Die Katze am Fenster
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)14.02.1995)
Hell schien die Sonne in die belebte Einkaufspassage hinein. Der Samstagmorgen war beinahe vorbei, und die Menschen der Stadt beeilten sich, noch Besorgungen zu machen, ehe die Geschäfte ihre Türen schlossen. An der Apotheke zeigte das Thermometer zehn Grad an, es wurde langsam wieder wärmer. Endlich hatte der Winter nun zugunsten des Frühlings aufgegeben, der Himmel war nun klarer und die Wolken heller als vor noch einer Woche. Viele Anwohner der Passage hatten die Fenster ihrer Wohnungen einen Spalt geöffnet, um die frische Luft hereinzulassen. Doch ein paar blieben geschlossen, und eines davon besaß noch nicht einmal mehr Gardinen. Hinter diesem Fenster wurde seit kurzem kräftig geräumt und gearbeitet. Doch die meisten Bewohner der Straße bemerkten die Veränderung gar nicht.
»Seid vorsichtig«, mahnte Jennifer, die ihren beiden Helfern nachblickte, als sie die dreisitzige Couch behutsam die schmale Treppe hinuntertrugen. »Das Ding ist ganz schön schwer.«
»Halb so schlimm«, erwiderte Oliver, der vorausging. »Mir wäre es lieber, wenn das Teil etwas kürzer wäre. Die Biegung ist hier ziemlich haarig.« Christian und sein Freund stellten das Möbel hochkant und trugen es um die bewußte Stelle herum, ehe sie die Couch wieder waagerecht kippten. Der Rest des Treppenhauses war zwar ebenso schmal, aber nicht ganz so verwinkelt, wie der Aufgang zum zweiten Stockwerk.
Mit Schaudern dachte Jennifer an die steilen Stufen der neuen Wohnung. Dort würden sie noch mehr Probleme bekommen, das stand jetzt schon fest. Aber der Umzug mußte sein, sie konnte die Miete alleine schließlich niemals aufbringen. Und nachdem sich Michael während der letzten Monate zu einem solch langweiligen Idioten entwickelt hatte, war ihr vor einiger Zeit der Kragen geplatzt. Nach einem dicken Streit, der mehr als einmal die Nachbarn auf den Plan gerufen hatte, gab es für ihren Freund nur noch eine Konsequenz. Michael war ausgezogen und hatte sie mit der Wohnung alleine gelassen. Zum Glück bekam Jennifer von ihrer Mutter einen gewissen finanziellen Rückhalt, bis sie den Umzug hinter sich hatte, sonst hätte sie wahrscheinlich noch einen Kredit aufnehmen müssen, um die letzten drei Monate ihre Miete zahlen zu können.
Christian und Oliver waren ihr eine große Stütze gewesen. Sie halfen ihr, die schweren Möbel und Küchengeräte zu tragen und brachten sie in die neue Wohnung, die allerdings wesentlich weniger Platz als diese bot. Von einigen Sachen hatte sie sich trennen müssen, doch die Auswahl war ihr nicht schwer gefallen. Den mächtigen Wohnzimmerschrank brauchte sie ohnehin nicht, und man konnte auch ohne Frisierkommode leben.
Nachdenklich packte sie ein paar Kleinteile in die Umzugskartons. Es stimmte sie schon ein wenig traurig zu sehen, wie die Wände der Wohnung immer kahler wurden. Ein riesiger, weißer Fleck gähnte dort, wo vor ein paar Stunden noch der Schrank gestanden hatte. So sah es mittlerweile überall aus. Nur waren hier die Wände wenigstens noch weiß. In ihrem neuen Zuhause würde sie wohl noch einiges zu tun bekommen. Dort hatte es vor längerer Zeit einmal einen Wasserschaden gegeben, von dem man an den Wänden eines Raumes immer noch die braunen Ränder sehen konnte. Die Eimer mit Farbe standen an dieser Stelle schon bereit, aber damit wollten sie warten, bis sie die alte Wohnung endgültig ausgeräumt hatten. Die übrigen Zimmer hatten sie bereits in der letzten Woche fertig tapeziert, in ihnen würde sich fürs erste genug Platz für die Möbel finden.
