Edelsteine
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)22.11.1994)
Farbige Blitze am Horizont, dunkler Himmel, hell funkelnde Sterne. Raffael bahnte sich seinen Weg durch das brusthohe Gras, immer behielt er die Stelle im Auge, an der regelmäßig diese Lichtstrahlen auftauchten. Björn war an seiner Seite. Schweigend liefen sie immer geradeaus. Plötzlich ein erneutes, aufflammendes Leuchten. Diesmal von einem dumpfen Donnern begleitet. Der weiche Boden unter ihren Füßen zitterte leicht. Das Gras war nun verschwunden, sie liefen über nackten Felsen. Hier und da übersprangen sie schmale Spalten, deren Grund nicht zu erkennen war. »Es ist zu weit«, sagte Björn. »Das Jahr reicht nicht.«
»Wir können es schaffen, wenn wir die Zeit strecken«, antwortete Raffael und begann zu rennen. Direkt vor ihnen endete der felsige Untergrund, und sie fielen einen Abgrund hinab, schwebten hoch in der Luft umgeben von Dunkelheit dahin und versuchten, das Licht einzuholen.
Erst ein paar Sekunden nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte, bemerkte Raffael, daß er nur geträumt hatte. Noch eines dieser seltsamen Erlebnisse. Träume waren doch immer wieder komisch. Er und Björn, als ob sie fliegen lernten. So etwas konnte auch nur er sich einfallen lassen. Müde drehte er sich herum und drückte auf die Spitze seiner pyramidenförmigen Uhr. »Es ist jetzt neun Uhr dreizehn«, informierte ihn die blecherne Digitalstimme des Weckers. Zwar mußte er nicht früh aufstehen, aber er wollte sich trotzdem nicht mehr schlafen legen, denn er hatte heute vor, mit seinem Freund noch ein paar Sachen zu erkunden.
Verschlafen schwang er die Beine aus dem Bett und ging dann zum Fenster, um die Rolladen hochzuziehen. Langsam, um sich an das Licht zu gewöhnen, zog er die schweren Metallblenden Stück für Stück weiter hinauf. Dann betrachtete er die spätherbstliche Landschaft vor seinem Fenster. An den Bäumen hingen so gut wie keine Blätter mehr. Die Luft war nicht mehr so klar wie noch vor einem Monat, leichter Nebel zeigte sich an beinahe jedem Morgen. Das Sonnenlicht war gerade dabei, das Gebiet zu erhellen, doch schien es auch heute nicht besonders warm zu werden.
»Morgen, Papa«, murmelte Raffael, als er in die gemütliche Küche kam. Sein Vater saß am Tisch und las eines seiner Wissenschaftsmagazine, während seine Mutter das Frühstück machte. »Morgen, Mutti.«
»Na, schon so früh wach?« fragte sein Vater und blickte ihn erstaunt an. »Sonst ist Vicky doch immer vor dir dran.«
Raffael nickte und setzte sich auf einen der freien Stühle an den Tisch. »Ich wollte mit Björn heute Fahrrad fahren. Ich hoffe, er hat nicht verschlafen.«
»Wohin wollt ihr denn so früh?«
»Keine Ahnung. Ein bißchen die Gegend erkunden.« Er bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Klang zu geben. Sie mußten ja nicht unbedingt erfahren, daß Björn ihm einen neuen Platz zwischen den Dörfern zeigen wollte, wo sie beide bisher noch nicht gewesen waren. Sie würden sich sonst nur wieder unnötige Sorgen machen. »Vielleicht fahren wir auch zum Spielplatz runter«, sagte er statt dessen.
Nach dem Frühstück rief er bei seinem besten Freund zu Hause an und erfuhr, daß Björn schon wach war und auf ihn wartete. Er verabschiedete sich kurz von seinen Eltern und verließ dann das kleine Einfamilienhaus, in dem er seit seiner Geburt wohnte.
Schnell fuhr er die Straßen durch die Siedlung entlang und erreichte schließlich das Haus seines Freundes. Das Rad stellte er direkt draußen vor die Tür, er wollte sowieso nicht lange bleiben. Dann klingelte er. Lange dauerte es nicht, bis jemand öffnete. »Hallo Raffael«, sagte die dunkelhaarige Frau. »Komm rein, Björn ist gleich soweit.«
Raffael kam der Aufforderung nach und ging in den Flur, während Frau Francke nach ihrem Sohn rief. Es verging nur ein Moment, bis dieser die Treppe aus dem ersten Stock herunterkam. »He, Raffael. Können wir los? Ich hab auch schon alles zusammengesucht.«
»Klar doch«, erwiderte der andere. »Dann wollen wir mal. Tschüs«, rief er noch, bevor er durch die Haustür wieder nach draußen ging. Dann starteten sie zu ihrer Entdeckungsreise. Björn hatte nicht allzuviel über diesen neuen Platz erzählen können, er war ja selbst noch nie dort gewesen. Sie kannten nur die Beschreibung von Thomas, dem Freund seines großen Bruders, der einmal davon erzählt hatte, wie sie dort campiert hatten. Björn war damals nicht dabei gewesen, es waren eben nur Große zugelassen. Bestimmt drehte sich diese ganze Zelterei wieder nur um Bier und so was. Jetzt aber wollte er diesen Platz selbst sehen, und zusammen mit Raffael würde es ein Heidenspaß werden.
»Wie lange fahren wir bis dahin?« fragte Raffael, während sie in eine der Hauptverkehrsstraßen des kleinen Ortes einbogen.
»Eine halbe Stunde mindestens«, erwiderte Björn. »Thomas hat gesagt, es liegt auf halbem Wege zwischen hier und der Autobahn. Wir haben also noch ein ganzes Stück vor uns.«
»Solange du weißt, wo wir lang müssen, sollten wir auch noch früh genug ankommen.« Jetzt waren sie nur noch wenige Minuten von der Bundesstraße entfernt. Björn fuhr voraus, er kannte schließlich den Weg. Raffael hielt sich, solange sie noch im Ort waren, hinter seinem Freund, um nicht einen Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Auto zu riskieren. Als sie dann den Radweg am Rand der Landstraße entlangfuhren, zog er mit Björn auf eine Höhe, damit sie sich besser unterhalten konnten. Es war wirklich sehr frisch, Raffael war froh, daß er sich die Handschuhe doch noch angezogen hatte. Der kühle Wind stach in sein Gesicht, und beim Sprechen bildeten sich kleine Dampfwölkchen vor seinem Mund. Er hoffte, daß es noch etwas wärmer würde, wenn die Sonne erst einmal richtig hoch stand.
Etwa eine Viertelstunde, nachdem sie losgefahren waren, bog Björn in einen schmalen Weg ein, der zwischen zwei mit Mais bestandenen Feldern hindurchführte. Jetzt wurde es langsam interessant. Diesen Weg waren sie auch zuvor nie entlanggefahren. Ab hier mußten sie sich auf Thomas' Wegbeschreibung verlassen. Doch danach sollte es nicht allzu schwierig zu finden sein. Dieser Weg führte mehr oder weniger geradeaus, zwischen einer Menge Felder hindurch. Ein ganzes Stück weiter sollte eine Weggabelung kommen, an der sie sich links halten mußten. In dieser Richtung würde dann bald ein Wald auftauchen, in dem die besagte Stelle zu finden war.
Die Gabelung hatten sie nach zehn Minuten erreicht. Ganz nach Anweisung bogen sie links ab und folgten damit einem noch schmaleren Sandweg, der offensichtlich nicht oft benutzt wurde, da überall Gras wucherte. Die Reifen ihrer Räder holperten über den unregelmäßigen Untergrund, aber das hielt die beiden nicht davon ab, ihre Absicht weiterzuverfolgen. Wie beschrieben kam bald das Gehölz in Sicht, sie hatten ihr Ziel erreicht. Als sie in das Zwielicht des Waldes eintauchten, entstand schon eine gewisse Stimmung. Was würden sie wohl entdecken?
»Hier muß es sein«, sagte Björn plötzlich und hielt an. »Da vorne die Einbuchtung.« Er wies auf einen schmalen Trampelpfad, der sich nach rechts im Wald verlor. »Das ist der Weg. Jetzt müßten wir gleich da sein.« Sie stiegen ab und schoben ihre Räder den Pfad entlang zwischen den Bäumen hindurch. Björn mußte ziemlich aufpassen, damit er nicht mit dem Rückspiegel, den er sich angebaut hatte, irgendwo hängen blieb. Rechts und links von ihnen lag dichter Wald, den der Weg durchquerte. An einer Stelle mußten sie einen schmalen Bach überwinden, aber ansonsten kamen sie gut voran. Thomas hatte gesagt, daß man nach ein paar hundert Metern auf eine Lichtung kommen würde, eine sehr große Lichtung, umgeben von dichtem Baumbestand. Genau diesen Ort hatten sie gerade erreicht. Es war so plötzlich gekommen, daß sie sich überrascht umsahen. Die offene Fläche im Wald hatte einen Durchmesser von mindestens zweihundert Metern. In der Mitte des grasbewachsenen Platzes lagen ein paar große Felsen herum. Verwundert blickten die beiden sich an, denn ansonsten hatten sie in näherer Umgebung noch nie einen Stein gefunden, der größer als ein Fußball war. Alles in allem war dieser Ort schon beim ersten Anblick geheimnisvoll.
»Stellen wir die Räder hier ab, dann können wir uns umsehen«, schlug Björn vor.
Raffael nickte. »Alles klar. Ich hab ein Schloß dabei, schließen wir sie zusammen.« Gesagt, getan. Bald schon machten sie sich auf, die Mitte der Lichtung unter die Lupe zu nehmen. Wie es sich herausstellte, waren die Felsen teilweise mehr als drei Meter hoch. Raffael erklomm den ihm am nächsten liegenden Steinbrocken und blickte umher. Überall um sie herum war Wald, nichts als dicht aneinandergereihte Stämme, größtenteils von Nadelbäumen. Dann kam er wieder herunter, um sich zu Björn zu gesellen, der etwas am Boden untersuchte. »Hast du was gefunden?«
Anstelle einer Antwort richtete sein Freund sich auf und präsentierte ihm einen metallenen Gegenstand. Er war unregelmäßig geformt, mit mehreren Haken und Klammern. Er konnte noch nicht sehr lange hier liegen, die Oberfläche war spiegelblank. »Was könnte das sein?« fragte Björn. »Ich hab so was noch nie gesehen.«
»Vielleicht ein Stück einer kaputten Tierfalle«, vermutete Raffael.
