster das beeindruckende Panorama der Landschaft jenseits der Berge. Er stürmte davon. »Los, kommt! Das müßt ihr euch ansehen! Wir sind drüben, wir haben's geschafft!«

Die anderen folgten ihm begeistert. Auch sie konnten bald schon auf das Gebiet hinabblicken, das sie erreichen wollten. Ein schmales Rinnsal entsprang hier und floß murmelnd in das Tal hinab. Der Abstieg war zwar noch weit, aber mit dem Ziel vor Augen erschienen die Entfernungen nur noch halb so groß. Sie stillten ihren Durst an dem klaren, kalten Wasser und füllten ihre Vorräte wieder auf. Keiner von ihnen wollte jetzt eine Pause einlegen, alle waren bereit, diese letzte Etappe bis zum Einbruch der Dunkelheit hinter sich zu bringen.

Sie folgten dem Bach bergab. Je tiefer sie kamen, desto genauer konnten sie das Land unter sich erkennen. Bald schon wurde offensichtlich, daß das Gebiet nicht so schön und sauber war, wie sie es von oben herab vermutet hatten. Das Gras war zwar an den meisten Stellen noch grün, aber es wurden zunehmend braune Flecken sichtbar, die sich zwischen den gesunden Halmen ausbreiteten. Die wenigen Bäume die nahe genug standen, um betrachtet zu werden, zeigten weißliche Verfärbungen an vielen Blättern, Ästen und der Rinde. Der Bach selbst, der hier fast schon einen Meter breit war, floß immer noch ungetrübt dahin, es konnte also nicht am Wasser liegen. Achim vermutete, daß die Wolken und diese unheilvolle Musik für den schleichenden Verfall des Landes verantwortlich waren. Man konnte immer noch erahnen, wie das einstige Reich des Verlorenen Volkes damals ausgesehen hatte, aber es würde, wie Tharas gesagt hatte, nicht mehr lange dauern, bis alles unwiederbringlich dahin war. Die Notwendigkeit ihres Auftrages wurde ihnen nun um so deutlicher bewußt, je mehr sie sahen. Plötzlich war die Lust verschwunden, den Weg schnellstmöglich zurückzulegen. Die traurige Atmosphäre des Zerfalls zehrte an ihren Kräften.

Es war ihm kaum aufgefallen, aber die Musik, die Achim bereits zuvor wahrgenommen hatte, klang nun sehr deutlich in der Luft. Wirre dumpfe Melodien, Unglück prophezeiende Klänge verwoben sich zu einem dunklen Gefüge, das sich wie ein schwarzes Spinnennetz über das Land legte, um es mit seinen klebrigen Stricken zu umschlingen und schließlich qualvoll auszusaugen. Achim wand sich innerlich, um seine Gefühle im Zaum zu halten. Hoffentlich mußten sie nicht mehr so lange hier bleiben. Nur ihre Aufgabe erledigen und fort von hier. Er drängte die anderen vorwärts, trotz seiner beginnenden Erschöpfung.

Einige Zeit später ließ Jochen die Gruppe anhalten. »Wartet mal, ich höre da was.« Alle standen still und lauschten. Leise waren Geräusche von weiter unten zu hören. Ein Mensch rief um Hilfe, kein Zweifel. Vorsichtig setzten sie den Abstieg fort, nach allen Seiten hielten sie Ausschau nach dem Ursprung der Laute.

Bald schon sahen sie den bedauernswerten Kerl, der inmitten einer Horde dieser merkwürdigen Pelztiere stand, die sie am Morgen so überraschend geweckt hatten. Hilflos wandte er sich nach allen Seiten um, schubste hier eines der Tiere von sich weg, während sich dort ein anderes an seinem Oberschenkel zu schaffen machte. Die Hose hing zerfetzt an seinen Beinen, aber er war nicht verletzt worden, soweit sie sehen konnten. Alles in allem war dieser Anblick recht amüsant, jedenfalls, wenn man nur zusah und nicht selbst mittendrin stand. Nach einem kurzen Blick in die Runde ging Achim auf das Gewimmel zu. »Ksch! Ksch! Weg! Laßt ihn in Ruhe!« rief er und wedelte mit den Armen. Die anderen kamen hinterher, was die Tiere dazu brachte, in heller Panik davonzuhetzen.

Überrascht und erleichtert drehte sich der Mann zu ihnen um. Sofort sahen sie, daß er kein Mensch war, jedenfalls sah sein Gesicht ziemlich merkwürdig aus. Es erinnerte mehr an einen Löwen, eine große Nase saß knapp unterhalb zweier bernsteinfarbener Augen mit Schlitzpupillen, der Mund war breit, eben der eines Raubtiers, doch ohne die gefährlichen Fangzähne, wie sie bei seinem Grinsen bemerkten. Als er jedoch sprach, klang er wie ein Mensch, von einem kurzen knurrenden Laut beim Einatmen abgesehen. »Meine Güte, ich muß schon sagen - grrr - vielen Dank, Freunde. Diese Biester können einem ganz schön zusetzen. Es ist aber auch zu dumm, daß ich mein Messer - grrr - nicht dabei hatte, sonst hätte es heute - grrr - abend ein Festessen gegeben.«

»Kann man diese Dinger den essen?« fragte Sylvia.

»Natürlich doch«, antwortete der Mann mit dem Löwengesicht. »Ihr seid wohl nicht von hier, was?« Er wischte sich seine ohnehin beinahe nutzlosen Hosen ab und kam zu ihnen herüber. »Keji ist mein Name. Wanderer - grrr -, Reisender und absoluter Kenner der näheren und weiteren Umgebung.«

Achim wollte ihn begrüßen, aber Jochen hielt ihn zurück. »He, was soll das?« fragte er leise. »Du bist wohl verrückt geworden.«

»Wieso denn? Er hat doch nichts getan.«

»Aber wer weiß, was er jetzt vorhat. Vielleicht sieht er in uns nur eine leichte Beute. Sieh ihn dir doch nur mal an! Ich traue ihm nicht über den Weg.«

»Aber ich«, sagte Roland, der neben den beiden stand. »Nur weil er nicht so aussieht wie wir muß er noch lange keine schlechten Absichten haben.« Er wandte sich dem Fremden zu. »Ich bin Roland.« Damit streckte er seine Hand aus. Keji starrte Roland an und blickte dann auf die Hand. »Ähm, das ist eine Art der Begrüßung bei uns«, erklärte Roland. »Wir schütteln uns die Hände. Na los, Keji.«

Jochen starrte die beiden ungläubig an. Der Löwenmensch zögerte noch einen Augenblick, hob aber dann seine Hand und bewegte sie auf Roland zu. Wie auch alles andere an ihm war sie von einem dichten kurzen Fell hellbrauner Färbung bedeckt. Die Fingernägel waren lang und kräftig, aber keine Krallen. Unsicher verharrte er und blickte seinen Gegenüber an. Roland ergriff Kejis Hand, drückte sie leicht und schüttelte sie. »Roland.«

Ein Grinsen zog sich über das Löwengesicht. »Keji.«

Nacheinander stellten sich die anderen dem Fremden vor. Begeistert führte er die eben neu gelernte Begrüßungszeremonie durch. »Ihr habt eine merkwürdige Sitte - grrr - das muß ich schon sagen. Bei uns Liari - grrr - haben wir einen anderen Brauch.«

»Wie sieht der denn aus?« fragte Sylvia neugierig. Dieser Löwenmensch war in seinem kindlichen Eifer wirklich interessant zu beobachten. Jochen verfolgte die Szene mit zusammengezogenen Augenbrauen. Anscheinend war er immer noch nicht von den friedlichen Absichten Kejis überzeugt. Mißtrauisch beobachtete er ihn, während der Fremde seine Erklärungen abgab.

»Bei uns begrüßen sich die Liari so:« Damit stieß er einen kleinen Schrei aus, eine Art Heulen, aber leiser und ziemlich schrill. »Dann verbeugen wir uns«, ergänzte er und begleitete seine Erklärung mit der entsprechenden Geste.

