Gesang
(Eine Fantasy-Kurzgeschichte von Dario Abatianni (C)02.10.1994)
Sirya war seit einiger Zeit unterwegs, ihre Heimatstadt zu erreichen. Jetzt führte sie ihr Weg nur noch durch den kleinen Wald, an dessen Rand ein klarer Fluß sein Bett hatte. Die junge Frau überquerte die schmale Brücke und trat in die lichten Baumreihen, deren Äste auf dem Boden komplizierte Schattenmuster warfen. Vergnügt beobachtete sie die tanzenden Flecken, voller Vorfreude auf die bevorstehende Ankunft bei ihrer kleinen Familie. Sie konnte es kaum erwarten, ihre beiden kleinen Kinder nach einer Woche Abwesenheit wieder an sich zu drücken. Mareq war gerade erst vier Jahre alt, er hing besonders stark an ihr. Sein Bruder Gocun hatte sich mehr ihrem Mann Ridus zugewandt. Zwar erlebte er auch gerade mal seinen sechsten Sommer, aber er half seinem Vater wo er nur konnte. Es wurde wirklich Zeit, daß sie Ridus von der zusätzlichen Arbeit mit den Kindern erlöste.
Sie hatte den Wald beinahe durchquert, als ein leises Geräusch sie aus ihren Gedanken holte. Es raschelte kurz in einem Gebüsch links vom Wegrand, dann war wieder alles ruhig. Überrascht blieb Sirya stehen und versuchte, in diesem Strauch etwas zu erkennen; jetzt aber rührte sich nichts mehr. Neugierig geworden machte sie ein paar Schritte darauf zu. Erneut regte es sich im Gesträuch. Sirya näherte sich weiter an, denn noch immer konnte sie kein Lebewesen ausmachen. Ein weiterer Schritt voraus, ein weiterer Schritt in den Wald hinein...
Sie bemerkte einen Augenblick zu spät, daß ihr der Boden unter den Füßen wegsackte. Mit einem kleinen Aufschrei versuchte sie, mit den Händen auf dem Waldboden Halt zu finden, doch sie fiel bereits durch das enge Loch ins Dunkel. Hätte jemand dieses Geschehen beobachtet, hätte er mit Verwunderung gesehen, wie sich das Loch einen Augenblick darauf wieder nahtlos schloß.
Der Sturz endete nach einem Moment auf einem weichen Untergrund. Absolute Schwärze umhüllte sie, kein Lichtstrahl gab ihrem suchenden Blick einen Ansatzpunkt. Ängstlich tastete Sirya sich voraus. Leichter Luftzug wehte ihr ins Gesicht. Stück für Stück ging sie weiter, eine Hand ließ sie an der rechten Höhlenwand entlangstreifen, um wenigstens etwas Orientierung zu haben. Modriger Geruch lag in der Luft, er machte ihr Angst.
Sie begriff einen Moment lang nicht, was ihre Hand gerade ertastet hatte. Als sie aber dann bemerkte, daß ihr Arm an etwas festklebte, überkam sie ein grauenvoller Verdacht. Der Untergrund wurde hier ziemlich glitschig, langsam rutschte sie über den sanft abfallenden Boden vorwärts, direkt auf das klebrige Ding zu. Sirya versuchte sich zu befreien, aber all ihre Versuche ließen sie nur noch schneller vorausgleiten. Wenig später spürte sie den ersten Fangfaden an ihrem Hals, dann an ihrem Rücken, den Beinen...
Wenig schummriges Licht drang von oben zu ihr hinab. Sie hing in dem übergroßen Netz einer Spinne, deren Größe sie nicht zu schätzen wagte. Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen, doch die Stricke umschlangen ihren zarten Körper unbarmherzig. Eine Flucht war ausgeschlossen.
»Oh, welch hübsches Geschenk«, flüsterte unvermittelt eine leise Stimme. »Ein wirklich wunderbares, oh ja. Lange hatte ich keines dieser Art mehr.«
»Wer spricht da?« fragte Sirya ängstlich. »Was wollt Ihr?«
»Fürchte dich nicht, kleine Dame. Es nutzt nichts.« Aus dem Dunkel des Tunnels kroch eine riesige Spinnengestalt auf sie zu. »Mach es dir nicht schwerer als nötig. Es wird nicht lange dauern.«
»Bitte, nein! Tut mir nichts, ich flehe Euch an! Meine Kinder brauchen mich! Ich werde alles tun, aber tut mir nichts zuleide.« Tränen flossen ihre Wangen hinab.
Das Spinnenwesen blieb stehen. »Du wirst alles tun?« Sirya nickte verzweifelt. »Oh, gut. Das ist gut. Weißt du, eigentlich suche ich ja fettere Beute als du es bist. Hilf mir, sie zu bekommen, dann lasse ich dir dein Leben.«
Wieder nickte Sirya, was blieb ihr anderes übrig.
*
Der Morgen brach an, Jaros machte sich auf den Weg. Er bog in den schmalen Waldweg ein, der ihn in die Stadt führen würde. Sein Rucksack war voller selbstgebrannter Tonvasen, die er auf dem Markt verkaufen wollte. Plötzlich hielt er inne. Er hörte Gesang, eine wundervoll melodische Frauenstimme sang ein Lied voller Gefühl. Traurigkeit spiegelten die Klänge wider, Sehnsucht und Verzweiflung. Jaros war so ergriffen, daß er zuerst einige Minuten still dastand, bevor er wieder wußte, wo er überhaupt war. Er eilte den Lauten nach und erblickte wenig später eine junge Dame, die mit nacktem Körper auf einem Findling saß und sang. Fasziniert ging er auf sie zu. »Meine Dame, verzeiht mir, aber ich hörte Euer Lied, da mußte ich sehen, wer es sang.« Er näherte sich der hübschen rothaarigen Gestalt. Aber einige Schritte, bevor er sie erreicht hatte, tat sich der Waldboden unter ihm auf. Nur wenige Sekunden darauf war er verschwunden.*
»Und achte auf dich«, ermahnte Sirya ihren sechzehnjährigen Sohn Mareq. »Kehre so schnell du kannst zurück.«»Ja, Mutter.« Mareq gab ihr einen Abschiedskuß und verließ das Haus. Sein Weg führte ihn auf die Weide seines Onkels, wo er bei der Schlachtung des Viehs helfen wollte. Während er den Waldweg entlangschlenderte, dachte er über eine Menge Dinge nach. Plötzlich riß ihn etwas aus seinen Gedanken.
Leise drang der Gesang einer jungen Frau zu ihm herüber.
ENDE