Björn murmelte etwas. »Wer weiß, es könnte ja auch etwas Außerirdisches sein, ein Sender oder eine Mine. Möglicherweise werden wir beobachtet.«
»Und dann als Probe der Rasse Mensch auf einen fremden Planeten gebeamt.« Raffael sah sich langsam um. »Bestimmt warten sie schon hinter den Felsen, bis wir herauskommen. Wir sollten versuchen, sie in die Flucht zu schlagen.«
»Wie denn? Sie sind viel mehr als wir.« Auch Björn begann nun, umherzublicken. »Außerdem haben wir keine Laserpistolen.«
»Aber wir haben das hier«, sagte Raffael und nahm Björn den Gegenstand aus der Hand. »Ich wette, daraus können wir was basteln, um uns die Aliens vom Halse zu halten.«
Björns Augen glänzten. »Aber klar doch. Paß auf, wir machen das so.« Und dann begann er, an dem Gegenstand herumzuspielen. Er steckte in jede der Klammern einen kleinen Stock, zog die Haken zusammen, so daß es aussah, als liege ein Käfer auf dem Rücken und bog einen hervorstehenden Draht zu einem kreisrunden Gebilde. »Das hier ist die Antenne. Damit fangen wir jetzt die Energie ein.«
Durch diese hochtechnische Waffe geschützt wagten sie sich nun aus dem Kreise der Felsen heraus. Geduckt gingen sie voraus, ihre Köpfe wandten sich periodisch von links nach rechts, jeder von ihnen erwartete, daß einer der Außerirdischen hervorgesprungen käme, um sie zu überwältigen. Dann rannten sie auf ein kurzes Zeichen gleichzeitig aus ihrer Deckung heraus und umrundeten die Felsen. Niemand war zu sehen.
»Wir haben sie verjagt!« rief Björn triumphierend. »Die Erde ist gerettet. So schnell kommen die nicht wieder.« Er hielt siegessicher das Metallobjekt in die Höhe.
»Das war eine gute Idee mit den Haken«, meinte Raffael. »So konnten die uns ja gar nicht mehr orten. Kein Wunder, daß sie abgezogen sind.«
Nach diesem erfolgreichen Unternehmen einigten sie sich auf einen kleinen Imbiß und machten es sich oben auf einem der Felsblöcke bequem. Björn packte die Vorräte aus seinem Rucksack und Raffael entledigte sich seiner Handschuhe. Bald schon stillten sie ihren Appetit in der Vormittagssonne, die über den Rand der Bäume in die Lichtung hineinschien.
Wenig später spielten sie wieder im hohen Gras der Lichtung. Wie es schien, hatte Björn mit seiner Vermutung über den Zweck des Campings recht gehabt. An vielen Stellen lagen leere und halbvolle Bierdosen herum, mehrere Sektflaschen und ab und an eine kleinere Flasche Korn. Plötzlich sah Raffael jedoch etwas, das ganz anders in der Sonne funkelte, als es Glas tat. Er machte ein paar Schritte auf den Gegenstand zu und entdeckte dann die Quelle des Glitzerns. Es war eine glattpolierte Stahlkugel, so groß wie seine geballte Faust. Über ihre spiegelglatte Oberfläche zogen sich in unregelmäßigen Abständen blaue Linien, die sich hin- und herbewegten. Verdutzt starrte er auf das vor sich liegende Ding, bis Björn ihm von hinten auf die Schulter tippte. Erschreckt sprang er auf, bevor er seinen Freund erkannte. Erleichtert atmete er auf. »Björn! Schleich dich nicht immer so an, ja?«
»Von Schleichen kann gar nicht die Rede sein«, gab er zurück. »Jeder im Umkreis von zweihundert Metern hätte mich heranstolpern gehört. Aber du scheinst ja ganz woanders zu sein.«
»Stimmt auch. Nämlich dabei.« Er wies auf die Kugel, über die in diesem Augenblick wieder einer der blauen Lichtreflexe hinwegzog.
»Mann, das ist ja stark«, platzte Björn heraus. »Was ist es?«
»Na, du kannst fragen«, erwiderte Raffael. »Woher soll ich das wissen. Es sieht jedenfalls ziemlich merkwürdig aus, oder? Genau wie das andere Ding, das du gefunden hast. Auch total glatt und kein bißchen rostig.«
»Nur daß hier noch was anderes dabei ist«, warf Björn ein. »Woher kommen diese Blitze?«
»Nachher ist das wirklich was Außerirdisches«, gab sein Freund zu bedenken. »Oder aber es ist eins dieser komischen Dinger, die man sich auch ins Zimmer stellen kann.«
»Bestimmt nicht, die sind doch durchsichtig.«
»Ja, aber wenn das eine neue Erfindung ist, und jemand hat sie hier nur verloren? Wäre doch möglich, daß die jetzt nicht mehr aus Glas gebaut werden.«
Björn dachte einen Moment lang nach. »Aber warum gerade hier? Wir sind bestimmt einen Kilometer in jede Richtung vom nächsten Ort weg. Ich glaube nicht, daß jemand so etwas hier hinwerfen würde. Außerdem brauchen die meisten dieser Dinger Strom.«
»Das hier wohl nicht.« Mit leisem Summen kroch ein weiteres blaues Lichterband über die Kugel. »Ich frage mich, wie das funktioniert.«
Sie schwiegen eine Weile und beobachteten den Gegenstand argwöhnisch. »Faß es mal an«, schlug Björn vor.
»Faß du doch an«, gab Raffael zurück.
»Ich trau mich nicht. Es sieht nicht gerade ungefährlich aus.«
»Aber ich soll es anpacken, ja?« Ohne den Blick von der Kugel zu nehmen, stand er auf. »Ich habe auch keine Lust, mir einen Schlag zu holen oder so was.«
»Wer sagt denn, daß das Ding geladen ist?«
»Wer sagt, daß es das nicht ist?« erwiderte Raffael. »Es sieht jedenfalls ziemlich danach aus. Mein Vater hat mir mal erklärt, daß man mindestens zwanzigtausend Volt für einen solchen Blitz braucht. Ich hab nicht vor, die am eigenen Leibe zu spüren.« Trotzdem war er sehr neugierig, wie das kugelförmige Ding wohl funktionierte. »Na gut. Aber du kennst die Regel. Wenn ich es anfasse, dann mußt du es auch tun. Klaro?«
»Ehrenwort«, meinte Björn. »Die Heckenregel werde ich nicht brechen.«
Raffael und sein Freund hatten ein ganz spezielles Hobby. Im Sommer durchstreiften sie immer nachts die Siedlung, wenn sie bei Björn im Garten zelten durften. Sie suchten sich eine der zahlreichen Hecken aus und überwanden sie mit einem Hechtsprung. Dann kam die nächsthöhere an die Reihe und so weiter. Wenn aber ein Hindernis zu hoch schien, dann erklärte sich meist einer von den beiden bereit, es als erster zu überspringen. Der andere hatte dann die Pflicht, es ebenfalls zu tun. Seitdem übertrugen sie diese Pflicht als Heckenregel auch auf andere Situationen, die Mut erforderten. Deshalb wandte Raffael jetzt diese Regel an, er wollte es nicht alleine versuchen.
Nachdem das geklärt war, kniete Raffael sich vor die Kugel hin. Es war ihm immer noch nicht ganz wohl bei der Sache. Gerade eben wieder einer der Blitze. Vorsichtig streckte er seine Hand aus. Nur wenige Zentimeter trennten sie noch von der Oberfläche. Noch ein Stück weiter... Dann packte er kurz entschlossen zu. Ein starkes Ziehen durchfloß seinen Körper, das Bild vor seinen Augen verschwamm. Er wollte aufschreien, doch die Krämpfe hatten ihn vollständig bewegungslos gemacht. Die Zeit schien still zu stehen, es dauerte lange Sekunden, bis die Impulse nachließen. Endlich konnte er wieder richtig atmen. Sofort ließ er die Kugel los und blickte seine Handfläche an. Er hatte keine sichtbare Verletzung davongetragen.
»Meine Fresse!« stieß er hervor. »Was ist das bloß?«
Björn sah ihn besorgt an. »Geht's dir noch gut? Ich meine, tut dir etwas weh oder so? Du hast ganz schön komisch aus der Wäsche geguckt, als du die Kugel in der Hand hattest.«
»Nein, weh getan hat's eigentlich nicht«, meinte Raffael. »Egal, jetzt bist du dran. Du mußt sie jetzt anfassen, dann weißt du auch, was ich meine.«
»Äh, na ja, also gut. Das ist die Heckenregel.« Mit offensichtlichem Unbehagen ließ er sich ins Gras sinken und starrte den runden Gegenstand an, als könne er ihn dadurch verschwinden lassen. Ganz sicher wäre ihm das auch am liebsten gewesen. So aber griff er nun langsam nach der Kugel und erwartete das Unheil. Jedoch geschah gar nichts, als er die Oberfläche berührte. Sie war nicht einmal besonders warm. Eine Stahlkugel eben. Dann hob er sie auf. »Also, ich spüre nichts«, meinte er und hielt den Gegenstand Raffael entgegen.
»Was? Aber warum...« Er blickte auf seine Hände. »Das verstehe ich nicht. Guck hier! Ich bibbere jetzt noch.« Zur Verdeutlichung streckte er einen Arm aus.
»Ja, schon möglich. Aber ich merk nichts. Probier's doch nochmal.« Damit warf er seinem Freund die Kugel zu. Reflexartig griff Raffael danach, ohne darüber nachzudenken, was er tat.
Doch auch diesmal geschah nichts Außergewöhnliches. Abschätzend wog er den Gegenstand in der Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. »Ich raff es nicht«, meinte er dann. »Es ist weg. Die Blitze auch. Komisch. Dabei hab ich gerade eben noch gedacht, das wäre das Ende.«
»Ich versteh's auch nicht. Ich weiß was. Wir nehmen das Teil mit, und dein Vater soll es mal unter die Lupe nehmen. Wenn er nichts findet, wer sonst?«
Raffael war ebenfalls der Meinung, daß das eine gute Idee war, und so packten sie die Kugel samt dem anderen Gegenstand in die Rucksack und fuhren wieder zurück. Eigentlich viel zu früh, denn sie hatten vorgehabt, bis zum Abend hierzubleiben. Die Erkundungen ließen sich aber schließlich auch verschieben. Sie hatten dazu ja die ganzen kommenden Winterferien Zeit. Diese Angelegenheit war erst einmal von größerer Bedeutung.
Diesmal brauchten sie ziemlich genau zwanzig Minuten, um die Strecke zurückzulegen. Sie konnten es kaum erwarten, das Urteil von Raffaels Vater zu hören. Er war Diplom-Physiker an einer Universität und kannte sich mit solchen Dingen aus. Er hatte Raffael auch schon eine Menge über Blitze und dergleichen erzählt, bestimmt hatte er eine Erklärung für das alles parat.
Endlich angekommen stellten sie die Räder vor der Garage ab und Björn klingelte an der Türe. Wenig später kam Raffaels Mutter, um sie hereinzulassen. »Ihr seid ja schon wieder da«, stellte sie verwundert fest.