»Auch nicht schlecht«, meinte Roland. »Na gut, Keji. Auuuh!« Dann verbeugte er sich, so wie er es bei dem Fremden gesehen hatte. Sylvia machte mit und kurz darauf auch Katrin und Achim. Jochen blieb etwas weiter entfernt und sagte nichts. Auch als sie Keji fragten, ob er mit ihnen gehen wollte, hielt er sich zurück. Er beschloß, den merkwürdigen Kerl im Auge zu behalten, falls doch noch was geschehen sollte.

»Wohin - grrr - wollt ihr eigentlich?«

Achim zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir haben einen Auftrag, aber niemand konnte uns sagen, wo wir beginnen sollen. Wir kommen von der anderen Seite des Gebirges.«

»So so, das Gebiet kenne ich sehr gut. Wunderschönes Land das, ich muß schon sagen. Grrr - es hat hier auch mal so ausgesehen, bevor die Dunkelheit kam. Alles stirbt langsam - grrr. Schätze, bei euch da drüben sieht es bald auch nicht anders aus.«

»Genau das sollen wir verhindern«, erklärte Sylvia. »Wir müssen etwas gegen diese Wolken unternehmen. Das Einhorn wird sonst sterben müssen.«

»Alle werden sterben«, ergänzte Achim. »Diese Wolken, sie werden von einer Melodie erzeugt. Sie ist hier überall um uns herum. Wir müssen ihren Ursprung finden und sie verstummen lassen. Keji, du sagst, du kennst dich hier gut aus. Weißt du, wo die Klänge ausgesendet werden?«

»Von Musik habe ich zwar nicht - grrr - viel Ahnung, aber ich kann mir eigentlich nur einen Ort vorstellen, an dem so was - grrr - möglich ist, ohne daß ich davon weiß.«

»Kannst du uns dorthin führen?«

Keji nickte. »Unten am Fuße des Berges - grrr -, dort gibt es einige riesige Höhlensysteme, die ich nicht erforscht habe. Schon alleine wenn man hineinwill - grrr - hat man ein Gefühl, als wären tausend böse Kreaturen hinter einem. Wächter stehen dort - grrr - und glotzen dich mit ihren toten weißen Augen an. Ich wette, die bringen jeden um, der - grrr - hineinwill.«

»Na das sind ja schöne Aussichten«, meinte Katrin.

»Seid ihr sicher, daß ihr das wagen wollt?« fragte Roland. »Wenn die Höhlen wirklich so streng bewacht werden, wie sollen wir dann da hineinkommen? Eigentlich habe ich kein großes Verlangen danach, hier abgemurkst zu werden.«

»Vielleicht gibt es noch einen anderen Eingang«, überlegte Sylvia. »Einen, der nicht bewacht wird.«

Keji schüttelte seinen Löwenkopf. »Nicht, daß ich wüßte. Grrr - aber wir sind immerhin sechs, die Wachen meist nur zu zweit. Ich schätze - grrr -, wir könnten sie überwältigen.«

»Langsam reicht's mir aber.« Jochen wandte sich wütend zu den anderen um. »Anscheinend seid ihr wohl alle zusammen wild darauf, euer Leben für etwas wegzuwerfen, das ihr vor ein paar Tagen nicht einmal gekannt habt. Was habt ihr eigentlich in euren Schädeln? Man muß doch schon wahnsinnig sein, sich auf so was einzulassen. Aber als wenn das noch nicht genug Mist auf einem Haufen wäre, jetzt geht ihr auch schon so weit, einen dahergelaufenen Fremden alles anzuvertrauen! Oh nein, nicht nur! Er soll uns sogar führen! Ich wette, diese Höhlen, bewacht oder auch nicht, werden eine Menge Tunnel und Verzweigungen haben, für die man alleine schon einen Stadtplan brauchen würde. Es wäre doch ein Leichtes, uns dort sitzenzulassen, wenn das auch nur die angenehmste Möglichkeit von vielen ist, die ich mir sonst noch ausdenken könnte.« Er hielt inne und holte tief Luft. »Was ich eigentlich sagen wollte: Wir sollten nicht mit rosa Brillen rumlaufen und glauben, es kommt schon alles in Ordnung. Das Vieh von heute vormittag hat uns, mir jedenfalls, doch eigentlich ziemlich genau vor Augen gehalten, daß wir hier keineswegs sicher sind.«

Roland war nun ebenfalls sauer geworden. »Zuerst einmal habe ich, wie schon gesagt, keine Lust, hier abzukratzen. Ich hänge mindestens genauso an meinem Leben wie du oder die anderen. Aber irgendwo habe ich noch ein anderes Gefühl, das mir sagt: Hey, ich kann etwas für andere tun, ich werde gebraucht. Gut, die Sache ist nicht ohne Risiko, aber das Leben eines ganzen Volkes hängt davon ab. Wenn wir die einzigen Menschen sind, die helfen können, dann ist es unsere Pflicht. Was Keji angeht, warum sollte er uns schaden wollen? Er ist sicherlich auch kaum begeistert von der Veränderung, die in den Ländern vorgeht. Es wird für alle nur schlimmer werden, wenn wir uns nicht langsam aufraffen, die Sache ein für allemal zu erledigen. Dazu gehört wohl auch, daß wir jemandem vertrauen müssen.«

»Wer sagt eigentlich, daß wir die einzigen sogenannten Retter sind? Wer weiß denn, wie viele schon hier waren, oder wie viele noch zur Verfügung stehen, wenn wir es nicht schaffen? Ich brauche euch doch wohl kaum zu erklären was geschieht, wenn wir der Aufgabe nicht gewachsen sind. Ich kann mir nicht denken, daß wir so einzigartig sein sollen.«

»Darf ich...« Keji hob schüchtern eine Hand. Roland nickte ihm zu. »Danke. Ich möchte euch etwas sagen. Ich bin weit herumgekommen - grrr -, habe so manches gehört. Die Wolken sind erst seit wenigen Wochen da. Grrr - ihr seid, soweit ich weiß, die ersten, die dagegen ankämpfen. Die Menschen auf der anderen Seite des Gebirges haben eine lange Zeit dazu gebraucht - grrr -, euch hierher zu bringen. Für eine weitere Aktion dieser Art - grrr - reicht die Zeit wohl nicht mehr aus. Deshalb denke ich, seid ihr - grrr - diejenigen, von denen hier alles abhängt.«

»Gut gebrüllt, Löwe«, meinte Jochen sarkastisch. »Eine tolle Vorstellung.«

Keji zuckte mit den Schultern. »Glaub mir - grrr - oder nicht. Es ändert nichts daran, daß ich recht habe. Ich muß schon sagen, das Land braucht euch.«

»Schön. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man so begehrt ist. Gehen wir also und tragen unsere Körper zum Schlachthof. Heil den Zauberern! Unser Leben für das Volk!« Er wandte sich wieder um und begann, den Weg hinabzugehen.

Achim wollte etwas sagen, aber Sylvia hielt ihn zurück. »Er wird es schon noch verstehen«, sagte sie. »Er kann es nur nicht verkraften, daß es Dinge gibt, die sich nicht einfach so erklären lassen.«

Sie folgten ihm schweigend. Keji hielt sich in der Mitte der kleinen Gruppe auf. Er würde ihnen den Weg zu den Höhlen zeigen, aber jetzt war es noch nicht soweit. Im Augenblick begnügte er sich damit, nach allen Seiten Ausschau nach jagbarer Beute zu halten. Gelegentlich hörten sie ihn leise knurren, während seine breite Nase die Luft um sie herum prüfte. Plätschernd floß der Bach neben ihnen hinab. Mittlerweile waren seine Ufer von verrotteten Pflanzen gesäumt, denn der Boden wurde nun weniger steinig. Kleinere Flecken ehemaligen Grüns tauchten zwischen den Felsen auf. Sie kamen nun in die unteren Bereiche des Gebirges. Die Landschaft um sie herum begann sich zu wandeln, näherte sich immer mehr dem Aussehen des Gebietes, das noch etwa dreihundert Meter unter ihnen lag. Bei Sonnenuntergang, oder dem, was hier der Sonnenuntergang sein sollte, hatten sie den Abstieg geschafft.