Christian kam mit seinem Freund wieder die Treppe herauf. Sie ließen sich zwar nichts anmerken, aber ihre Köpfe waren rot vor Anstrengung, wie Jennifer belustigt feststellte. »Noch ein paar Kartons, und die Karre ist voll«, erklärte Oliver. »Dann können wir gleich rüberfahren. Welche Kisten sollen als erstes raus?« Er deutete auf die gestapelten Pakete an der Dielenwand.
»Einfach von oben runter«, meinte Jennifer, die sich einen der Kartons nahm. »Eigentlich ist es egal, was wir wann mitnehmen.«
Die beiden jungen Männer beluden sich mit je zwei Paketen, und Jennifer schloß die Wohnungstür hinter sich. Oliver hatte recht gehabt, der Wagen quoll schon fast über vor Einrichtungsstücken. Sie quetschte sich mit ihrem Karton auf den Rücksitz, und dann startete Christian seine Caravelle. Gleich darauf bogen sie in die Hauptstraße ein, der sie bis zu ihrem Ziel folgten.
Wie Jennifer erwartet hatte, gestaltete sich der Aufstieg um eine Stufe schwieriger. Auch hier befand sich die Wohnung in der zweiten Etage, doch gab es nun zwei dieser engen Biegungen zu bewältigen. So dauerte es doppelt so lange, die Couch hinaufzutragen, und die beiden Männer mußten sich danach erst einmal fünf Minuten ausruhen, bevor sie sich an die übrigen Sachen machten. Langsam aber sicher nahmen die Räume Gestalt an. Die vorher nackten Wände wurden nun von Möbeln und Bildern verdeckt, in der Küche stand bald schon eine richtige Spüle statt des kleinen Waschbeckens, der Flur wirkte durch die bunte Deckenlampe gleich viel einladender.
Bis zum Abend hatten sie endlich die restlichen Sachen aus der alten Wohnung hergebracht. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl für Jennifer, die Tür zum wahrscheinlich letzten Mal zu schließen. Die Tür, hinter der sie sechs Jahre lang glücklich mit Michael zusammen gelebt hatte, bevor sich alles so drastisch verändert hatte. Ihr war bewußt, wie viele angenehme Kleinigkeiten sie aufgeben mußte - die unmittelbare Nähe der Einkaufspassage war nur eine davon. Genauso wußte sie aber auch, daß sie hier nie eine bezahlbare Unterkunft für sich gefunden hätte. Draußen sah sie sich noch einmal um. Die hell leuchtenden Laternen und die strahlenden Geschäftsschilder würden ihr fehlen. Ihr Blick strich über die gegenüberliegende Häuserwand. Eine Katze saß aufrecht hinter einem Fenster und blickte zu ihr herüber. Nachdenklich fuhr Jennifer sich durch die langen, braunen Locken. Sie hatte hier noch nie eine Katze gesehen. Vielleicht wohnte dort auch jemand anderes als bisher. Olivers ungeduldiger Ruf riß sie aus ihren Gedanken. Nur nicht sentimental werden. Es wird schon alles gutgehen. Dann wandte sie sich entschlossen um und gesellte sich zu ihren beiden Freunden in den Wagen, dessen Motor Christian schon angelassen hatte.
Der nächste Tag war ganz damit ausgefüllt, die restlichen Möbel an ihre Plätze zu schieben, sowie den durch die Arbeit entstandenen Schmutz zu beseitigen. Die kleinen Räume sahen etwas überfüllt aus, aber das würde sich noch geben, wenn erst einmal das letzte Zimmer fertig war. Am frühen Nachmittag war endlich das Gröbste geschafft. Müde ließ sich Jennifer auf ihr Sofa fallen. Oliver und Christian nahmen auf den kleinen Sesseln, die am Tisch standen, Platz. Den beiden Männern war es anzusehen, daß sie gleichfalls froh waren, den Umzug hinter sich gebracht zu haben.
»Was haltet ihr von einer Erfrischung?« schlug Jennifer vor. »Ein Alt, Ollie? Und du, Christian? Wie immer eine Cola?« Sie ging in die Küche, um die Getränke und drei Gläser zu holen. Irgendwie fühlte sie sich wie in dem Haus einer Fremden, als sie durch den schmalen Flur ging. Das würde sich noch geben, wenn sie erst einmal lange genug hier wohnte. Schließlich war es damals genauso gewesen, und da war sie sogar noch von ihren Eltern weggezogen.