»Ja, und wir haben was Wichtiges gefunden«, sagte Björn und war schon auf dem Weg zum Arbeitszimmer. Raffael folgte ihm dichtauf.
»Auch euch einen guten Tag«, rief sie den Kindern nach, als sie kopfschüttelnd die Tür schloß.
»Papa! Sieh dir das mal an! Björn und ich haben etwas entdeckt.« Raffael stürmte in das kleine Labor, das Jochen sich zu Hause eingerichtet hatte.
»Hoppla! Jetzt aber mal langsam«, versuchte er die beiden Jungen zu beruhigen, die aufgeregt hereingeplatzt waren. »Worum geht es denn?«
Mit wichtiger Miene kramte Björn die Kugel aus seinem Rucksack und legte sie auf den großen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. »Darum geht es«, meinte er, als erkläre allein das die Situation. »Das haben wir beim Spielen gefunden. Es hat Raffael einen Stromschlag verpaßt.«
»Es hat was? Stimmt das, Raffael?« Sein Sohn nickte. »Wie ist das geschehen?«
»Keine Ahnung«, meinte er. »Ich hab es nur angefaßt, da hat's mich erwischt. Jetzt ist es aber wohl ungefährlich. Jedenfalls ist Björn noch nichts passiert.«
Skeptisch betrachtete Jochen die Kugel. Dann hob er sie, beobachtet von neugierigen Kinderaugen, vom Tisch auf. »Also, für mich ist das nur eine Stahlkugel. Allerdings sehr fein poliert, das muß man schon sagen. Außerdem scheinen sich hier ein paar Anlaßfarben entwickelt zu haben.«
»Was ist das denn?« wollte Björn wissen.
»Wenn man Stahl sehr heiß macht, bekommt er farbige Ränder. Die nennt man dann Anlaßfarben. Hier, da kannst du sie sehen.« Er drehte die Kugel so, daß die bunten Flecken erkennbar wurden. »Ansonsten völlig makellos.«
»Das ist aber noch nicht alles«, warf Raffael ein. »Wir haben noch was.« Er gab seinem Freund ein Zeichen, damit er den zweiten Gegenstand aus seiner Tasche holte. Die Haken waren immer noch ineinander verschlungen, und Björn entwirrte sie zuerst, bevor er sie dem älteren Mann gab. »Das haben wir noch vorher gefunden«, erklärte Raffael, während sein Vater das Gerät musterte. »Es ist genauso glatt wie die Kugel.«
Jochen nickte. »Das gleiche Material, die gleiche Oberfläche. Nur was ist es? Ich kann mir da keinen Reim drauf machen. Habt ihr noch mehr davon?«
Björn schüttelte den Kopf. »Das ist alles.«
Jochen legte die beiden Teile nebeneinander und studierte sie eingehend. »Und die Kugel hat dir wirklich einen Schlag versetzt«, sagte er, wie zu sich selbst. »Laß mich deine Hand mal sehen. Vielleicht hast du was abbekommen. Damit sollte man nämlich nicht spaßen.«
»Nein, da ist nichts«, erwiderte Raffael und zeigte die Handfläche. Jochen ergriff sie, um sie sich besser ansehen zu können. Aber in diesem Augenblick durchzuckte ihn ein Schock, und er wurde nach hinten geschleudert. Benommen richtete er sich auf und sah, daß auch sein Sohn am Boden lag.
»Oh, mein Gott! Raffael!« Sofort war er auf den Füßen und eilte zu dem Jungen hin. Er wollte ihn gerade hochheben, aber da schlug er die Augen auf. »Du liebe Zeit. Ist dir was zugestoßen, Junge?«
Raffael schüttelte den Kopf. »Nein. Mir geht's gut. Was ist passiert?«
»Wenn ich's nicht besser wüßte würde ich sagen, ich habe an die Bildröhre eines Fernsehers gepackt. Wie um alles in der Welt ist das gekommen?«
»Vielleicht hat die Kugel jetzt ja Raffael aufgeladen«, schlug Björn vor. »Dann bist du jetzt Mister eintausend Volt.«
»Ich finde das gar nicht komisch«, beschwerte sich sein Freund. »Papa, stimmt das? Bin ich jetzt aufgeladen, so wie eine Batterie?«
»Eigentlich sollte ich das jetzt entschieden bestreiten«, meinte Jochen. »Aber es scheint wirklich so. Auch wenn ich es mir nicht erklären kann, diese Entladung gerade war alles andere als eine Einbildung.«
»Genau wie mit der Kugel«, sagte Björn. »Vielleicht bist du jetzt ja auch nicht mehr unter Strom.«
»Darauf verlasse ich mich nicht«, sagte Jochen. »Das will ich erst testen. Raffael, stell dich bitte dort vorne hin. Ich werde versuchen, etwas Näheres über diese ganze Angelegenheit zu erfahren.« Der Junge folgte den Anweisungen seines Vaters und ging zu einer kleinen Meßstation, die auf dem ziemlich überfüllten Tisch stand. »Du nimmst jetzt dieses Kabel und berührst den Kontakt daran. Keine Angst, es passiert dir nichts.« Raffael tat es, und dann verband Jochen das zweite Kabel mit der breiten Erdungsschiene des Meßgerätes. Mittels eines Drehschalters stellte er nun noch etwas ein, und schon bald tauchten einige Zahlen auf der Anzeige des Gerätes auf. Kopfschüttelnd betrachtete Jochen das Ergebnis, bis Björn sich durch ein deutliches Räuspern bemerkbar machte. »Entschuldigt, aber ich kann das nicht fassen«, sagte er. »Anscheinend hast du wirklich eine Ladung in dir. Das Meßgerät zeigt es eindeutig. Vierundzwanzigtausend Volt, ich glaube ich spinne! Und das, nachdem du mir gerade schon einen kräftigen Wumms verpaßt hast.«
»Und wie lange bleibt das jetzt so?« fragte Raffael und blickte den Kontakt in seiner Hand skeptisch an. »Ich meine, geht das auch wieder weg?«
»Wenn ich das wüßte! Wir können nur abwarten. Ich werde mir inzwischen ein paar Tests überlegen. Bis dahin, versuche möglichst niemanden oder etwas aus Metall zu berühren. Ich möchte nicht, daß noch etwas Schlimmeres geschieht.«
Rita zeigte sich von dieser Nachricht weitaus beunruhigter. Aber Jochen konnte sie davon überzeugen, daß er bald eine Lösung gefunden habe. Auf jeden Fall sollten sie die Angelegenheit erst einmal für sich behalten, auch Björn mußte versprechen, mit niemandem darüber zu reden. Eigentlich sollte auch Vicky, Raffaels achtjährige Schwester, nichts davon erfahren, doch sie hatte schon so ziemlich alles mitbekommen. Jetzt folgte sie ihrem Bruder auf Schritt und Tritt, um vielleicht etwas von dieser komischen Sache selbst zu sehen.
»Und was hast du nun vor?« fragte Björn, als sie eine Zeit später zusammen im Zimmer seines Freundes saßen. »Ich meine, es muß sich doch was aus dieser Fähigkeit machen lassen, oder?«
»Ich könnte mich ja als Nachttischlampe hinstellen«, meinte Raffael. »Dann haben wir keine Stromrechnung mehr. Blöde Frage. Was weiß denn ich. Es war schließlich nicht meine Idee, so was haben zu wollen. Außerdem hat Papa gesagt, ich soll nicht damit rumspielen, weil es gefährlich sein könnte. Was würdest du denn tun?«
Björn zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall würde ich ein paar Dinge ausprobieren«, meinte er schließlich. »Wenn man weiß, was los ist, ist alles nur noch halb so schlimm, oder?« Er dachte einen Moment lang nach. »Was ist zum Beispiel, wenn du Durst bekommst? Wasser leitet doch auch den Strom, oder? Ob du dann auch einen Schlag bekommst? Das ist doch ziemlich wichtig. Stell dir vor, du kannst nichts mehr trinken!«
»Bestimmt nicht«, gab Raffael zurück. Offensichtlich war er von dieser Vorstellung nicht besonders angetan. »Ich werd's dir zeigen.« Damit gingen sie in die Küche, und Raffael nahm sich eine der Sprudelflaschen, die sie in einem Kasten aufbewahrten. Es gab eine kleinere Entladung, als er den Schraubverschluß berührte, aber das war im Gegensatz zu den vorausgegangenen Ereignissen vergleichsweise harmlos. Dann füllte er ein Glas mit Wasser und trank daraus, ohne daß es zu Problemen kam. »Na, was hab ich gesagt?«
»Einen Versuch war's wert«, meinte Björn. »Jetzt wissen wir zumindest, daß du nicht verdursten wirst. Und wie steht's mit Waschen oder so?«
Raffael goß etwas aus dem Glas auf seine Hand. »Auch kein Problem, solange es nicht aus dem Wasserhahn kommt, nehme ich an.« Er rieb seine Hände aneinander, um sie zu trocknen. Doch in diesem Moment spürte er ein leichtes Stechen. »Autsch!« entfuhr es ihm, und er zog die Hände auseinander. Dabei fielen ein paar kleine Splitter auf die Tischplatte, sie sahen wie Glasscherben aus. »He, wo kommen die denn her?« Überrascht blickte er seine Handflächen an, die zwei dünne Kratzer abbekommen hatten.
»Keine Ahnung.« Björn untersuchte bereits die durchsichtigen Splitter. »Jedenfalls sind sie dir aus der Hand gefallen.« Er hob eines der Objekte auf und hielt es gegen das Licht. »Hmm. Richtig durchsichtig ist's nicht. Irgendwie blaugrün gefärbt. Wie Spiegelglas.«
»Mag schon sein, aber wo kommt es her? Ich bin mir sicher, das hatte ich nicht in der Hand.«
»Aber deine Hand ist wieder trocken«, meinte Björn. »Irgendwie ging das etwas zu schnell, findest du nicht? So lange ist das doch noch gar nicht her.«
»Ob das auch mit der Ladung zu tun hat?« überlegte Raffael. »Was soll's. Versuch macht klug.« Er wölbte seine Hand zu einer Schale und goß den Rest aus seinem Glas hinein. Dann wartete er ab, doch es geschah nichts.
»Vielleicht mußt du deine Hände reiben, so wie gerade eben. Aber sei vorsichtig.«
Behutsam legte Raffael seine andere Hand darüber und spürte sofort ein leichtes aber nicht unbedingt unangenehmes Kribbeln. Eine Sekunde später wurde es ziemlich warm, und er öffnete die Hände. Mit einem Klacken fiel ein walnußgroßer, unregelmäßig geformter Klumpen auf den Tisch. Er war, wie die kleinen Splitter zuvor auch, von blaugrüner Farbe, scharfkantig und durchsichtig.