5. Kapitel: Gegensätze

»Giving me hope of deliverance
From the darkness that surrounds us.«
(Paul McCartney: »Hope of Deliverance«)

Sie hatten es Keji zu verdanken, daß sie an diesem Abend ein reichhaltiges Mahl verzehren konnten. Er hatte sich, nachdem sie am Fuße des Gebirges Halt gemacht hatten, auf die Jagd begeben. Jetzt briet ein großes Stück Fleisch über dem Feuer und verbreitete einen herrlichen Geruch. Endlich begann sich die Spannung, die sich in der Gruppe aufgebaut hatte, ein wenig zu legen. Sie waren alle erschöpft, Jochen ebenfalls, wenn er es auch nicht zugeben wollte. Doch im Schein der Flammen und mit der Aussicht auf ein gutes Abendessen, konnten die düsteren Gedanken der letzten Tage endlich einmal ruhen. Das Fleisch schmeckte gut, Keji nannte es Peral, ein Tier ähnlich eines irdischen Hausschweins. Es hatte aber einen etwas anderen Geschmack, es war zarter und weniger fettig. Das Wichtigste war, sie wurden alle satt und konnten sich zufrieden hinlegen.

Jochen blieb lange Zeit wach und beobachtete den Fremden, der es sich auf dem weichen Boden bequem gemacht hatte. Es waren dort oben auf dem Berg so viele Sachen gesagt worden; Vertrauen hin, Vertrauen her, für ihn war die Kontrolle immer noch besser. Keji allerdings schien vor ihnen keine größere Angst zu haben. Dazu bestand aber wohl auch kaum ein Grund. Er war es, der sich hier weit besser auskannte, und sie brauchten ihn. Vielleicht war er nicht so kräftig wie Jochen, aber er kannte bestimmt einige Tricks und Kniffe, die ihn sein Leben in der Wildnis gelehrt hatte. Für ihn war der Fremde ganz klar ein Risiko, das sorgsam überwacht werden mußte. Trotzdem konnte er schließlich nicht verhindern, daß er einschlief.

Am Morgen, als Jochen wach wurde, war Keji verschwunden. Er sah sich um, seine Gefährten schliefen noch. Langsam stand er auf, um die Umgebung zu erkunden. Vielleicht konnte er den Löwenmenschen irgendwo entdecken. Ein schmaler angedeuteter Pfad führte an der Basis der Berge entlang, überquerte den Bach, der weit oben seine Quelle besaß und schlängelte sich um Findlinge und Bäume herum, wo er schließlich außerhalb des Sichtfeldes geriet. Jochen ging den Weg entlang, seine Sinne erwachten in der frischen Morgenluft. Leichter Nebel teilte sich zu seinen Füßen, während er unterwegs war. Nur wenige Laute drangen zu ihm herüber. Die Blätter der spärlich wachsenden Bäume rauschten sanft im Wind. Er war schon eine gewisse Zeit gegangen, aber immer noch gab es keine Spur von Keji. Schließlich kehrte er um, wenn er nicht rechtzeitig zurück war, würde Sylvia sich Sorgen machen. Auf dem Rückweg klärte sich die Luft mehr und mehr, der Nebel verschwand. Als er wieder im Lager war, sah er Keji, wie er sich über seine Freundin beugte. »He, was machst du da!« rief er. »Laß sie in Ruhe!« Er rannte los und zerrte den überraschten Löwenmenschen von ihr weg.

»Was soll das?« beschwerte sich Keji. »Grrr - laß mich los. Ich muß schon sagen!«

Jochen achtete nicht darauf. »Was willst du von ihr? Los, raus mit der Sprache!« Er hatte den Fremden nun fest im Griff, als ihn von hinten jemand auf die Schulter schlug.

»Jochen! Bist du verrückt! Laß ihn gehen, er wollte uns doch nur wecken!« Roland drängte sich zwischen ihn und Keji. »Krieg dich wieder ein, Mann!« Schließlich ließ Jochen von seinem Opfer ab, beäugte ihn aber immer noch mißtrauisch.

Inzwischen war auch Sylvia von dem Lärm wach geworden. Als sie die Situation erkannte, sprang sie auf. »Langsam glaube ich wirklich, daß du verrückt bist«, sagte sie. »Was hast du dir denn dabei wieder gedacht?«

Jochen zögerte mit seiner Antwort ein wenig: »Ich habe gesehen, wie er über dich gebeugt stand.«

»Wahrscheinlich hast du nicht gesehen, daß wir anderen alle schon wach gewesen sind«, meinte Roland. »Er wollte uns nur sagen, daß wir aufbrechen sollten. Während du nämlich herumgewandert bist, hat er den Weg zu den Höhlen ausgekundschaftet.«

Das Gesicht des jungen Mannes wurde starr. Dann ließ er sich langsam auf dem Boden nieder und schüttelte leicht mit dem Kopf. Sie trauten ihren Augen kaum, als sie eine Träne langsam über seine Wange rinnen sahen. Sylvia setzte sich neben ihm hin, während die anderen für den Aufbruch packten.

Als Keji das Feuer löschte, kam Achim zu ihm hinüber. »Es tut mir leid, er kann sich nicht so schnell an diese Situation gewöhnen. Ich denke, seine Nerven sind mit ihm durchgegangen.«

»Schon in Ordnung«, meinte der Fremde. »Es wird schon werden. Grrr - ich bin ihm nicht böse. Wir Liari werden oft mißverstanden - grrr -, daran sind wir gewöhnt.«

»Es muß aber nicht sein. Das wird nicht mehr vorkommen, ich verspreche es.«

Keji nickte ihm freundschaftlich zu und widmete sich dann der Arbeit, die Asche sorgfältig zu verstreuen. Achim half den anderen, den Rest ihrer Sachen einzusammeln. Wenig später waren sie bereit loszugehen. Keji ging voran, als einziger kannte er das Gelände hier gut genug; hinter ihm gingen Roland und Katrin, gefolgt von Achim. Sylvia hielt sich am Ende der Gruppe an Jochens Seite auf. Er hatte seit dem Vorfall kein Wort mehr gesprochen. Scheinbar konnte er es nicht verkraften, einen solchen Fehler begangen zu haben. Möglicherweise erinnerte er sich auch an den Streit, den sie in seiner Wohnung gehabt hatten. Sylvia machte sich Vorwürfe. Sie hätte ihn nicht so anfauchen dürfen. Es konnte nun einmal nicht jeder alles so akzeptieren, wie es hier auf sie zukam. Jochen stand halt fest in seinem Leben verankert, da war es sicherlich nicht leicht, die Vorstellung eines geregelten Lebens einfach so über Bord zu werfen. Aber er konnte manchmal wirklich stur sein, das hatte sie schon mehr als einmal erlebt. Seine empfindsame Seite, die heute hervorgekommen war, zeigte er nur äußerst selten, meistens, wenn sie alleine waren, oder im Schlafzimmer. Dort war er eigentlich immer so einfühlsam, wie man sich einen Mann nur vorstellen und wünschen konnte. Irgendwie war sie aber auch froh über seine extreme Reaktion, so wußte sie, daß ihm wirklich etwas an ihr lag. Jetzt wollte sie ihm zeigen, daß sie ihn trotz seiner Fehler sehr liebte. Sie blieb an seiner Seite und versuchte, ihm Halt zu geben.

Der Löwenmensch führte sie am Rande des Gebirges entlang, das zu ihrer Rechten lag. Die andere Seite war offenem Gelände zugewandt, das hier und da mit kleinen Büschen und Baumgruppen bestanden war. Die Luft war recht kühl, nichts war mehr von der sommerlichen Wärme der vergangenen Tage zu spüren. Sie wußten, die Kälte war mit den Wolken gekommen, sie raubten dem Land alles Licht und Leben. Bevor sie nicht verschwunden waren, würde es kaum mehr Sommer werden können.

»Wie weit sind die Höhlen entfernt?« fragte Katrin.