Freudig nahm Oliver seine Flasche entgegen. Er goß sich das Glas so schnell voll, daß Jennifer schon protestieren wollte. Doch die Schaumkrone hob sich nur leicht über den Rand ohne überzulaufen. Grinsend stellte Oliver die Flasche wieder ab und prostete den anderen beiden zu. »Auf daß du dich gut eingewöhnst«, sagte er.
»Prost«, meinte sein Freund. Sie stießen an. Dann stand Christian auf und schaltete das Radio ein. Sie unterhielten sich bei leiser Musik noch eine ganze Zeit lang. Als es kurz vor zehn Uhr war, hatte Oliver bereits drei leere Altbierflaschen vor sich auf dem Tisch stehen. Sie verabschiedeten sich schließlich voneinander und verabredeten sich für Dienstag. Dann wollten sie der Wohnung den letzten Schliff geben, damit die übrigen Möbel endlich an ihre Plätze kamen. Langsam und widerstrebend schloß Jennifer leise die Tür hinter den beiden jungen Männern. Die Einsamkeit schien sie mit einem Schlag einzuholen. Ihre erste Nacht in der neuen Umgebung brach allmählich an.
Erleichtert stellte sie fest, daß sie wirklich müde war. Das war ganz gut so, denn sie wäre morgen früh kaum bei der Sache, wenn sie diese Nacht nicht richtig schlafen würde. Jennifer räumte die leeren Flaschen vom Tisch und brachte sie in die Küche. Sie löschte die Lichter, schaltete das Radio ab und kroch ins Bett, das im Augenblick noch im Wohnzimmer stand. Ein paar Minuten lang nahm sie die veränderte Atmosphäre in sich auf, dann schlief sie ein.
Immer noch ein wenig müde saß Jennifer im Bus und beobachtete die Häuser, die an ihr vorbeizogen. Das war auch etwas, woran sie sich erst noch gewöhnen mußte. Sie konnte ihre Arbeitsstelle nicht mehr bequem zu Fuß erreichen, und da sie kein Auto besaß, war sie auf diese Art der Fortbewegung angewiesen. Zum Glück dauerte die Fahrt nur zehn Minuten, so daß sie nicht viel früher aufstehen mußte. Zusammen mit einer beträchtlichen Anzahl der übrigen Fahrgäste stieg sie an der großen Haltestelle am Bahnhof aus. Hier begann auch die Fußgängerzone, die durch eine Unterführung erreichbar war. Die Straße war wie an jedem Morgen beinahe leer. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch es zeichnete sich bereits ein leichter Anflug dunklen Blaus am Himmel ab. Die kugelförmigen Lampen beleuchteten ihren Weg, während sie ging. Bald kam sie auch an ihrer alten Wohnung vorbei. Mit gemischten Gefühlen blickte sie zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf. Die leeren Höhlen hatten etwas Trauriges an sich, und sie wandte sich ab. Statt dessen fiel ihr Blick auf das Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Die Katze saß wieder da. Im Vorbeigehen betrachtete sie das getigerte Tier, wobei sie verwundert feststellte, daß es sie ebenfalls nicht aus den Augen ließ. Aber wen sollte es sonst anschauen, sie war schließlich im Moment die einzige Passantin.
Es dauerte noch weitere fünf Minuten, bis sie das Warenhaus durch den Lieferanteneingang betrat. Sie zog sich ihren Verkäuferkittel an und traf sich dann mit den übrigen Angestellten. Wenig später war sie wieder voll und ganz von ihrer Arbeit als Abteilungsleiterin in Anspruch genommen.