»Wahnsinn!« Björn hob den immer noch handwarmen Brocken auf. »Wie machst du das?«
»Laß dir mal was Besseres einfallen, als so dumm zu fragen«, gab Raffael zurück, der mindestens genauso ratlos war, wie sein Freund. »Ich schätze, wir sollten erstmal rausfinden, was das für ein Zeug ist. Glas bestimmt nicht, dafür ist der Klumpen zu schwer. Fühlt sich eher wie ein Stein an.«
»Was fühlt sich wie ein Stein an?« fragte Jochen, der gerade in die Küche kam.
Björn hob das durchsichtige Objekt hoch. »Das hier. Wir haben uns gerade gefragt, woraus es besteht. Vielleicht wissen Sie es ja.« Er reichte dem Mann den Stein.
Jochen musterte den Brocken von allen Seiten, dann klopfte er mit einem Messer gegen die glatte Oberfläche. »Das ist ganz eindeutig ein Stein. Noch dazu ein sehr harter. Woher habt ihr den?«
»Raffael hat ihn gemacht.« Jochens verdutzter Gesichtsausdruck veranlaßte die beiden Kinder, den Vorgang genauestens zu erklären. Und nachdem Raffael einen weiteren dieser Brocken hergestellt hatte, setzte Jochen sich an den Tisch und sagte eine Weile gar nichts.
»Kannst du auch rote Steine machen?« fragte Vicky, die sich auf einen der freien Stühle gesetzt und beobachtet hatte. Dann schob sie ihm ihren Becher hin, der mit Himbeersaft gefüllt war. »Ich hab sowieso keinen Durst mehr.« Das kleine Mädchen grinste.
»Vicky, das ist nicht zum Lachen«, mahnte Jochen, aber Björn schaltete sich ein.
»Wer weiß, vielleicht klappt's ja. Ich meine, Wasser ist nun mal blaugrün, oder? Jedenfalls, wenn man es so im Meer oder See sieht. Und eine rote Flüssigkeit...«
»Na gut«, Raffael gab sich geschlagen. »Das Versuchskaninchen wird jetzt eine weitere Vorstellung geben. Auf daß ich mir nachher das ganze klebrige Zeug wieder abwaschen darf.« Er griff nach dem Becher, der vor ihm stand. Dann wiederholte er die Prozedur, nachdem ihm Jochen ein Tuch unter die Hand gelegt hatte. Wieder verschloß er beide Hände und verharrte einen Moment. Das Kribbeln ließ nicht lange auf sich warten. Wenig später wurde es auch wieder warm, doch hielt er diesmal fest. Wie er feststellte, steigerte sich die Hitze nicht über ein erträgliches Maß hinaus. Wenigstens konnte er nun gefahrlos solche Sachen ausprobieren. Er wollte gerade das Experiment beenden, doch als er dann die gespannten Gesichter seiner Zuschauer sah, machte er das Ganze etwas geheimnisvoller. »Na ja, eigentlich spüre ich gar nichts.« Er lugte durch ein vorsichtig geöffnetes Loch. »Nichts zu sehen«, berichtete er. »Anscheinend klappt das nur mit Wasser.«
»Nun laß das, und mach die Hand auf«, forderte Jochen seinen Sohn auf. »Wir wollen schließlich etwas über diese Sache herausbekommen, oder etwa nicht?«
»Schon gut, ist klar.« Er ließ den mittlerweile entstandenen Stein auf das Tuch fallen. Vicky ließ einen faszinierten Ausruf hören, und auch die anderen beiden waren offensichtlich überrascht.
»Also, das ist ja wirklich kaum zu glauben.« Jochen nahm den durchsichtig-roten Klumpen hoch und hielt ihn ins Licht. »Fast wie ein großer Rubin, was? Verrückte Welt. Wißt ihr was? Wir sollten herausfinden, was wir hier wirklich haben. Ich rufe gleich mal bei einem Freund von mir in der Uni an, der hat seinen Doktor in Mineralogie gemacht. Ich wette, er kann uns auch sagen, woraus diese Steine hier bestehen.« Jochen stand auf und verließ die Küche.
»Was ist Minerogie?« fragte Vicky.
»Mineralogie«, korrigierte Raffael. »Das ist jemand, der sich mit Steinen und so was auskennt. Bestimmt wissen wir schon bald, was das für Klumpen sind.« Ungeduldig saßen sie am Tisch, bis Jochen sein Telefongespräch beendet hatte und wieder in die Küche kam.
»Tja, dann müssen wir wohl noch eine Stunde warten, aber das ist es wohl wert, oder? Jedenfalls kommt Dr. Jennen mit seiner Ausrüstung her. Ich kann euch sagen, der hat bestimmt ein dummes Gesicht gemacht, als ich ihm von einem zwanzig Gramm schweren Rubin erzählt habe.«
»Aber du weißt doch gar nicht, ob das wirklich ein Rubin ist«, sagte Raffael.
»Stimmt, aber das muß ich ihm ja nicht auf die Nase binden. So kommt er zumindest garantiert her. Wenn er dann erstmal sieht, was hier vor sich geht, wird er darüber kaum noch nachdenken.«
Bis Dr. Jennen schließlich eintraf, hatten sie eine ganze Auswahl verschiedenster Steine vor sich auf dem Tisch liegen. Sie probierten immer neue Flüssigkeiten aus, jedesmal war eine andere Farbe das Ergebnis. Eines hatten alle gemeinsam, sie waren transparent. Bei Milch entstand ein weißer, bei verdünnter blauer Wasserfarbe erhielten sie einen sattblauen Stein, sogar Rotwein probierten sie aus, um einen violett glänzendes Ergebnis zu erhalten. Es gab nur eine Ausnahme, bei der der Stein nicht durchsichtig wurde, bei kaltem Kaffee. Der Brocken, der entstanden war, schimmerte seidig schwarz, war aber nicht klar, wie die übrigen.
Rita führte den Besucher in die Küche. Er sah wie ein typischer Wissenschaftler aus, so fand Raffael. Graues Haar, beginnende Glatze, runde Nickelbrille, feiner Anzug und nicht zu vergessen, der schwarze Koffer. Höflich begrüßte er sie und reichte Jochen die Hand. »Einen schönen guten Tag wünsche ich«, sagte er und blickte in die kleine Runde. »Ihr habt also ein paar Edelsteine gefunden?«
»Nicht ganz, Klaus. Aber setzen wir uns doch zuerst. Ich möchte, daß du dir diese hier ansiehst.« Er wies auf die bunte Sammlung, die vor Raffael auf dem Tisch lag.
»Oha«, machte der Doktor. »Na wenn die alle echt sind, dann habt ihr ein kleines Vermögen hier liegen.« Er nahm sich den großen roten Stein und begann, ihn zu untersuchen. Zuerst besah er ihn sich von allen Seiten, ehe er seinen Koffer auf den Schoß nahm und ihn öffnete. Nach und nach packte er ein paar Gegenstände aus, die alle sehr technisch aussahen. Als erstes legte er eine Pappscheibe mit verschiedenfarbigen Feldern vor sich hin. Den Stein plazierte er in der Mitte der Skala und leuchtete dann mit einer Minitaschenlampe durch ihn hindurch. Langsam ließ er den hellroten Fleck über die Karte wandern, bis er den entsprechenden Farbton gefunden hatte.
Der zweite Test bestand darin, daß er ein wenig von dem Stein mit Hilfe einer speziellen Feile abschliff. Doch offensichtlich war der Stein sehr hart, es dauerte lange, bis sich auch nur ein kleines bißchen davon auf dem Papier sammelte. Diesen Staub ließ er dann in eine Lösung fallen, die sich daraufhin blau verfärbte. Klaus ließ ein erstauntes Murmeln hören, bevor er ein weiteres Instrument aus seinem Koffer suchte. Es besaß eine Vorrichtung, um den Stein darin einzuklemmen, und dann ließ er einen dünnen Metallbolzen auf die Oberfläche schießen. Mit leicht metallischem Klingeln prallte er zurück und blieb bei der angebrachten Skala auf dem Wert neun Komma eins stehen.
»Tja, das ist alles sehr aufschlußreich, aber ich möchte noch einen letzten Test machen, dann weiß ich mehr.« Gespannt warteten die vier auf diese neue Methode, aber als Klaus einen kleinen Hammer hervorzog und damit auf den Stein schlug, waren sie doch ein wenig enttäuscht.
»Na, und? Was ist es nun?« wollte Jochen wissen. »Hast du etwas herausbekommen?«
»Ja, sogar beinahe zweifelsfrei. Das hier ist Aluminiumoxyd, mit anderen Worten: roter Korund, Härte neun auf der Mohsschen Härteskala. Da gibt es nicht viel zu sagen. Es ist ein Rubin.«
»Der ist echt?« fragte Raffael verwundert. Seine dunkelbraunen Augen musterten den Stein genau.
»Lupenrein, sozusagen. Ich frage mich nur, wo ihr einen fast einhundert Karat großen Rubin herhabt. Der ist bisher der größte, den ich in der Hand gehabt habe.«
»Das würdest du uns wohl nicht glauben, wenn wir es dir erzählen würden. Aber da sind ja noch ein paar Steine, was ist mit denen?« Jochen schob ihm den kleinen Haufen zu.
Klaus vertiefte sich in seine Untersuchungen und geriet mehr und mehr ins Staunen. Sie fanden einen violetten Quarz, oder Amethyst, einen Saphir, den Klaus als blauen Korund bezeichnete, einen blaugrünen Beryll, den Jochen unter der Bezeichnung Aquamarin kannte und zu guter Letzt zwei Diamanten, einen weißen und einen schwarzen, den der Wissenschaftler mit Karbonado betitelte. Alles in allem hatten sie hier einen Wert von mehreren hunderttausend Mark auf dem Tisch liegen.
»So, jetzt aber raus mit der Sprache«, forderte Klaus, nachdem er die Steine fein säuberlich in einer Reihe auf dem Tisch angeordnet hatte. »Wie kommt ihr zu einer solchen Sammlung ungeschliffener Edelsteine?«
»Raffael hat sie gemacht«, erklärte Vicky, bevor einer der anderen etwas sagen konnte.