Keji blickte weiter nach vorn, als wollte er seinen Weg nicht aus den Augen lassen. »Für mich würde ich sagen - grrr - nur noch eine kurze Strecke. Aber wir Liari können weit schneller laufen als jeder Mensch. Zusammen - grrr - werden wir wohl noch bis zum Mittag brauchen.« Er machte eine kurze Pause, während der er den Kopf in verschiedene Richtungen drehte. »Das heißt, wenn - grrr - wenn nichts dazwischen kommt.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Achim. »Hast du was gesehen?«

Keji schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe ein Gefühl, als wären wir - grrr - nicht mehr lange allein. Ich muß schon sagen, ich habe auch nicht damit gerechnet, ungehindert bis zu den Höhlen zu kommen. Grrr - wir sollten weitergehen, aber haltet die Augen offen.«

So gewarnt setzten sie ihren Weg wachsam fort. Sie bemühten sich, möglichst kein Geräusch zu machen. Eine Spannung machte sich um sie herum bemerkbar, eine Art düstere Vorahnung unbekannten Schreckens. Jeder von ihnen fühlte es auf seine Art; Achim bemerkte die Musik, wie sie dumpfer und bedrohlicher wirkte, als zuvor. Roland spürte es als ein unheimliches Vibrieren der Luft, wie in großer Hitze, wenn die Landschaft in der Entfernung zu flimmern scheint. Sylvia schmerzte der Kopf, wie unter großem Druck. Keji nahm es mit seinem scharfen Geruchssinn auf, die breite Nase war unaufhörlich in Bewegung. Jochen nahm es als weitere Vertiefung in seiner Niedergeschlagenheit wahr. Als Keji schließlich warnend eine Hand hob, schien die Spannung ins Unerträgliche gewachsen zu sein. Sie scharten sich um ihn, und er deutete in die Richtung eines kleinen Wäldchens, etwa zweihundert Meter weiter voraus. Sie verbargen sich hinter einem größeren Findling und beobachteten. Leise waren Stimmen zu hören, sie sangen eine beschwörend klingende Melodie. Hin und wieder blitzte etwas grell zwischen den Blättern der Bäume auf. Dann traten die ersten der Personen aus dem Wald heraus. Sie waren in dunkelblaue Roben gehüllt, Kapuzen verdeckten ihre Gesichter. Die Hände hielten sie in den weiten Ärmeln verborgen, während sie in einer Reihe hintereinander den Wald verließen, um dann in die Richtung zu gehen, in der auch die Höhlen lagen. Plötzlich ein grellweißes Licht. Es blendete ihre an Dämmerung gewöhnten Augen, als es aus dem Wald herauskam. Zwei der Gestalten vor ihnen trugen eine Stange, in deren Mitte die Quelle des Lichtes befestigt war. Achim erkannte einen Kristall, der von der gleichen Art wie der in den Kavernen des Verlorenen Volkes zu sein schien.

»Sie tragen einen weiteren Stein in ihre Höhlen«, flüsterte Achim. »Anscheinend wollen sie die Wirkung der Musik verstärken.«

»Was können wir tun?« fragte Sylvia leise.

»Es wäre glatter Selbstmord, etwas unternehmen zu wollen«, warnte Keji. »Wir haben keine Chance, - grrr - solange wir sie nicht überraschen können. Gegen ihre Zauberkraft können wir nichts ausrichten.«

»Dann warten wir am besten, bis sie weg sind«, schlug Achim vor. »So wie ich das sehe, werden wir noch früh genug mit ihnen zu tun bekommen.«

Also blieben sie, wo sie waren und beobachteten die Prozession, wie sie sich langsam entfernte. Der Kristall glühte zwischen den dunklen Personen wie ein gefallener Stern. Selbst als die Menschen bereits außer Sicht waren, war das Licht des Steines noch immer in der Luft zu erkennen. Schließlich wagten sich die Gefährten wieder aus ihrem Versteck hinaus.

Bald schon führte Keji sie weiter. Lange Zeit wanderten sie schweigend hinter ihm her, während er die Umgebung unablässig mit seinen scharfen Sinnen prüfte. Die Zeit schleppte sich endlos dahin, ihr Weg erschien ihnen unendlich lang. Das Aussehen der Landschaft änderte sich kaum, während sie weitergingen. Hinter jeder Biegung des Weges lag eine weitere, sie schienen überhaupt nicht vorwärts zu kommen.

Dennoch, eine Ewigkeit nach der Begegnung mit der Prozession ließ Keji sie anhalten. Er wies auf einen schmalen Einschnitt im Gebirge, der sich ein kleines Stück vor ihnen befand. Die Wände dieses Weges waren beinahe spiegelglatt, hier war eine machtvolle Kraft am Werk gewesen, um dem Berg ein Stück seiner Felsen so exakt zu entfernen. Wohin dieser Einschnitt führen würde, war von hier aus nicht ersichtlich. Keji wußte allerdings Bescheid. »Das ist der Eingang zu den Höhlen, die ich - grrr - erwähnt hatte. Hier sind wohl auch die Priester von vorhin verschwunden. Aber - grrr - ich sehe keine Wachen.«

»Ist das gut oder schlecht?« fragte Roland.

»Ich muß schon sagen, das weiß ich nicht«, sagte Keji. »Irgendwie - grrr - beides. Einerseits wird es einfacher sein, hineinzukommen, aber andererseits wird es wohl einen guten Grund haben, daß niemand hier ist. Grrr - das gefällt mir gar nicht.«

»Wir müssen hineingehen«, sagte Sylvia. »Es ist die einzige Chance.«

Keji holte tief Luft. »Was sein muß, - grrr - muß sein. Dann ist das wohl unser Abschied, nicht wahr? Ich muß schon sagen, es war eine schöne Zeit mit euch.«

Verblüfft starrte Achim den Löwenmenschen an. »Wieso Abschied? Ich dachte, du wolltest mit uns kommen?«

»Ich habe euch hergeführt, wie ich - grrr - gesagt hatte. Aber weiter möchte ich nicht gehen, ich wäre ja ohnehin nur wenig von Nutzen, da ich mich - grrr - dort auch nicht auskenne. Ich passe auch gar nicht in eure Gruppe hinein. Es ist wirklich besser, ihr geht ohne mich.«

Stumm blickten sie den Liari an. Keiner von ihnen hatte gedacht, daß er sich von ihnen trennen würde. Er war zwar nur ein kleines Stück des Weges mit ihnen gegangen, aber sie hatten sich dennoch sehr schnell an seine Anwesenheit gewöhnt. Jetzt schien ein Teil von ihrem Ganzen abzubröckeln, als er seine Absicht bekanntgegeben hatte. Natürlich hatte er recht; er kannte die Gänge und Höhlen im Berg auch nicht, aber nutzlos war er doch deswegen noch lange nicht. Oder hing es vielleicht mit Jochens Vermutung zusammen, er könne sie in den Tunneln alleine lassen oder ihnen etwas antun?

»Ich will nicht, daß du gehst«, sagte Sylvia. »Wir brauchen dich, auch wenn du das nicht glaubst.«

Traurig schüttelte Keji den Kopf. »Es wäre nicht richtig. Glaubt mir. Ich kann nicht.«

»Ich verstehe dich nicht«, meinte Roland. »Ich wäre gern noch weiter mit dir gereist. Viele Fragen sind offen geblieben. Wer weiß, vielleicht können wir sie ja später noch klären, wenn wir uns wiedersehen. Diese Hoffnung bleibt uns schließlich noch, nicht wahr?«

»Ja. Grrr - ich habe mich sehr gefreut, mit euch zu wandern. Auf Wiedersehen.« Er streckte Roland die Hand entgegen.