In der Pause stand sie zusammen mit zwei ihrer Arbeitskolleginnen an einem der Tische im Stehcafé. Hier trafen sie sich immer, um sich ein wenig vom Streß des Arbeitstages abzulenken. Drei Tassen Kaffee teilten sich mit zwei Zeitungen und einem Aschenbecher die kleine Ablagefläche. Jennifer blätterte eher oberflächlich als interessiert durch die Seiten und las die Überschriften der Artikel. »Junger Mann weiterhin vermißt«, stand in etwas kleinerer Schrift auf der ersten Seite. Darunter befand sich ein kurzer Text, in dem erklärt wurde, daß der sechsundzwanzigjährige Bewohner der Stadt seit mittlerweile fünf Tagen nicht mehr gesehen worden war. Die Polizei besaß keinen Anhaltspunkt, also würde die Suche bald abgebrochen werden. Jennifer hatte bereits von diesem Geschehen gelesen. Merkwürdig, daß jemand wirklich ohne Spuren zu hinterlassen verschwinden konnte. Meist fand man die vermißte Person früher oder später wieder, manchmal auch nur die Leiche. Doch daß ein junger Mann, der außerdem von vielen Leuten noch gesehen worden war, gar nicht mehr auftauchte, war doch ziemlich rätselhaft.
Der Rest der Zeitung war ziemlich uninteressant. Dann schlug sie die Seite mit den Kontaktanzeigen auf und las sich amüsiert die romantisch angehauchten Texte durch, die angeblich von den »jungen, gutaussehenden, aber etwas schüchternen« Männern und Frauen stammten. Zusammen mit ihren beiden Kolleginnen ging sie die Angebote durch, und sie stellten sich vor, welcher der jungen Männer am besten zu ihnen passen würde. Selbstverständlich hatte keine von ihnen ernsthaft vor, sich auf eine solche Annonce zu melden, aber es machte ihnen Spaß, sich darüber zu amüsieren.
Dann rückte das Ende der Pause näher. Sie tranken ihre Tassen leer und machten sich auf den Weg zurück. Unterwegs kamen sie wieder an dem Fenster vorbei, das nun schon zum dritten Mal Jennifers Aufmerksamkeit erregte. Immer noch - oder schon wieder? - saß das Tier auf der Fensterbank und blickte auf die Straße hinaus. Das war weiter nicht ungewöhnlich, aber die Katze starrte wieder in ausschließlich ihre Richtung, obwohl diesmal wirklich eine ganze Menge Menschen an diesem Haus vorbeigingen. Langsam wurde ihr die Angelegenheit unheimlich. Weil sie aber keine Erklärung fand, behielt sie es erst einmal für sich. Die anderen würden sowieso nur lachen und an einen Scherz von ihrer Seite glauben. Es sollte allerdings noch merkwürdiger werden.
Gegen viertel vor sieben verließ Jennifer das Warenhaus. Der Tag war wieder einmal sehr anstrengend gewesen. Es hatte Probleme mit einer der Lieferungen gegeben, was dazu führte, daß sie die ganze Zeit über zwischen Chefbüro, Lager und Verkaufshalle hin- und hergelaufen war. Nebenbei mußte sie noch die Kunden betreuen, die natürlich keine Ahnung von ihrer Situation hatten und auch nicht haben wollten. Daher war sie völlig erschöpft, als sie endlich die Tür hinter sich schließen konnte. Zum Glück hatte sie heute keinen Schlüsseldienst, das wäre noch die Krönung des Tages gewesen. Das Fenster war verlassen, als sie auf ihrem Weg zum Busbahnhof daran vorbeikam. Doch als sie schon fast daran vorbeigelaufen war, sprang die Katze plötzlich auf die Fensterbank, nur um sie anzustarren. Verdutzt blieb Jennifer stehen und blickte zurück. Sie achtete nicht auf die Proteste eines älteren Mannes, der nicht mit diesem Manöver gerechnet hatte und beinahe in sie hineingelaufen wäre. War das ein Zufall gewesen? Was denn sonst? dachte sie. Das Tier würde wohl kaum auf sie gewartet haben, obwohl es beinahe so aussah. Dann kam ihr in den Sinn, was sie sich wieder für einen Quatsch ausdachte. Das da hinter dem Fenster war eine Katze, kein Mensch. Kopfschüttelnd wandte sie sich zum Gehen, gerade als sich das Tier plötzlich auf seine Hinterpfoten stellte und sich am Fenster hochreckte. Kurz darauf ließ es sich wieder zurücksinken, hob aber eine Pfote an das Glas. Eine Sekunde später wirbelte die Katze herum und verschwand vom Fensterbrett. »Das ist doch...« murmelte Jennifer. Sie konnte sich keinen rechten Reim auf die Geschichte machen. Ihr fiel ein, daß sie sich beeilen mußte, wenn sie nicht zehn Minuten auf den nächsten Bus warten wollte. Mit einem Achselzucken setzte sie ihren Weg fort.