Klaus setzte ein leichtes Lächeln auf, aber Jochens ernster Gesichtsausdruck ließ seine Miene wieder erstarren. »Sie hat recht«, sagte Jochen. »Raffael hat die Steine selbst hergestellt.«
»Also, jetzt bin ich wirklich sprachlos«, meinte Klaus. »Zuerst finde ich einen Haufen wertvoller Schmucksteine, die allein reichen würden, um sich einen Wagen der Luxusklasse zuzulegen, und dann bekomme ich zu hören, daß jemand diese Dinger selbst macht. Ich muß schon sagen, Jochen. Deine Witze waren auch schon einmal besser.«
»Es wäre schön, wenn das nur ein Witz wäre«, sagte Jochen. »Aber wir können es dir beweisen.«
Klaus lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Na, da bin ich aber gespannt.«
Jochen blickte Raffael an, der zustimmend nickte. »Zuerst, such dir eine beliebige Flüssigkeit aus, die wir hier im Haus haben.«
»Und warum denn das?«
»Das gehört dazu. Du wirst alles noch verstehen, wenn du es erst einmal gesehen hast. Also, welche Flüssigkeit möchtest du haben?«
Klaus überlegte kurz und wies dann in die Richtung der Wasserhähne. »Von mir aus Spülmittel.«
Überrascht blickte Jochen seinen Freund an. »Das ist eine fabelhafte Idee. Wir haben sonst schon beinahe alles gehabt, aber das noch nicht.« Er stand auf und holte die Plastikflasche von der Spüle, während Raffael sich schon einmal das Handtuch zurechtlegte. »Na gut«, kommentierte Jochen, als er sich wieder am Tisch niederließ. »Dann versuchen wir es mal damit.« Und unter dem verwunderten Blick des Wissenschaftlers goß er eine kleine Menge des grünlichen Spülmittels in Raffaels Handfläche. Dann verschloß der Junge seine Hand und wartete ein paar Sekunden. Schließlich fiel, begleitet von einem leisen Aufschrei, ein lichtgrüner Stein auf das Tuch.
»He, das klappt ja auch«, stellte Björn mit Verwunderung fest. »Eigentlich habe ich gedacht, das Zeug wäre zu dick dafür.«
»Aber mit Milch hat's ja auch hingehauen«, gab Raffael zu bedenken. »Und die ist noch nicht mal durchsichtig.«
»Moment mal«, schaltete Klaus sich ein, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Wo habt ihr jetzt den Stein her? Und wo ist das Spülmittel...« Man konnte ihm richtig ansehen, wie er langsam die Zusammenhänge verstand. »Wie ist das möglich? Das kann doch gar nicht sein!« Er griff nach dem Brocken und begann, ihn eiligst zu untersuchen. Das Ergebnis ließ ihn schaudern. »Borsilikat, mit anderen Worten ein Turmalin. Der ist zwar nicht so wertvoll, man findet schließlich manchmal meterlange Säulen davon, aber es ist unglaublich, was sich da abspielt.«
»Dasselbe haben wir auch gedacht«, sagte Jochen. »Wir haben auch noch keine Erklärung dafür gefunden. Wir wissen nur, wie es dazu gekommen ist.« Er berichtete seinem Freund von den seltsamen Gegenständen, die sein Sohn mit nach Hause gebracht und von der Entladung, die er am eigenen Leibe erfahren hatte. Sie gingen ins Labor, und dort betrachtete Klaus die Metallobjekte, doch auch er konnte nicht herausfinden, wozu sie dienen mochten.
»Und wo habt ihr diese Geräte gefunden?« fragte Klaus, nachdem er sie wieder vor sich auf den Tisch gelegt hatte.
»Zwischen hier und der Autobahnbrücke«, erklärte Raffael. »Da gibt es einen Wald mit einer großen Lichtung. Da waren wir vorhin gewesen.«
»Könnten wir denn... Ich meine, diese Sache ist ja wohl einmalig in der Geschichte der Forschung. Wir sollten versuchen, den Vorgang zu ergründen. Deshalb würde ich mir gerne diese Lichtung, von der ihr gesprochen habt ansehen. Könnt ihr mich und deinen Vater dorthinführen?«
»Na klar«, sagte Raffael. »Kein Problem.«
»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren«, meinte Klaus. »Natürlich nur, wenn du einverstanden bist, Jochen.«
»Und ob ich das bin«, erwiderte er. »Ich bin genauso neugierig wie du. Immerhin könnten wir dafür den Nobelpreis gewinnen.«
Die beiden Männer lachten, während Raffael und Björn nicht ganz begriffen, was daran so komisch war. Den Nobelpreis verlieh man doch an Wissenschaftler, die etwas völlig Neues erfunden hatten. Und das hier war ganz bestimmt noch nicht dagewesen.
Nach Raffaels und Björns Anweisungen lenkte Jochen den dunkelblauen BMW zuerst durch den Ort, um dann in die Bundesstraße einzubiegen. Für die Strecke, die sie heute morgen noch eine halbe Stunde gekostet hatte, brauchten sie nun lediglich zehn Minuten. Dann standen sie auch schon vor dem kleinen Wäldchen, in dem sich der Zugang zur Lichtung verbarg. Hier mußten sie zu Fuß weitergehen, da sich der Waldweg so weit verengt hatte, daß der Wagen keinen Platz zum Durchfahren hatte. Kurz nachdem sie den Wald betreten hatten, erreichten sie den Trampelpfad und bald darauf die große Lichtung. Wie schon die beiden Kinder vorher waren Klaus und Jochen von der Größe der Fläche beeindruckt. Auch sie wunderten sich über die einzeln liegenden Felsen, die sich mitten auf der Lichtung erhoben.
»Da vorne ist es gewesen«, erklärte Björn und wies auf die Findlinge. »Dazwischen hab ich das erste Ding gefunden. Raffael hat dann die Kugel entdeckt, die lag etwas weiter weg.«
»Dann sehen wir uns diese Felsen doch mal aus der Nähe an«, schlug Klaus vor und ging los. Die anderen folgten ihm, während er sich ihrem Ziel näherte. Als sie dann nur noch dreißig Meter von den Findlingen entfernt waren, sahen sie einen kleinen Jungen, der offensichtlich im hohen Gras etwas suchte. Er wanderte immer wieder auf und ab, bückte sich ab und zu und strich regelmäßig mit den Füßen über den Boden. Als er die Neuankömmlinge bemerkte, blieb er stocksteif stehen und starrte sie an. Doch als sich Raffael und seine Begleiter weiter näherten, drehte sich der Junge plötzlich um und rannte auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung zu.
»Warte!« rief Jochen. »Wir tun dir nichts!« Doch das Kind blieb nicht stehen, sondern hielt mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Bäume in der Ferne zu. Bald schon war es nicht mehr zu sehen.
»Was hat der denn?« Björn blickte noch immer in die Richtung, in der das Kind verschwunden war.
»Vielleicht hat er gedacht, wir sind die Förster, die ihn jetzt wegjagen wollen, so wie bei uns damals«, überlegte Raffael.
»Jedenfalls hat er etwas gesucht«, warf Jochen ein. »Es könnte ja sein, daß er weiß, wem diese Kugel und das andere Gerät gehören. Wir sollten ihn zurückholen und es feststellen.«
»Ich gehe«, bot sich Raffael an. »Björn und ich finden ihn schon. Vor uns hat er wahrscheinlich weniger Angst, als vor euch Erwachsenen.« Er gab seinem Freund einen kurzen Wink, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg, den anderen Waldrand zu erreichen. Dort war der Wald ebenso dicht wie an der Stelle, wo der Trampelpfad begann. Sie konnten nicht besonders weit zwischen den Bäumen hindurchschauen. Wer immer sich hier verstecken wollte, er würde so schnell nicht gefunden werden. Nach etwa zehn Minuten gaben sie die Suche auf und kehrten mit dieser Nachricht zu den beiden Männern zurück, die in der Zeit das Gelände nach Hinweisen oder Spuren abgesucht hatten. Auch sie hatten keine Erfolge zu verzeichnen.
»Na, das war ja 'n Schuß in den Ofen«, sagte Raffael. »Was machen wir jetzt?«
»Zuerst einmal fahren wir nach Hause«, erklärte Jochen. »Dort überlegen wir uns dann, wie wir hinter das Geheimnis des Ganzen kommen könnten.« Gemeinsam gingen sie wieder zum Trampelpfad zurück. »Klaus, du könntest doch in der Uni schon einmal die Steine komplett untersuchen, und ich werde ein paar Versuche für Raffael vorbereiten, damit wir wenigstens einen Teil dieses Phänomens endlich enträtseln können.«
»Kein schlechter Gedanke. Schlafen wir erst einmal darüber. Morgen fällt uns womöglich noch etwas ein, das wir jetzt vor lauter Aufregung total vergessen oder übersehen haben.«
Auf ihrer Heimfahrt herrschte größtenteils Schweigen. Sie waren alle in ihre Gedanken vertieft. Klaus verabschiedete sich schließlich mit sichtlichem Widerwillen, und als es Abend wurde, ging auch Björn nach Hause. Jochen hatte Rita von seinem Vorhaben erzählt, daß er Raffael am nächsten Tag in der Universität untersuchen wollte. Er würde also nicht zur Schule gehen können. Einerseits war der Junge begeistert, aber andererseits behagte ihm die Vorstellung, ein Versuchsobjekt zu sein, überhaupt nicht. Besonders, da Vicky immer wieder etwas fand, um ihn in seiner Unsicherheit zu bestärken. »Sie werden dich mit Nadeln stechen«, sagte sie. »Und dann schnippeln sie an dir rum, damit sie dich von innen angucken können. Ganz bestimmt kriegst du auch Medizin!« Dabei machte sie ein solch angewidertes Gesicht, daß Raffael die bittere Flüssigkeit schon schmecken konnte.
Vielleicht war es Vicky, die ihn dazu gebracht hatte, vielleicht auch seine eigene Angst. Jedenfalls konnte Raffael nicht schlafen. Vieles an der ganzen Geschichte zehrte an seinen Nerven. Er wollte auf keinen Fall von allen Seiten betrachtet und untersucht werden. Natürlich war Vicky noch sehr jung und glaubte an alle möglichen Schauermärchen, aber irgendwie hatte sich in Raffael die Vorstellung festgesetzt, man würde mit ihm alles mögliche anstellen, um nur herauszufinden, wie man die Edelsteine machen konnte, ohne Rücksicht auf seine eigene Person. In einem Halbschlaf plagte ihn auch ein Traum, in dem eine Gruppe fremder Männer und Frauen mit weißen Kitteln um sein Bett herum standen und über ihre eigenen Vorstellungen der Untersuchungsmethoden diskutierten, von denen jede einzelne unangenehm genug war, einem das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Als Raffael endlich wieder erwachte, hatte er seinen Entschluß gefaßt: Sie sollten ihr Kaninchen nicht bekommen.