»Auf Wiedersehen, Keji«, sagte Roland und schüttelte dem Liari die Hand. »Bis bald. Auuh!«

Sie verabschiedeten sich von ihrem Reisebegleiter, selbst Jochen rang sich dazu durch, dem Fremden die Hand zu geben. »Ich möchte mich entschuldigen. Ich war nicht ganz bei mir.«

»Ich weiß, mein Freund. Nicht jeder - grrr - kann das zugeben, aber es ist wahr.«

Schließlich war alles gesagt, und Keji winkte ihnen noch einmal zum Abschied. Dann wandte er sich unvermittelt um und verschwand mit langen Liari-Schritten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie blickten ihm noch lange Zeit nach, bis sie sich aufrafften und die nächste, vielleicht letzte Etappe ihrer Reise in Angriff nahmen.

Die beinahe vollkommene Dunkelheit machte ihnen zu Beginn des Tunnels ziemlich zu schaffen. Vorsichtig ertasteten sie sich ihren Weg voraus, aber es schien keine Hindernisse zu geben. Der Einschnitt, der den Zugang in den Tunnel bildete, besaß ebenfalls diese glatten Wände, und es schien, als wäre der Eingang nur eine Verlängerung dieses Stollens. Wie es irgendeinem Wesen möglich war, einen solch geraden und glatten Tunnel zu graben, konnten sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sie hielten sich nahe beieinander, um sich nicht in der Finsternis zu verlieren. Dumpf hallten ihre Schritte von den Wänden wider. Hatte bisher nur Achim die Musik ringsherum bemerkt, jetzt hörten sie sie alle klar und deutlich. Gemischt mit der Dunkelheit rief die Melodie in ihnen unangenehme Gedanken wach, deren Bedeutung nicht klar erschien. Unsicher setzten sie einen Fuß vor den anderen. Sylvia sprach es nicht aus, aber sie sehnte sich nach der Gesellschaft von Keji. Er hätte sie bestimmt führen können, auch wenn er das Gangsystem nicht kannte. Sie war sicher, er konnte mit seinen merkwürdigen Bernsteinaugen im Dunkeln sehen, wie eine Katze. Außerdem besaß er einen ausgeprägten Richtungssinn. Sie selbst hatte bereits wenige Minuten, nachdem sie den Tunnel betreten hatten, jede Orientierung verloren.

Sie waren nun schon einige Zeit in der Dunkelheit unterwegs, als sich leiser Gesang in die Musik mischte. Dumpf klangen handgeschlagene Trommeln zu ihnen herüber, die einen fremdartigen Rhythmus spielten. Die Stimmen waren leise, ließen die Musik im Vordergrund, während sie selbst nur begleitende Funktion besaßen. Endlich war weit vor ihnen ein wenig Licht zu sehen, die unheimliche Atmosphäre verlor ein wenig an Bedrohlichkeit. Allerdings bedeutete das, sie mußten sich nun besonders vorsichtig verhalten. Achim wollte wieder die Führung übernehmen, aber Jochen hielt ihn zurück. »Laß mich lieber vorausgehen«, flüsterte er.

Achim überließ ihm den Weg, und die anderen folgten dichtauf. Der Lichtschein wuchs, je näher sie kamen. Es war rötlich-flackerndes Licht, vermutlich von Fackeln, die einen Teil des Tunnelsystems erleuchteten. Immer lauter wurden die Geräusche der singenden Menschen. Jetzt waren außerdem leise unterdrückte Klagelaute zu vernehmen, die in der allgemeinen Geräuschkulisse beinahe untergingen. Sie hatten den Durchgang zum erleuchteten Teil beinahe erreicht, als Jochen ihnen bedeutete, langsamer zu gehen. Vorsichtig näherten sie sich weiter an, bis Jochen behutsam um die Mauerkante lugen konnte.

Er hatte schon eine Menge gesehen, seit Sylvia mit ihrer Geschichte von dem Einhorn angefangen hatte, ein Haufen merkwürdiger und unbegreiflicher Sachen, die ganz und gar nicht in sein Weltbild paßten. Aber dennoch war er nicht auf das gefaßt gewesen, was er hier sah. Sofort zog er seinen Kopf zurück, um nicht entdeckt zu werden. Jochen hielt die anderen zurück. Hinter diesem Portal befand sich eine Art Plattform, die über einem großen Raum angebracht war. Breite Steinstufen führten hinunter, rechts und links durch ein golden glänzendes Geländer eingerahmt. Überall an den Wänden waren Fackeln befestigt, die dem Raum ihr Licht spendeten. In diesem Licht wurden die wirren Zeichnungen an den sonst nackten Wänden sichtbar, Szenen unvorstellbaren Unheils, Kämpfe, schreckliche Monster und Ungeheuer, die sich an Mensch und Tier gütlich taten. Aber diese Bilder waren nur ein Faktor, der Jochens Herz beinahe aussetzen ließ. Bedeutend schlimmer war es, die vielen in Kapuzen gehüllten Personen zu beobachten, die sich unten im Raum befanden. Sie sangen leise Melodien, dumpf und grausam für diejenigen, die zuhörten. Hölzerne Apparaturen waren dort aufgebaut worden, und sie dienten dazu, die nicht unbeträchtliche Menge an gefangenen Menschen zu foltern. Man konnte sie hören, wie sie ihre Klageschreie ausstießen. Die meisten waren nackt oder trugen nur wenige Fetzen aus Stoff an ihren geschundenen Körpern. Anscheinend folgten die Robenträger einer dunklen Zeremonie, welchen Sinn und Zweck sie auch haben mochte. Als einziges war offensichtlich, daß es mit dem weißglühenden Kristall zu tun hatte, der in der Mitte des Saales schwebte. Er war so geformt, wie man sich einen klassischen Edelstein vorstellt: Oben breit, mit einer Menge Facetten, die dann nach unten hin spitz zulaufen. Von ihm strahlten Lichtbogen in alle Richtungen aus, erzeugten helle Reflexe an den Wänden und auf den Leibern der Menschen. Als Jochen wieder in den Raum hineinsah und die Szene in sich aufnahm erkannte er, daß sich die Flecken auf den menschlichen Körpern nicht bewegten. Sie waren der Grund für ihre Schmerzen, das war nun klar. Der Kristall zog aus ihnen seine Energie, die er zur Erzeugung der Melodien benötigte.

»Mein Gott! Das ist ja schrecklich«, flüsterte Sylvia, die sich neben Jochen gestellt hatte. »Das müssen wir aufhalten!«

»Und wie?« fragte Jochen. »Da kommen wir nicht unbemerkt runter, diese Treppe bietet uns soviel Tarnung wie ein Halogenscheinwerfer. Licht aus, Spot an. Hier kommen wir!«

Achim, Katrin und Roland warfen nun ebenfalls erschreckte Blicke auf das, was sich dort unten abspielte. »Vielleicht finden wir einen anderen Weg nach unten«, überlegte Achim. »Dieses Loch dort, es könnte ja sein, daß sich dahinter ein anderer Gang befindet.« Er wies auf einen dunkleren Fleck ein paar Meter weiter. »Wir müssen nur darauf achten, daß sie uns nicht sehen.«

»Ich gehe vor«, bot sich Jochen an. »Wenn wir uns beeilen, können wir es schaffen.« Er duckte sich und lief eilends los. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er die Stelle erreicht, an der ein niedriger Schacht auf die Plattform führte. Er kroch hinein und verschwand für einen Moment außer Sicht. Dann tauchte sein Kopf aus der Öffnung heraus auf, anscheinend ging der Tunnel weiter, denn er winkte ihnen, daß sie ihm folgen sollten. Daraufhin war er auch schon wieder fort. Einer nach dem anderen krochen sie über die Plattform, immer in der Erwartung, Schreie zu hören, weil man sie entdeckt hatte. Doch als Roland als letzter am Schacht ankam, war immer noch nichts geschehen. Sie waren nicht bemerkt worden.

Eine niedrige Röhre, etwa einen halben Meter im Durchmesser, führte sie leicht abwärts. Vorsichtig krochen sie voran, in der Hoffnung, daß sie irgendwo wieder herauskamen. Sylvia dachte daran, daß Achim seinem Gefühl vertrauen wollte, wenn es um die Richtung ging. Dieses Gefühl, hoffte sie, würde ihn schon nicht täuschen. Dies war bestimmt der richtige Weg. Schließlich hatte nie jemand behauptet, daß der richtige Weg der einfachste sein mußte.