Auch am nächsten Tag saß das Tier an derselben Stelle. Jennifer wurde es langsam unbehaglich, an diesem Fenster vorüberzugehen. Warum blickte die Katze immer in ihre Richtung? Die junge Frau hatte noch nicht ein Mal gesehen, daß sie ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Menschen gerichtet hätte. Vor allen Dingen schien die Katze immer gerade dann ans Fenster zu kommen, wenn sie in der Nähe war. Dabei hatte Jennifer eigentlich noch nicht einmal viel für Haustiere übrig.
»So, nur noch diese Wand, dann haben wir's geschafft«, kommentierte Christian, als er die Rolle in den Eimer mit der weißen Farbe tauchte. Er wischte die überschüssige Flüssigkeit am Rand des Behälters ab und nahm die letzte Fläche in Angriff. Oliver zog indessen die freien Stellen, die Christian mit der plumpen Rolle nicht erreichen konnte, mit einem langstieligen Pinsel nach. »Du wirst schon sehen, Jenny. Wenn das Zeug erstmal trocken ist, sieht das alles wieder aus wie neu.«
Jennifer betrachtete mißtrauisch die verschieden getönten Flecken an der Wand. Die Türseite war leuchtend weiß, doch die gegenüberliegende Wand wies noch viele graue Stellen auf. Nicht, daß sie Christian nicht vertraute, aber das kam ihr alles doch etwas zu unregelmäßig vor. »Ich hoffe es«, meinte sie schließlich. »Ich räum dann schon mal die Folien da weg.« Sie ging zu den auf dem Fußboden liegenden, transparenten Plastikplanen, die sie als Schutz über den Teppich gelegt hatten und rollte sie zu einer breiten Röhre zusammen, die sie schließlich im Wohnungsflur verstaute. Als sie dann wieder das Zimmer betrat, schien die graue Wand tatsächlich bereits eine Idee heller geworden zu sein. Na ja, sie würde sich überraschen lassen.
»So, das war's«, kommentierte Oliver, nachdem er die letzte freie Fläche mit seinem Pinsel geweißt hatte. »Jetzt haben wir uns aber eine Pause verdient, was?«
»Ja, unbedingt.« Christian klappte die Trittleiter zusammen und trug sie zusammen mit dem beinahe leeren Farbeimer in den Flur. Dort stellte er seine Last ab und half Jennifer, die damit beschäftigt war, das letzte Stück der Plane zusammenzulegen. In der Zwischenzeit wusch Oliver den Pinsel und die Rolle aus, damit sich die Farbe nicht in den Fasern festsetzen konnte. Schließlich trafen sie sich im Wohnzimmer, und Jennifer brachte den beiden Männern etwas zu trinken.
»Dann kannst du ja bald Einweihung feiern«, meinte Oliver, nachdem er einen tiefen Zug aus seiner Flasche genommen hatte.
»Wen sollte ich denn groß einladen?« meinte Jennifer etwas mürrisch.
»Na, mich zum Beispiel.« Oliver tat entrüstet. »Außerdem Christian, Tina und vielleicht kommt Birgit sogar.« Er grinste sie verschlagen an.