Heimlich zog er die wärmsten Sachen an, die er in seinem Schrank finden konnte, packte etwas zu essen und mehrere Getränkeflaschen in seinen Schultornister und verließ in aller Stille das Haus, um sein Fahrrad aus der Garage zu holen. Nur die Sterne und der dreiviertel volle Mond schienen auf die kleine Siedlung herab. Die Laternen waren hier nicht die ganze Nacht über eingeschaltet, mit ein Grund für die absolute Dunkelheit. Weit in der Ferne war das Geräusch von gelegentlich vorbeifahrenden Autos zu vernehmen, ansonsten herrschte Stille in diesem Teil des Ortes. Leichter Nebel lag in der Luft, dessen Feuchtigkeit sich schon auf den Grashalmen der Vorgärten abgesetzt hatte. Alles in allem war die Stimmung gedrückt genug, um einem zwölfjährigen Jungen gehörigen Schrecken einzuflößen. Plötzlich bereute er seinen Entschluß, dem Haus den Rücken zu kehren, doch es gab kein zurück; er hatte den Schlüssel am Haken hängen gelassen. Es gab für ihn nun keine Möglichkeit, unbemerkt ins Haus zu kommen. Und natürlich wollte er auch nicht klingeln, da das absehbare Konsequenzen mit sich bringen würde. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich mit den widrigen Bedingungen abzufinden. Dann kam ihm ein Einfall. Warum sollte er eigentlich alleine gehen? Björn wäre bestimmt mit von der Partie. Sofort machte er sich auf den Weg zum Haus seines Freundes.
Der Weg zu dem kleinen Einfamilienhaus kostete ihn mehr Mut als alles andere in seinem bisherigen Leben. Überall schienen ihn irgendwelche Gestalten aus den Hauseingängen und Seitengassen anzustarren, die meisten von ihnen trugen weiße Kittel. Nun aber blickte er zum Fenster des Zimmers hinauf, in dem Björn schlief. Die Jalousien waren bis auf schmale Schlitze heruntergelassen worden. Raffael sammelte ein paar kleine Steine vom Kiesweg, der zur Garage führte, auf und begann, sie gegen die Metallplatten des Rollos zu werfen. Ab und an ging einer der Steine daneben und traf mit leisem Klacken die Hauswand, aber er traf oft genug, um Björn zu wecken, der schließlich die Jalousien hochzog und das Fenster öffnete. »Was ist los?« rief er leise zu Raffael hinunter. »Es ist zwei Uhr nachts, Mann. Was machst du hier?«
»Ich bin abgehauen«, erklärte Raffael ebenso leise. »Ich will mich nicht aufschnipseln lassen. Aber alleine wird es mir langweilig. Kommst du mit?«
»Sag mal spinnst du? Ich kann doch nicht einfach weglaufen! Außerdem, wo willst du überhaupt hin? Es wird nicht lange dauern, bis uns die Polizei wieder einsammelt.«
»Dann müssen wir uns eben gut genug verstecken«, sagte Raffael. »Was ist? Kommst du, oder bist du zu feige?«
Björns entrüsteter Gesichtsausdruck war sogar in der herrschenden Dunkelheit zu erkennen. »Wer ist hier feige? Ich habe keine Angst.«
»Also gut. Dann warte ich hier. Wenn du in zehn Minuten nicht da bist, weiß ich, daß du doch Schiß gekriegt hast.« Er wandte sich ab und trat auf die Straße. Insgeheim lachte er über das gestellte Ultimatum. Wenn Björn wüßte, daß er genausoviel Angst hatte, wie er, würde er bestimmt nicht rauskommen. Aber das mußte er ja nicht unbedingt wissen. Hauptsache, er kam überhaupt.
Tatsächlich öffnete sich die Haustür nur wenige Minuten später. Björn hatte sich offensichtlich auf eine längere Abwesenheit vorbereitet. Auch er trug einen Schultornister, aber außerdem hielt er noch seine Taschenlampe und zwei dicke Beutel, in denen, wie Raffael wußte, das kleine Zelt verstaut war. Sie teilten das Gewicht untereinander auf, dann holte Björn sein Rad, und sie fuhren los.
»Wohin willst du eigentlich?« fragte Björn, als sie sich auf den Weg machten.
»Mal sehen«, gab sein Freund zurück. »Auf jeden Fall erst einmal weit weg. Vielleicht bis runter zum Militärgelände. Da gibt es genug Platz, um sich zu verstecken.«
»Da haben wir aber noch ganz schön was vor uns.« Björn dachte an die lange Landstraße, die bis zu dem Flughafen führte, der etwas außerhalb des Ortes lag und in ein paar Jahren aufgelöst werden sollte. Sie waren schon öfter mit den Rädern dort gewesen, aber immer bei Tageslicht. Mitten in der Nacht hatte diese Strecke eine ganz andere Erscheinung, zumal sie an manchen Stellen quer durch ein Waldgebiet führte. Auch dort gab es nur wenig Licht, sie mußten sich mit den Dynamos abkämpfen, während sie die lange Straße entlangfuhren. Und als sie die, eigentlich recht leichte, dafür aber langgezogene, Steigung erreichten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzusteigen und zu schieben. Das ungewohnte Gewicht auf ihren Rücken machte die Fahrt nicht einfacher. Dazu kam noch die unbestimmte Erwartung, entdeckt zu werden. Natürlich wußte noch niemand von ihrem Verschwinden, aber es war klar, daß zwei Jungen unter sechzehn Jahren mit Schultornistern und einem Zelt sofort verdächtig wirken mußten. Zwar würde kaum einer der Autofahrer anhalten und sie ausfragen, aber was, wenn sie plötzlich einem Streifenwagen begegneten? Es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als das beste zu hoffen.
Nach gut einer Stunde fanden sie die Einmündung in den Wald. Von hier aus ging es wieder bergab, vorbei an einem größeren Platz, der für parkende Autos angelegt worden war und schließlich mitten zwischen die Bäume. Schlagartig war alles Licht der Umgebung verschwunden. Nur die schwachen Lichtkegel ihrer Vorderlichter dienten ihnen als Orientierungshilfe. Glücklicherweise waren sie schon oft hier gewesen, so fiel ihnen die Orientierung nicht allzu schwer. Dennoch war es etwas ganz anderes, wenn man unvermittelt mitten in der Nacht in einem Wald stand und wenn man ihn auch noch so gut kannte. Als sie der Meinung waren, weit genug zwischen die Bäume gelangt zu sein, schoben sie die Räder vom Weg fort ins Unterholz. Im Licht von Björns Taschenlampe bahnten sie sich ihren Weg noch mehrere hundert Meter durch das dichte Gestrüpp, bis sie endlich einen ausreichenden Platz für ihr Zelt ausfindig gemacht hatten. Dort ließen sie ihre Räder auf dem Waldboden liegen und bedeckten sie vorsorglich mit Tannenzweigen, damit sie vom Weg aus nicht gesehen werden konnten. Auf die Idee, ihr Zelt ebenfalls zu tarnen, kamen sie nicht.
Der nächste Morgen brach mit wolkenrotem Sonnenaufgang an. Der nächtliche Nebel verzog sich schon bald, je wärmer es wurde. Es schien, daß es heute etwas höhere Temperaturen als gestern geben würde, doch hatte man für den Nachmittag Regen angesagt. Rita schaltete ihren Radiowecker ab und stand, immer noch müde, auf, um ihren Sohn zu wecken. Schließlich hatten er und Jochen noch eine Menge vor. Danach würde sie gleich in der Schule anrufen, damit man dort Bescheid wußte. Leise öffnete sie die Tür zum Kinderzimmer und ging an das Bett ihres Sohnes.
»Jochen! Wach auf, Jochen!«
Er hörte die Stimme seiner Frau wie durch Watte hindurch, während er unsanft geschüttelt wurde. Dann schlug er die Augen auf und bemerkte, daß sie eine sehr besorgte Miene aufgesetzt hatte. »Was ist los? Wie spät ist es?« Er wollte sich umdrehen, um auf die Uhr zu sehen, aber Rita hielt ihn zurück.
»Jochen! Es ist doch egal, wie spät es ist. Raffael ist nicht mehr da!«
Sofort war ihr Mann hellwach. »Was? Das gibt es nicht. Wo ist er hingegangen?« Er war bereits aufgestanden und zog sich nun seine Hausschuhe an.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte Rita aufgeregt. »Im Bett ist er nicht, und auch in der Wohnung habe ich ihn nicht gefunden. Sein Fahrrad ist auch weg.«
»Hast du schon bei Barbara angerufen? Vielleicht ist er ja dort.«
Es stellte sich heraus, daß Björn ebenfalls nicht mehr zu Hause war. Barbara hatte gerade vorgehabt, bei Raffael anzurufen, aber anscheinend waren beide Kinder nicht mehr da. Es schien sich aber nicht um eine Art Entführung zu handeln, denn schließlich waren auch die Schulranzen und die Fahrräder nicht mehr an ihren Plätzen. So blieb nur noch ein Anruf bei der Polizei, die sie aufforderte, auf der Wache zu erscheinen und Fotos der vermißten Kinder mitzubringen. Allerdings wurden sie angehalten, in der Nachbarschaft zu suchen und nachzufragen, da die meisten der Kinder wenig später wieder auftauchten. Dennoch würde man eine Fahndung einleiten und die Beschreibung der beiden Jungen an alle Streifenwagen durchgeben, wenn sie die Fotos hatten. Außerdem erhielten sie den Rat, sich bei den umliegenden Krankenhäusern zu erkundigen, ob sie vielleicht dort eingeliefert worden waren.
Raffael und Björn ahnten nichts von der Aufregung, die sie verursacht hatten, als sie schließlich in ihrem Zelt wach wurden. Ein Blick nach draußen zeigte Raffael, daß es bereits hellichter Tag war. »Björn! Wach auf, es wird Zeit.« Er wollte seinen Freund gerade leicht schütteln, doch im letzten Moment fiel ihm ein, daß er das besser nicht tun sollte. »Nun komm schon, steh auf.« Er beugte sich über Björn und pustete ihm kräftig ins Gesicht.
»Häh? Was soll das?« Als Björn wach wurde, blickte er in die hellbraunen Augen seines Freundes. »Ach so, du bist das. Wie spät ist es?«
»Weiß nicht, ich hab keine Uhr, aber es ist ziemlich hell. Wir sollten uns auf den Weg machen.«
Björn richtete sich auf, gähnte und streckte seine Glieder. »Jetzt schon? Außerdem, wohin? Wir haben noch nicht mal was gegessen.«
Sie einigten sich darauf, nach dem Frühstück weiter zu wandern. Aus ihren mitgebrachten Brotschnitten und Raffaels Getränken bedienten sie sich, und nachdem sie satt waren, begannen sie, das Zelt abzubauen. Sie hatten gerade die Mittelstangen herausgezogen, da hörten sie eine Stimme, während das Zelt langsam in sich zusammenfiel. Als sie sich umblickten erkannten sie einen Mann, der quer durchs Unterholz auf sie zugestapft kam. Er rief ihnen etwas zu, doch sie konnten ihn aus dieser Entfernung noch nicht verstehen. Aber eigentlich war es auch egal, er durfte sie nicht zu fassen kriegen; dann wäre es aus mit der Flucht. Schnell packten sie den Rest ihrer Sachen zusammen und hoben ihre Räder auf. Das nahm der Mann zum Anlaß, loszurennen. Wenige Sekunden später hatte er Björns Fahrrad gepackt und hinderte ihn so daran, loszulaufen. »Bleibt hier, ihr zwei«, sagte er. »Was habt ihr hier verloren?«
»Loslassen«, forderte Björn. »Lassen Sie uns in Ruhe.«
Raffael war schon ein paar Meter weit weg, aber als er bemerkte, daß Björn ihm nicht mehr folgen konnte, hielt er an, ließ sein Rad wieder liegen und kam zu seinem Freund zurück. »Was wollen Sie von uns?« fragte er.