Wären sie nur eine Minute später in den kleinen Raum gekommen, sie hätte wirklich an der Wahl des Weges gezweifelt. Jetzt aber standen sie nahe zusammen in einer Art Zelle, deren Boden mit altem feuchtem Stroh bedeckt war. Auch hier hing eine brennende Fackel an der Wand, doch schien sie sich nicht zu verzehren, eine weitere Unglaublichkeit inmitten all dieser Verwirrungen. Ohne zu zögern setzten sie ihren Weg durch die einzige Tür des Raumes fort. Vor ihnen war wieder der Gesang und die Musik zu hören, scheinbar führte dieser Gang ebenfalls in den Saal, diesmal jedoch auf den Boden. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als sie an das dachten, was sie bald sehen würden. Wie sie aber dann weitermachen sollten, war ihnen noch nicht klar.

Das Ende des Ganges kam in Sicht. Hell schien das Licht der vielen Fackeln in den Tunnel herein. Nur wenige Augenblicke noch, und sie würden am Ziel sein. Plötzlich aber betrat eine der verhüllten Gestalten den Gang. Sie erstarrten vor Schreck, doch es war bereits zu spät, sie waren entdeckt. Jochen drängte die anderen zurück, als der Robenträger mit einem Aufschrei eine kleine Armbrust aus den Falten seines Gewandes zog. Er zielte, sein Finger spannte sich um den Abzug. »Nein!« schrie Sylvia. »Jochen! Paß auf!« Sie drängte sich nach vorne und stieß ihren Freund beiseite. Nur Bruchteile einer Sekunde später fraß sich etwas schmerzhaft in ihre Brust. Heiße, pulsierende Wellen aus Qual fluteten durch ihren Körper. Sie wollte schreien, aber nur ein röchelnder Laut verließ ihre vor Schmerz verzerrten Lippen. Jochen fing sie auf, als sie zusammenbrach.

Schreckensstarr blickten die anderen auf Jochen, wie er seine Freundin verzweifelt in den Armen hielt. Rotes Blut verfärbte ihre Kleidung, wo der Bolzen in ihren Körper eingedrungen war. Er hielt sie weinend in seinen starken Armen; nur am Rande bekam er mit, wie sich mehrere der Gestalten um sie sammelten. Das einzige was er sah, war der Körper seiner Freundin, der sich noch vor ein paar Sekunden voller Anmut bewegt hatte.

Achim und die anderen leisteten keinen Widerstand, als sie von den Vermummten weggebracht wurden. Sie wurden in den großen Saal geführt. Von hier unten sah alles noch viel bedrohlicher und hoffnungsloser aus. Jetzt war es aber wahrscheinlich sowieso schon egal, sie hatten ihre Chance vertan. Benommen vor Erschöpfung und Enttäuschung taumelte Achim voran, getrieben durch den rauhen Stoß eines der Robenträger, der hinter ihm ging. Dann stolperte er und fiel zu Boden, kräftige Hände ergriffen ihn und zerrten ihn wieder hoch. Er erblickte das Gesicht des Vermummten - und er sah Keji.

Das erste, was er wieder bei vollem Bewußtsein mitbekam war, daß er an eines dieser Holzgestelle gebunden worden war, er konnte sich nicht bewegen. Dann fiel ihm wieder ein, was er kurz zuvor gesehen hatte. Er konnte nicht glauben, daß Keji sie so verraten hatte. Hatte Roland wirklich so unrecht gehabt als er sagte, das Aussehen einer Person zeige nicht seine Absichten? Doch dann bemerkte er, daß es ganz anders war. Er hatte in das Gesicht eines Liari gesehen, aber es mußte ja nicht Keji selbst gewesen sein. Angestrengt betrachtete er die umhergehenden Robenträger. Eindeutig waren sie alle Liari, deshalb wollte Keji also nicht mitkommen. Eine späte Einsicht, zu spät, um jetzt noch was am Ausgang der Situation zu ändern. Es war alles umsonst gewesen, Jochen hatte recht behalten. Die rosa Brillen hatten sie nicht vor ihrem Schicksal bewahrt. Sylvia war bereits tot, und ihre Stunden waren nun auch an den Fingern einer Hand abzuzählen.

Ungeachtet der Ängste ihrer Opfer führten die Liari ihr Ritual weiter fort. Es schien sogar noch intensiver zu werden, jetzt da sie weitere Gefangene hatten. Der zweite Kristall schwebte dicht neben dem ersten in der Luft, sie drehten sich schnell wie Kreisel um sich selbst auf ihren Spitzen, als wollten sie sich dadurch an ihrem Platz halten. Der Singsang der Robenträger hob wieder an; aus einer Ecke des Raumes kamen mehrere von ihnen, die zwei menschliche Körper trugen. Sie waren an den Hand- und Fußgelenken mit golden glitzernden Fesseln gebunden, doch es war offensichtlich, daß sie sich ohnehin nicht gewehrt hätten. Der Ausdruck im Gesicht des Opfers, das sie von ihrer Position aus erkennen konnten, zeigte völlige Apathie. Die zweite Gestalt wurde von den Körpern der Vermummten verdeckt, doch warum sollte es da anders sein? Wie auf einen stummen Befehl hin wurden aus verschiedenen Richtungen mehrere Holz- und Metallteile herangetragen und in Windeseile zu zwei Gerüsten aufgebaut, die sie unter die beiden Kristalle schoben. Ihre Gefangenen banden sie darauf fest, so daß die Steine über ihnen schwebten. Jetzt konnten sie auch das zweite Opfer erkennen, es war der leblos daliegende Körper ihrer gefallenen Kameradin.

»Sylvia! SYLVIA!« Jochen wand sich in seinen Fesseln, die bereits blutige Striemen an seinen Gelenken hinterlassen hatten. »Ihr verfluchten Hurensöhne! Laßt sie frei! Sylvia, ich liebe dich! Ich werde das nicht zulassen!« Plötzlich verstummte er, einer seiner Bewacher hatte ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Gequält röchelte er kurz, als ihn ein zweiter Stoß traf.

Der monotone Gesang der Liari wurde leiser, konzentrierte sich jetzt auf die Kristalle, die ihr weißglühendes Licht im Raum verteilten. Zum Entsetzen der vier verbliebenen Freunde begannen sie, sich hinabzusenken. Es war klar, was geschehen würde, wenn sie die Körper ihrer hilflosen Opfer erreichen würden. Achim sah die Anspannung in Jochens Gesicht, der voller Angst die Szene verfolgte. Die kräftigen Muskeln wehrten sich gegen die Seile, aber kein weiterer Laut kam über seine Lippen, nur Tränen zeigten seine Trauer, seine Verzweiflung. Achim wußte, daß es schrecklich für ihn sein mußte, diese Schändung zuzulassen, denn Achim verband zwar kein Gefühl der Liebe zu Sylvia, aber er verspürte eine tiefe Wut in sich; wie viel stärker mußte da Jochens Zorn sein, wo er sie doch so sehr in sein Herz geschlossen hatte.

Achim zog probehalber an seinen eigenen Fesseln, aber wie erwartet waren sie unnachgiebig. Er verfügte nicht über die beträchtliche Körperkraft seines Begleiters, und wenn Jochen sich schon nicht befreien konnte, wie sollte er sich dann von den Stricken lösen? Wie hatten sie nur erwarten können, daß sie die Fähigkeiten besaßen, diesen Clan zu zerstören. Jetzt spürten sie das Ergebnis ihrer Überheblichkeit am eigenen Leibe. Achim wünschte sich, er hätte auf Jochen gehört. Er hatte es nicht, und die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Niemand konnte gegen dem Strom der Sekunden schwimmen.

Die Quelle der Dissonanzen muß ausgemerzt werden, durch entgegengesetzte Energie. Das waren Tharas' Worte gewesen. Sie besaßen alle Voraussetzungen. Und er hatte von einer Prophezeiung gesprochen, von Sehern, die eine Befreiung vorhergesagt hatten. Nobody is perfect, dachte Achim. Auch ein Wahrsager konnte mal danebentippen. Es tut mir leid, es waren keine sechs Richtigen, aber drei tun's doch auch, oder?