»Oh, nein danke.« Die junge Frau verdrehte die Augen, als sie den letzten Namen hörte. »Ich werde mich hüten, ihr auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu sagen.« Birgit war eine rundliche, ziemlich nervige Person. Ein Gespräch mit ihr lief meist darauf hinaus, daß sie unablässig von ihren Problemchen auf der Arbeit quasselte, ohne auch nur einmal Atem zu holen. Außerdem war sie launisch und sehr leicht eingeschnappt. Zweifellos wußte Oliver von Jennifers Abneigung ihr gegenüber, aber genau das war es, was er bezwecken wollte. Sie drohte ihm mit dem Finger. »Und auch du wirst deine Klappe halten, klar? Sonst tauche ich dich mit dem Kopf zuerst in deinen Farbeimer, und den Pinsel kannst du dann direkt mitschlucken.«
»Schon gut, Jenny! Das sollte ein Witz sein.« Oliver hob abwehrend die Hände. »Denkst du, ich möchte mir selber den Abend vermiesen?« Er schien mittlerweile fest mit einer Party zu rechnen. »Außerdem finde ich, ist die Wohnung ohnehin zu klein für sie und uns.«
»Nun reicht's, Ollie«, mischte Christian sich ein. »Überlegen wir lieber, wo wir die Sachen nachher hinstellen, wenn die letzte Wand einigermaßen trocken ist.«
»Oh, da habe ich mir schon was ausgedacht«, meinte Jennifer. »Ich zeig's euch gleich.« Sie stand auf und ging in den Flur voraus, während sie erklärte. »Hinten in der Ecke neben dem Fenster kommt die kleine Anrichte hin und gegenüber...«
Christian und Oliver tauschten verwunderte Blicke, als Jennifer plötzlich verstummte. Sie folgten ihr in das Zimmer und sahen, wie sie ungläubig die Wand anblickte, welche die beiden zuletzt gestrichen hatten. Die restlichen Flächen waren bereits trocken und strahlten in makellosem Weiß. Doch die drei starrten auf einen recht großen, feuchten Fleck, der Christian und Oliver an etwas erinnerte.
»Das gibt's doch überhaupt nicht«, murmelte Jennifer. »Seht ihr das auch, oder bin ich jetzt ganz übergeschnappt?« Der Wasserfleck an der Wand besaß die Form einer aufrecht sitzenden Katze.
»Na ja«, meinte Oliver. »Ich würde sagen, das sieht aus, als hättest du dir ein Haustier angeschafft. Irre, wie so was zustandekommt. Aber so ganz stimmt's ja auch wieder nicht. Der Kopf ist zu groß.«
»Na, ihr zwei habt ja eine Phantasie«, lachte Christian. »Für mich ist das nichts weiter, als ein nasser Fleck, der in einer Viertelstunde komplett verschwinden wird.«
Endlich wandte Jennifer sich von der Wand ab. »Bei mir ist das ja auch kein Wunder, daß ich überall Katzen sehe«, sagte sie. »Ich schätze, das kommt von den merkwürdigen Sachen, die mir in letzter Zeit passiert sind.« Sie ging wieder in das Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch sinken ließ. Die Aufteilung des Raumes war erst einmal vergessen. Jennifer wartete, bis sich die beiden an den Tisch gesetzt hatten, dann erzählte sie ihnen von ihrem Weg zur Arbeit. »Es war irgendwie unheimlich«, schloß sie, nachdem sie mit ihrer Geschichte zum Abschluß gekommen war.
Christian dachte nach. »Bist du sicher, daß das Tier dich angesehen hat? Komm, Jenny, nun friß mich nicht gleich«, sagte er beschwichtigend, als sie ihn wütend anfunkelte. »Es könnte ja sein, daß die Katze nur zufällig in deine Richtung geschaut hat, weil sie einen Vogel beobachtet hat.«
»Und das gleich fünf Mal?« entrüstete sich Jennifer.
»Ich gebe zu, das ist wirklich sehr ungewöhnlich. Aber noch lange kein Beweis. Wahrscheinlich ist das eine Angewohnheit von diesem Viech, den Leuten hinterherzustarren.«
»Es klingt dämlich, ich weiß«, meinte sie. »Aber ich hatte wirklich das Gefühl, als wollte mir das Tier etwas sagen.«
»So weit kommt's noch«, grinste Oliver. »Demnächst werden wir dann von unseren lieben Haustieren herumkommandiert. Nein, schon gut. Ich schätze, das ist alles ein merkwürdiger Zufall, weiter nichts. Es gibt Wichtigeres, zum Beispiel, die Möbel in das Zimmer zu kriegen, damit wir nicht alle irgendwann an Klaustrophobie leiden.«
Damit war das Thema wieder auf den Raum gebracht. Jennifer erklärte ihnen nun noch einmal - nach einem vorsichtigen Blick auf die mittlerweile trockene Wand - wie sie sich die Aufstellung der Möbel vorgestellt hatte. Gehorsam trugen die beiden Männer nacheinander zuerst die Anrichte, das Bett und dann die restlichen Gegenstände in das Zimmer, wo sie ihre, von Jennifer bestimmten, Plätze bekamen. Am Schluß sah der Raum schon viel wohnlicher aus, wenn auch noch die Bilder an den Wänden fehlten.