Der Mann ließ Björns Fahrrad los und stellte sich in gebieterischer Pose vor den beiden hin. »Ich will wissen, was ihr hier um diese Zeit zu suchen habt. Solltet ihr nicht in der Schule sein?«
»Das geht Sie gar nichts an«, gab Raffael trotzig zurück.
»Und ob mich das etwas angeht, junger Mann. Außerdem, warum seid ihr alleine hier mit eurem Zelt? Wo sind eure Eltern?« Weder Björn noch Raffael antworteten ihm. »Also gut, wenn ihr nicht reden wollt, werde ich euch mit zu mir nehmen. Dort rufe ich dann die Polizei an, die kann euch hier abholen.«
»Das dürfen Sie gar nicht«, erwiderte Björn. »Das ist Kidnapping, damit Sie es wissen.«
Der Mann grinste und ergriff Björns Arm. »Kommt jetzt erstmal mit. Ich entscheide dann, was mit euch passiert. Jedenfalls werden sich eure Eltern schon Sorgen machen, so wie's aussieht.« Mit diesen Worten ging er auf Raffael zu und versuchte, ihn ebenfalls zu ergreifen. Aber Björn riß sich noch rechtzeitig los, bevor der Mann den anderen Jungen zu fassen bekam. Zuerst war er überrascht, daß sich der Kleine hatte befreien können, dann aber durchströmte ihn ein krampfartiges Zittern, und er sah einen Moment später gar nichts mehr.
Björn rannte zu seinem Freund, der zusammen mit dem großen Kerl zu Boden gegangen war. Anscheinend war ihm nichts passiert, er richtete sich schon wieder auf. Doch der Erwachsene blieb an der Stelle liegen, wo er zusammengeklappt war. Die beiden konnten allerdings sehen, wie sich der Brustkasten des Mannes hob und senkte. Schnell packten sie das Zelt richtig zusammen und machten, daß sie von diesem Ort verschwanden. Wenn er wieder wach werden sollte, waren sie hier bestimmt nicht mehr sicher.
Sie schoben ihre Räder nun schon eine geraume Zeit quer durch den Wald, bis sie auf die Landstraße stießen, die sie gestern abend verlassen hatten. Anscheinend waren sie weiter oben herausgekommen, als sie beabsichtigt hatten, denn das nächste Dorf lag nun in Sichtweite vor ihnen. Doch beide waren der Meinung, daß sie sich so wenig wie möglich sehen lassen sollten, also überquerten sie die Straße und suchten sich einen Feldweg, der nahe an der Abgrenzung zum Militärflughafen entlangführte. Zu ihrer Linken lag ein freies Feld, rechts der Zaun und dahinter der Wald. Jetzt konnten sie endlich aufsitzen und weiterfahren, aber dann hielt Björn plötzlich an. »Warte mal. Ich könnte mich täuschen, aber ich glaube, mir ist heute morgen was aufgefallen.«
»Was denn?«
»Komm mal her. Ich zeig's dir.« Raffael stieg von seinem Rad ab und schob es zu Björn hinüber. »Gut. Sag mir, welche Augenfarbe hast du?«
»Was soll das denn für 'ne Frage sein? Dunkelbraun natürlich.«
Björn wies auf den Lenker seines Rades. »Siehst du? Dasselbe habe ich auch gedacht. Aber wenn du mal hier in den Spiegel guckst, wirst du dein blaues Wunder erleben.«
»Eigentlich ist mir jetzt nicht nach einem Witz zumute«, maulte Raffael, aber er betrachtete sich in dem kleinen Rückspiegel, bis ihm auffiel, daß er nunmehr hellbraune Augen hatte. »He, da stimmt was nicht! Bleiche ich etwa aus oder was?«
»Keine Ahnung. Ich hab jedenfalls immer noch graue Augen. Es muß also an dir liegen.«
»Oder an den Kristallen«, überlegte Raffael. »Wer weiß, vielleicht gibt sich das ja auch wieder. Geschadet hat's mir jedenfalls noch nicht. Ich sehe alles ganz klar und deutlich.«
»Ist mir ja auch nur aufgefallen. Aber damit du's weißt, das gefällt mir nicht. Ich werde dich wohl beobachten müssen.«
»Keine Überwachungen, wenn ich bitten darf«, beschwerte sich sein Freund mit näselnder Stimme. »Ich habe immer noch mein Recht auf Privatsphäre.« Lachend schwang er sich auf sein Rad, und Björn folgte dichtauf. Weiter fuhren sie, immer den schmalen Sandweg entlang.
Jochen stoppte den BMW vor dem Haupteingang des Polizeigebäudes. Barbara und Heinz waren mitgekommen, um den Beamten die Fotos ihres Sohnes vorzulegen. Rita war zu Hause geblieben, sie wollte am Telefon bleiben für den Fall, daß Raffael sich melden sollte. Gemeinsam betraten sie nun das Gebäude und gingen zuerst zur Anmeldung, wo sie den Grund ihrer Anwesenheit erklärten.
Nach einer kurzen Wartezeit wurden sie von einem jungen Mann in Uniform begrüßt. »Herr Tomberg, Herr und Frau Francke, mein Name ist Ludwigs, ich leite die Vermißtenabteilung des Bezirks. Bitte folgen Sie mir in mein Büro, dort werden wir Ihren Fall aufnehmen.« Er ging durch den Flur voraus und führte sie in einen kleinen Raum, in dem einige Stühle und ein Schreibtisch standen. Er bat die drei Platz zu nehmen, während er sich hinter den Tisch setzte und ein paar Papiere hervorholte. Dann wandte er sich an Jochen: »Also, Sie haben uns gemeldet, daß Ihr Sohn seit heute morgen verschwunden ist, richtig? Gut. Daraufhin riefen Sie bei der Familie Francke an, die dann dieselbe Tatsache bemerkte. So weit also korrekt. Haben Sie schon bei den restlichen Nachbarn angefragt?«
»Ja, aber von denen hat sie niemand gesehen.«
Der Beamte schrieb etwas in sein Formular, dann blickte er wieder auf. »Auch in den Krankenhäusern der Umgebung kein Erfolg? So so. Dann werden wir der Sache sofort nachgehen. Sie haben die Fotos dabei? Dann schreiben Sie mir bitte die Namen der Kinder hinten auf das Bild, damit wir sie dann sofort zuordnen können.« Jochen und Barbara folgten den Anweisungen des Mannes und gaben ihm dann die Bilder. »Wissen Sie, was die Kinder bei sich haben, oder welche Kleidung sie tragen? Wann ungefähr sind sie verschwunden?«
Die Befragung dauerte noch eine Weile an, aber endlich waren die Formalitäten erledigt. Schließlich wurden sie nach Hause geschickt, denn für sie war hier alles erledigt.
Jochen war nun schon eine ganze Zeit lang unentschlossen auf und ab gegangen. Einerseits war es die Sache der Polizei, nach den Kindern zu suchen, aber andererseits nagten Zweifel an seiner Seele. Er war immerhin der Vater, also mußte er etwas unternehmen. Aber auf eigene Faust zu suchen hätte wohl wahrscheinlich auch keinen Zweck. Rita war inzwischen mindestens genauso beunruhigt wie er, doch war es nicht ihre Art, wie ein aufgescheuchtes Huhn in der Wohnung herumzugeistern. Sie hatte sich still in einen der Sessel gesetzt und starrte jetzt vor sich hin.
Beide erschraken, als unvermittelt das Telefon läutete. Jochen erreichte es als erster und hob hastig den Hörer ab. »Tomberg, hallo?«
»Hier ist nochmal Ludwigs vom Polizeibüro. Wir haben soeben einen Anruf erhalten, daß zwei Kinder, auf die Ihre Beschreibung paßt, in der Nähe des Militärflughafens gesehen worden sind. Es scheint, als hätten wir sie gefunden.«
»Was? Das ist ja phantastisch. Wo sind sie jetzt?«
»Das wissen wir nicht genau. Es kann sich aber nur noch um wenige Stunden handeln, bis wir sie auf dem Revier haben. Wir werden uns dann wieder melden, wenn es soweit ist.«
»Ja, und haben Sie vielen Dank.« Er verabschiedete sich und legte erleichtert auf. »Sie haben sie gefunden. Zumindest eine Spur von Ihnen. Er sagt, wir werden sie bald abholen können.«
Gegen Mittag machten sie Halt. Sie schoben die Räder ein Stück in den Wald hinein und setzten sich dann auf einem umgestürzten Baumstamm hin, um etwas zu essen. Viel hatten sie nicht mehr, aber es würde wohl noch einen Tag lang reichen. Langsam begannen sie das Leben auf eigenen Füßen zu genießen. Es war fast so, als wäre man in einer ganz anderen Welt, so wie in ihrem Rollenspiel, das sie ab und an bei Harald spielten. Jeder von ihnen übernahm einen Charakter in einer Phantasiewelt, und gemeinsam zogen sie dann los, um gefährliche Abenteuer zu bestehen.
Dieses Abenteuer ließ nicht lange auf sich warten. Sie hörten wenig später einen Wagen, der langsam den Feldweg entlangfuhr. Schnell verbargen sie sich hinter dem Stamm und legten sich flach auf den Waldboden. Wie sie sehen konnten, war es ein grün-weiß gestreiftes Auto mit Blaulicht. Sie suchten also nach ihnen. Raffael wollte gar nicht daran denken was geschah, wenn sie gefunden wurden. Papa würde sehr sauer sein und Mutti auch. Besser, wenn sie sich versteckten.
Der Wagen fuhr weiter, anscheinend hatten die Beamten sie nicht gesehen. Es war nun klar, daß sie in Zukunft etwas vorsichtiger bei der Wahl ihrer Wege sein mußten. Bald war der Polizeiwagen außer Sicht, und sie kamen aus ihrem Versteck hervor. Schnell nahmen sie die Rucksäcke wieder auf und gingen zurück zum Weg, den sie jetzt wesentlich aufmerksamer entlangfuhren. Den nächsten kleineren Weg bogen sie ein, denn hier hatte kein Auto Platz. Wohin sie der Pfad führen würde, wußten sie nicht, sie wollten sich einfach überraschen lassen, dann war alles noch aufregender.