Die Kristalle waren nun schon sehr nahe an die gebundenen Körper herangekommen. »Oh mein Gott!« rief Katrin verzweifelt. »Tut doch etwas! Haltet sie auf!«

»Wir können nichts tun«, sagte Roland. »Es ist zu spät! Wir werden mit ihnen untergehen!«

Doch Achim hatte noch nicht alle Hoffnung verloren. Er wußte, die Lösung ihrer Mission war noch nicht vereitelt, sein Gefühl sagte es ihm. Alles lag in diesem einen Satz von Tharas verborgen, er mußte ihn nur entschlüsseln. Entgegengesetzte Energie. Gegen welche Energie sollten sie sich richten? Gegen das Licht? Unmöglich. Auch gegen die Kraft der Liari um sich konnten sie, da sie gefesselt waren, nichts ausrichten. Energie, Kraft, Macht... Musik! Tharas hatte gesagt, Musik ist reine Macht! Macht erfordert Kraft, Kraft ist Energie, die in eine bestimmte Richtung wirkt. Wenn er diese Richtung umkehren würde, sollten sich diese Kräfte aufheben, vielleicht konnte er sogar die Kraft in die entgegengesetzte Richtung lenken! Entgegengesetzte Energie! Er lachte triumphierend auf! Dann begann er aus vollem Halse zu singen.

»Achim! Was tust du? Hast du den Verstand verloren?«

Er hielt kurz inne, um Katrin zu antworten: »Nein, aber ich habe sechs Richtige, mit Zusatzzahl, Superzahl und allem, was dazugehört!« Lachend setzte er seinen Gesang fort. Augenblicke später zeigte sich die Wirkung seiner Aktion. Die Liari tauschten verwirrte Blicke, einige von ihnen hielten sich mit ihren Händen die Ohren zu. Achims Stimme schien auf unerklärliche Weise laut, sie erreichte jeden Winkel des Raumes. Die Musik der Kristalle geriet ins Stocken, sie senkten sich nicht mehr, sie hoben sich! Verzweifelt schrien die Liari in Panik, doch sie konnten sich nicht gegen Achims Lied wehren.

»Was zum Teufel tust du?« rief Jochen, der seine Stimme wiedergefunden hatte. »Wie machst du das?«

»Laß ihn!« warnte Roland. »Es ist nicht so wichtig, wie er es macht. Hauptsache, es funktioniert!«

Jochen zerrte wieder an den Seilen. Jetzt, da ihn niemand zurückhielt, bot er all die verzweifelten Kräfte auf, die in seinem starken Körper steckten. Einer nach dem anderen rissen die Stricke an seinen Gelenken, er zog sich tiefe Fleischwunden zu, doch er achtete nicht auf die Schmerzen. Als er endlich frei war, rannte er auf den Körper seiner Freundin zu. Auf dem Weg dorthin sah er, daß die Kristalle langsamer geworden waren und zu trudeln begonnen hatten, sie konnten jederzeit herunterfallen. So schnell er konnte, hastete er zwischen den sich windenden Kreaturen hindurch. Er erreichte die Stelle, an der die Steine umherwirbelten und warf sich mit seinem gesamten Gewicht gegen den vorderen Kristall. Das brachte den glühenden Körper vollends aus der Bahn. Er wirbelte herum, stieß den zweiten Stein an, der pfeifend quer durch den Saal flog, um an der Wand zu tausenden kleiner Splitter zu zerschellen. Der andere Kristall fiel einige Meter weiter zu Boden, prallte dort ab und zerbarst ebenfalls. Wahnsinnige Schreckensschreie zogen sich durch die Reihen derjenigen Liari, die noch mitbekamen, was geschehen war. Achim sang weiter, die Holzgestelle brachen auseinander. Sie waren frei.

Doch trotzdem waren sie noch nicht außer Gefahr, denn das Gewölbe über ihnen bekam Risse. Leichter Staub fiel herab, dann kleinere Steine, die nach und nach immer größer wurden. Panik brach unter den Liari aus, die führerlos und verängstigt durch die Gegend rannten. Achim sammelte seine Freunde um sich, damit sie gemeinsam zum Ausgang finden konnten. Auf halbem Wege zum Gang blieb Jochen unvermittelt stehen. »Wartet! Sylvia! Sie ist noch drinnen! Ich muß sie holen!«

»Warte!« rief Roland und hielt den anderen fest. »Du bist wohl verrückt! Dazu bleibt uns keine Zeit mehr! Du wirst umkommen, genau wie sie!«

Wütend machte sich der große Mann von ihm frei. »Laß mich los. Ich werde sie nicht hier unter all diesen verdammten Leichenfledderern liegen lassen! Sie gehört zu mir, nicht in dieses Loch!« Wieder machte er ein paar Schritte, diesmal wurde er jedoch von Katrin aufgehalten. »Geh weg!« schrie er sie an. »Haut ihr doch ab wenn ihr wollt, aber laßt mich Sylvia holen.«

»Was willst du denn tun?« schrie Katrin zurück. »Hier wird sie so sicher liegen, wie nirgendwo anders. Niemals wird jemand ihren Körper antasten. Laß sie liegen, sie wird ihren Frieden finden.«

Widerstrebend wandte Jochen sich ab. »Ich kann sie einfach nicht verlassen.« Aber sie merkten, daß sein Zorn verebbte, die Verzweiflung wich langsam gesunder Trauer, die vernünftiges Denken zuließ. »Sie ist mein Leben.«

»Das wird sie auch immer sein«, sagte Achim. »Wenn du dich nicht auch noch in den Tod stürzt, versteht sich. Komm mit uns, wir werden um sie trauern, wie es sich gehört. Aber erst, wenn wir in Sicherheit sind.«

Endlich ließ Jochens Widerstand nach, und sie konnten ihren Weg fortsetzen. Mehr als einmal schlug ein schwerer Felsbrocken neben ihnen auf, viele Liari und auch Menschen fanden hier unten den Tod, aber Jochen, Achim und die anderen beiden kannten den Weg nach draußen, und sie nahmen unterwegs jeden Menschen mit, der noch fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen. So gelangten sie in den kleinen Schacht, der hinauf zur Plattform führte. Dort war ein waghalsiges Klettermanöver nötig, denn der Vorsprung war in die Tiefe gerissen worden, nur wenige gezackte Fragmente ragten noch aus der Wand heraus. Trotz der Gefahren bekamen sie den Anblick des Chaos von hier oben aus noch mit. Völlige Verwüstung machte sich breit, Schreie hallten von Wänden und Decke wider, grauenhaft verstümmelte Körper lagen in Pfützen roten Blutes.

Bald ließen sie diese schrecklichen Bilder hinter sich, die Geräusche jedoch verfolgten sie, bis sie draußen nur noch schwach zu vernehmen waren. Die kühle Spätnachmittagsluft belebte ihre Sinne, und sie pumpten ihre Lungen voll, als würden sie das erste Mal seit Jahren wieder atmen. Aus der Höhle drangen noch gequälte Laute heraus, bis der gesamte Stollen einige Minuten darauf in sich zusammenfiel. Die schlagartige Stille war beinahe betäubend, sie brauchten einige Zeit um zu verstehen, daß sie nun wirklich frei waren.

6. Kapitel: Epilog

»I see trees are green, red roses too
I see them bloom for me and you
And I think to myself
What a wonderful world.«
(Louis Armstrong: »Wonderful World«)

Sie lebten; die Menschen, die sie gerettet hatten, sahen zu ihnen auf; die Welt war von den Einflüssen der dunklen Melodie befreit, durch die Gegenmelodie, die Achim gesungen hatte. Dennoch waren die vier jungen Leute nicht fröhlich, so wie es die ehemaligen Gefangenen waren. Besonders Jochen hatte sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen, seine Trauer war größer als sein Stolz, er weinte unaufhörlich. Abwechselnd kümmerten sie sich um ihn, während sie den langen Heimweg in das Reich des Verlorenen - oder Erlösten - Volkes antraten. Das Gebirge hatte nun eine Menge seines Schreckens verloren, da die Wolken den Himmel nicht mehr verdunkelten. Seit vielen Tagen konnten sie endlich wieder die Sonne sehen. Die Abenddämmerung ließ nicht lange auf sich warten. Die über fünfzig Mann starke Gruppe bereitete sich auf die Nacht vor, unbekümmerter als die kleinere Gruppe auf dem Hinweg. Was sollte ihnen noch geschehen, sie hatten alles schon erlebt.

Fünf Tage wanderten sie nun schon, vor zwei Tagen hatten sie die Ebene erreicht. Die Aussicht auf Rückkehr in ihre heimischen Gefilde hatte ihre Schritte länger werden lassen. Niemand dachte an Ruhepausen, die würden sie sich noch in ausreichendem Maße gönnen. Jochen, Katrin, Roland und Achim führten die Menschenmenge an, obwohl dies jetzt nicht mehr nötig war. Aber irgendwie schienen sie immer voraus zu gehen, auch wenn hier und da mal einer ein paar Schritte weiter war. Im Großen und Ganzen aber bildeten sie auf dem gesamten Weg die Spitze. Daher waren sie auch die ersten, die den silbrigen Punkt in der Landschaft erblickten. Er bewegte sich und wurde rasch größer. Sie blieben stehen und beobachteten die Annäherung des unbekannten Dinges.

Wenig später erkannten sie, was es war. Ein goldener Punkt blitzte auf, dann wurde er erkennbar zu einem Horn, das auf der Stirn eines schneeweißen Tieres prangte. Doch es war nicht allein. Auf seinem Rücken saß ein Reiter - oder waren es zwei? Ja, es waren zwei, aber es schien, als wäre nur einer von ihnen bei Bewußtsein. Eine Gestalt in dunkelblauer Robe ritt das edle Tier. Vor ihm saß die leblose Gestalt eines hübschen, jungen Mädchens, die er festhielt. Das Einhorn blieb vor den vier Wanderern stehen. Die übrigen Menschen warteten schweigend.

Die Gestalt mit der Robe saß ab und hob das Mädchen vorsichtig herunter. Jochen ging in die Knie, er konnte es nicht glauben. Es war Sylvia, ihr blasses Gesicht war starr. Der Reiter gehörte eindeutig zum Stamme der Liari. Sofort stürmten Achim und Roland voraus, zerrten den Neuankömmling zu Boden und rissen ihm die Kapuze aus dem Löwengesicht. Es war unverkennbar Keji.

»Was willst du noch!« schrie Jochen ihn an. »Reicht dir ihr Tod noch nicht? Warum quälst du uns noch weiter?«

»Jochen, bitte sei still«, beschwor ihn Katrin. »Er ist mit dem Einhorn gekommen. Ich glaube nicht, daß er etwas mit den anderen Liari zu tun hat. Nehmt eure Hände von ihm! Laßt ihn doch erst einmal sagen, warum er hier ist!«

Zögernd gaben sie den Liari frei. Er bedankte sich mit einem Blick bei Katrin und richtete sich auf. »Ich habe mir gedacht - grrr -, daß ihr mir nicht mehr vertrauen würdet. Das nehme ich euch - grrr - auch nicht übel. Aber ich bin nicht so, wie es die anderen meines Volkes sind. Ich bin euch gefolgt, nachdem ihr das Gewölbe betreten hattet. Ihr hättet mir wahrscheinlich - grrr - nicht geglaubt, wenn ich gleich mit euch gegangen wäre. Nachdem ihr die Kristalle zerstört und die Herrschaft der Liari beendet hattet, bin ich mit Sylvia - grrr - aus dem Raum geflüchtet. Es gab einen weiteren Ausgang, den nur - grrr - wir Liari kennen. Durch diesen Weg sind wir ins Freie gelangt. Gleich darauf habe ich mich auf die Suche nach euch gemacht, um sie - grrr - zu dir zu bringen, Jochen.«

Die vier schwiegen. »Glaube mir«, fuhr der Löwenmensch bedrückt fort. »Dein Schmerz ist mir wohlbekannt. Ich trauere mit dir - grrr -, sie war ein guter Mensch, ich muß schon sagen. Für mein Volk lebe ich nun in Schande, doch ihr - grrr - habt euer Reich zurück. Dem Liari bleibt jetzt nur noch der endgültige Abschied. Grrr - also, lebt wohl.« Damit drehte er sich um und rannte davon, seine langen Schritte trugen ihn schnell über das Land.

»Keji! Warte!« Jochen versuchte, den Löwenmenschen aufzuhalten, doch dieser drehte sich nicht einmal mehr um. »Ich möchte, daß du mir verzeihst! Ich war blind!« Keji war schon bald fort, doch sie starrten ihm noch lange Zeit nach.

Die Menschen zogen weiter, um die Nachricht über die Befreiung zu verbreiten. Die Gefährten blieben zurück, sie leisteten Jochen Gesellschaft, der seine Freundin stumm in den Armen hielt. Er strich ihr sanft durch das rotblonde Haar, glättete es, damit er sie so schön in seiner Erinnerung behalten konnte, wie sie es zu ihren Lebzeiten gewesen war. Das Einhorn schritt zu ihm herüber und senkte den Kopf. In seinem Maul trug es eine weiße Rose. Sie war jung und wirkte, als wäre sie gerade eben erst gepflückt worden. Es ließ die Blume neben Jochen ins Gras fallen. In Gedanken hob er sie auf. Die Erinnerungen an den Abend des Streites kamen zu ihm zurück. Behutsam steckte er ihr die Rose ins Haar. Dann begann er wieder hemmungslos zu weinen. Seine Tränen flossen unaufhörlich und benetzten ihr bleiches Gesicht. Eine der Tränen fiel auf den Kelch der Blume hinab. Das weiße Tier, das neben ihm gestanden hatte, senkte sein Horn und berührte damit den kleinen Tropfen, der sich daraufhin auszudehnen begann. Bald schon bildete er eine große Blase, die plötzlich zerbarst und Sylvias Gesicht befeuchtete. Sie hustete und schlug die Augen auf. »Was ist passiert? Wo sind wir?«

»Oh mein Gott«, flüsterte Jochen. »Das gibt es nicht! Wie um alles in der Welt... Sylvia! Mein Liebes! Du lebst! Du LEBST!« Er schloß sie in seine Arme, bevor sie überhaupt begriffen hatte, was vor sich ging. Die anderen starrten das Paar ungläubig an. Es war wie ein Wunder - nein! Es war ein Wunder! Tränen, Glückstränen strömten aus Jochens Augen, als er sie immer wieder an sich zog und küßte.

Als der Freudentaumel vorüber war und sie die Situation begriffen, war das Einhorn verschwunden.

Sylvia erwachte. Jochen lag neben ihr in ihrem Bett und schlief. War alles nur ein Traum gewesen? Dann war es aber ein verdammt langer Traum. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie zwei Wochen in einer anderen Welt gewesen. Nun war der Traum vorüber, aber sie konnte die Erinnerung an das Einhorn nicht verdrängen. Auch der leichte Schmerz in ihrer Brust war real, keine Einbildung.

Nach dem Frühstück fuhr sie mit Jochen in die Stadt. Sie hatten beide denselben Traum gehabt, von Wesen einer fremden Welt, von magischen Kristallen und Musik. Es war kaum zu glauben, aber ihre Bilder ähnelten sich in vielen Einzelheiten. Es kam aber alles noch ganz anders, als sie in dem Kaufhaus diese CD liegen sahen. Mit ihrem geübten Blick hatte Sylvia ziemlich sofort das Einhorn entdeckt, das ihr Cover zierte. Es sah genau so aus, wie das Tier aus ihrem Traum. Und dann las sie, wer diese Musik geschrieben hatte. Sein Name war Achim Richter, und die CD trug den Titel: »Music is the key to satisfaction.«

ENDE