Da sie keine Uhr bei sich hatten, wußten sie auch nicht, wie spät es war, aber sie waren schon recht lange unterwegs, bis sie auf eine breitere Straße kamen. Mittlerweile waren sie schon so weit von ihrem Heimatort entfernt, daß sie sich etwas sicherer fühlten. Aber mit einem hatten sie nicht gerechnet. In der Zeit, die sie im Wald waren, hatte sich am Himmel eine ziemlich dicke Wolkenschicht gebildet, die nun begann, ihre feuchte Fracht über der Landschaft abzuladen. Nur wenige Sekunden, nachdem sie es bemerkt hatten, goß es auch schon in Strömen.
»So ein Mist«, rief Raffael aus. »Gerade jetzt! Los, unter die Bäume, da sind wir etwas geschützt.« Er stieg ab und wollte sein Rad ins Unterholz schieben, als er plötzlich von Krämpfen geschüttelt zu Boden fiel. Um ihn herum breiteten sich bläuliche Lichtbogen aus. Mit leisem Klingeln fielen ein kleiner Edelstein nach dem anderen auf die regennasse Straße. Björn versuchte, sich seinem Freund zu nähern, um ihm zur Hilfe zu kommen, aber er traute sich nicht an den Blitzen vorbei. Es dauerte beinahe eine Minute, bis es vorbei war. Raffael lag auf dem Rücken inmitten eines Haufens der weiß-durchsichtigen Steine und rührte sich nicht mehr. Jetzt kam Björn gefahrlos an ihn heran und versuchte, ihn wachzubekommen. Er tätschelte seine Wange, rief seinen Namen, aber Raffael reagierte nicht. Zumindest war noch ein Herzschlag zu spüren. Dann hielt Björn inne. Er hatte seinen Freund berühren können! Der Spuk war vorbei. Für den Moment jedenfalls. Doch trotzdem mußte etwas geschehen. Zuerst zog er Raffael von der Straße, verstaute das Rad im Unterholz des Waldes und fegte mit dem Fuß die Steine weg. Er mußte ihn zu einem Arzt oder besser gleich in ein Krankenhaus bringen. Nur wo fand man mitten auf dem Land so etwas? Kurz entschlossen hob er den regungslosen Körper seines Freundes auf sein Rad und schob ihn vorsichtig die Straße entlang. Wenn ein Auto vorbeikam, würde er versuchen, es anzuhalten, damit er so schnell wie möglich zu einem Arzt kam.
Doch dieses Unternehmen war, wie es sich erwies, leichter gesagt als getan. Zum einen kamen sie nicht besonders schnell voran, da Björn immer wieder das Gleichgewicht stabilisieren mußte, zum anderen schien keiner der Autofahrer bereit zu sein, anzuhalten. Endlich fand sich doch jemand, der Besitzer eines silbernen Austin, der einige Meter voraus an den Straßenrand fuhr und dort stoppte. Erleichtert schob Björn das Rad bis zu ihm hin. Der Mann hatte das Fenster heruntergedreht und sprach ihn an, doch er konnte ihn nicht verstehen, da er eindeutig Engländer war. Er gehörte wohl zu den hier stationierten Soldaten, und obwohl Björn in der Schule nun schon das zweite Jahr Englischunterricht bekam, verstand er doch so ziemlich gar nichts von dem, was der Mann sagte. Also versuchte er selbst, sich verständlich zu machen. Mit Worten wie »ill« und »doctor« erklärte er dem Mann, was er von ihm wollte. Schließlich hatte dieser die Situation begriffen und die Beifahrertür geöffnet, damit Björn und sein bewußtloser Freund einsteigen konnten. Doch zuvor schob er auch sein Rad in den Wald, er konnte es sich ja später wieder holen. Gleich darauf fuhren sie los.
Erneut klingelte bei den Tombergs das Telefon. Der Beamte informierte sie, daß sie die Fahrräder der beiden Jungen auf der Landstraße zur Grenze hin gefunden hatten, die Kinder aber weiterhin verschwunden blieben. Außerdem hatte man noch etwa fünfzig oder sechzig weiße Kristalle bei den Rädern entdeckt. Doch man gab sich zuversichtlich, daß es nur noch kurze Zeit dauern konnte, bis alles ausgestanden war.
Während der schnellen Fahrt über die Landstraße, begann Raffael, sich zu regen. Zuerst waren es nicht mehr als reflexartige Zuckungen eines Fingers oder der Hand, doch nach ein paar Minuten öffnete er die Augen. Zuerst konnte er nichts erkennen, alles war verschwommen. Dann aber nahm er die Geräusche eines fahrenden Autos wahr und erkannte endlich, wo er war.
»Bist du wach?« fragte Björn erleichtert. »Mann, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.«
»Was ist passiert?« fragte Raffael matt. Er fühlte sich unglaublich schwach, so daß er nur ein Flüstern zustande brachte.
»Du bist im Regen umgekippt. Wahrscheinlich ein Kurzschluß. Aber eine Menge Steine hast du dort liegenlassen. Du liebe Güte«, stieß er plötzlich hervor.
»Was?«
Björn entschied sich dafür, seinen Freund besser nicht noch mehr aufzuregen. Deshalb sagte er ihm nicht, daß er nun keine eindeutige Augenfarbe mehr hatte, die Iris war transparent geworden. »Ich meine nur, das hätte dich fast umgebracht. Wir bringen dich jetzt zu einem Arzt. Unsere Flucht ist wohl in die Hose gegangen.«
»Sie werden mich von allen Seiten untersuchen«, sagte Raffael beunruhigt.
»Aber das ist doch notwendig«, versuchte Björn seinen Freund zu beruhigen. »Ansonsten sieht es schlecht für dich aus. Also, mach dir weniger Sorgen um die Ärzte, die wissen schon, was sie tun müssen. Ruhe dich jetzt besser etwas aus. Wir sind gleich da.«
Nachdem Raffael von zwei Pflegern in die Notaufnahme gebracht worden war, mußte Björn einer Krankenschwester alles erzählen, was vorgefallen war. Bald darauf wurden seine und Raffaels Eltern, sowie die Polizei benachrichtigt. Der junge Mann, der sie gefahren hatte, wurde ebenfalls befragt, und nun saßen sie beide in einem der Aufenthaltsräume des Krankenhauses und warteten auf Nachricht, wie es Raffael ging.
Es dauerte gut eine Stunde, bis Björn und Eric, der Fahrer, zusammen mit seinen Eltern und denen von Raffael am Bett des Jungen standen. Die Ärzte hatten außer eines allgemeinen Schwächezustandes nichts diagnostizieren können, und so wurden ihm ein paar Tage Bettruhe unter Aufsicht verordnet. Die transparenten Augäpfel aber konnten sie nicht erklären. Barbara hatte, nachdem sie im Aufenthaltsraum angekommen war, ihren Sohn heftig umarmt, um ihn daraufhin um so heftiger zu beschimpfen. Bald aber waren die Sorgen verflogen, doch Björn mußte seiner Mutter versprechen, nie wieder einfach so zu verschwinden.
»Die Ärzte waren sich noch nicht einig, womit dieses merkwürdige Phänomen zu beschreiben sein könnte«, erklärte die Krankenschwester gerade, die in Raffaels Zimmer stand. »Sie hatten bisher noch nichts Vergleichbares erlebt. Normalerweise wird ein Mensch als Albino geboren, aber daß ihm während seines Lebens die Augenfarbe verloren geht, war noch nie dagewesen.«
»Aber sehen konnte er vorhin noch«, sagte Björn. »Er hat es mir selbst gesagt.«
Das Gespräch verstummte, als sich die Tür des Zimmers öffnete und ein Mann mit weißem Kittel eintrat. »Ich bin Doktor Weither«, stellte er sich vor. »Der Chefarzt hat mich herbestellt, weil wir an unserem Institut mit solchen ungewöhnlichen Fällen arbeiten. Schwester, besorgen Sie mir doch bitte die Krankenakte des Jungen hier.«
»Ja, Doktor.« Die junge Frau verließ den Raum.
»Wissen Sie schon, was ihm fehlt?« fragte Rita, während der weißgekleidete Mann an das Bett des Jungen ging. Björn hielt den Atem an, sagte aber nichts.
»Ziemlich genau sogar«, sagte der Mann. »Er hat einen Kristallschock.« Rita und die anderen tauschen überraschte Blicke. »Seinem Körper wurde innerhalb kürzester Zeit eine Menge Energie entzogen. Ich werde ihm ein Mittel geben, das ihn innerhalb von vier oder fünf Stunden wieder auf die Beine bringt.«
»Wieso nennt man diese Schwäche denn Kristallschock?« fragte Jochen.
»Ich denke, Sie wissen, warum. Und wenn nicht, dann fragen sie den kleinen Freund ihres Sohnes, der wird Ihnen noch mehr erzählen können, nicht wahr?« Der Doktor hielt eine Spritze in der Hand, deren Nadel er jetzt behutsam in Raffaels Oberarm einstach. »So, das sollte reichen«, meinte er, nachdem er das Instrument wieder herausgezogen und ein winziges Pflaster über die Einstichstelle geklebt hatte.
»Woher wissen Sie von den Kristallen?«
Der Mann steckte seine Spritze wieder weg und stellte sich ans Fenster, mit dem Rücken zu den restlichen Besuchern. »Ich weiß noch eine ganze Menge mehr, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich bin auch kein Doktor, sondern nur ein besorgter Vater, der einmal nicht auf seinen übermütigen Sprößling acht gegeben hat. Eigentlich ist es meine Schuld, daß Ihr Sohn in diese Lage geraten ist, deshalb bin ich gekommen. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, das Risiko, das ich eingehe ist sehr hoch, aber es muß sein, denn es war nun einmal mein Fehler. Ich hätte eben besser aufpassen müssen. Doch ich verspreche Ihnen, so etwas wird nie wieder passieren. Ich habe mit meinem Sohn schon ein ernstes Wort gesprochen. Aber ich möchte Sie bitten: Wenn der Junge wach wird, sein Sie nicht zu streng mit ihm, er ist eben noch ein Kind.«
Damit wandte er sich um und verließ den Raum, verfolgt von ungläubigen Blicken. Jochen lief ihm nach, doch als er auf den Flur trat, war der angebliche Doktor verschwunden. Nicht ein Mensch war auf dem Korridor zu sehen. »Er ist weg«, sagte er, als er wieder ins Zimmer zurückkam. »Einfach weg.«
»Das ist doch gar nicht möglich«, sagte Rita, aber dann dachte sie darüber nach, wie oft sie diesen Satz in der letzten Zeit schon gesagt hatten.
Björn hatte scheinbar als einziger begriffen, wer der Doktor wirklich war. Aber er hatte ja auch als einziger die transparenten Augäpfel des Mannes gesehen.
ENDE