Um elf Uhr am nächsten Morgen wurde Jennifer wach. Zuerst dachte sie erschreckt, daß sie verschlafen hätte, aber dann fiel ihr ein, daß es Mittwoch war. Heute hatte sie ihren freien Tag. Ihr Kopf brummte ein wenig, vielleicht hätten Oliver und sie die Flasche Baileys doch nicht leeren sollen. Aber sie war so erleichtert, den Umzug endlich geschafft zu haben, daß sie in der richtigen Stimmung für eine kleine Feier gewesen war. Wenn sie die, von Oliver vorgeschlagene, Einweihungsparty geben würde, wäre dieses Gefühl schon wieder vorbei. Das war auch gut so, denn dann konnte sie sich wenigstens um ihre Gäste kümmern, ohne selbst dabei zu kurz zu kommen. Die milde Sonne des Vorfrühlings zeichnete einen hellen Klecks an das Fußende ihres Bettes. Verschlafen drehte sie sich auf die Seite und sah sich um. An den Anblick des Zimmers mußte sie sich erst noch gewöhnen. Natürlich war alles nach ihren Wünschen eingerichtet worden, aber es würde eine Weile dauern, bis diese Aufteilung eine Selbstverständlichkeit geworden war. Sie betrachtete die gegenüberliegende Wand. Dort hatte sie gestern abend den katzenförmigen Fleck gesehen. Jetzt stand dort ein schmaler Schrank, der die bewußte Stelle verdeckte. Ein wirklich sonderbarer Zufall war das. Zuerst ihr Erlebnis in der Stadt, dann der Fleck an der Wand. Was würde noch kommen?
Wer sagt denn, daß überhaupt noch etwas kommt, wies sie sich in Gedanken zurecht. Du machst dich mal wieder unnötig verrückt. Christian hatte recht gehabt. Du hast zuviel Phantasie.
Langsam ließ Jennifer die Beine aus dem Bett gleiten und stand dann auf. Noch ein wenig unsicher tappte sie durch den Flur in das kleine Badezimmer. Nach einer belebenden Dusche kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, um sich für den Tag fertigzumachen. Heute mußten die Einkäufe erledigt werden. Da sie nicht in Eile war, frühstückte sie in aller Ruhe und machte sich gegen halb eins auf den Weg zur Bushaltestelle. Während sie an der Straße wartete, stellte sie im Kopf schon einmal eine Einkaufsliste zusammen. Das brachte sie natürlich auf die Überlegungen, wo sie überall hingehen mußte. Dabei fiel ihr auf, daß sie auch wieder an dem Fenster vorbeikam. Augenblicklich war ihre lockere Stimmung wie weggeblasen. Was, wenn das Tier wieder auf sie warten würde?
Mit einem Zischen öffnete sich die Tür des Busses. Jennifer erschrak; sie war so in Gedanken gewesen, daß sie gar nicht mitbekommen hatte, daß der Wagen an der Haltestelle angekommen war. Sie beeilte sich, einzusteigen, dann fuhren sie auch schon los. Immer noch kreiste ihr Denken um das Haus in der Einkaufsstraße. Am Busbahnhof stieg sie aus und durchquerte die Unterführung. Jeder Schritt brachte sie nun dem Fenster näher. Sie zwang sich, die Auslagen in den Schaufenstern zu betrachten, damit sie auf andere Gedanken kam, aber es ließ sich nicht so einfach verdrängen. Kurz vor dem Haus bog sie plötzlich in eine Seitengasse ein und umrundete den Block, bis sie weiter unten wieder in die Passage zurückkehrte. Innerlich lachte sie über ihre kindische Reaktion. Als ob ihr eine Katze, die obendrein noch hinter einem geschlossenen Fenster saß, gefährlich werden konnte. Es war schon faszinierend, wie sehr man sich in eine Sache hineinsteigern konnte.
Einige Zeit später hatte sie ihre gesamten Besorgungen gemacht. In beiden Händen hielt sie je eine Stofftragetasche voller Lebensmittel und anderer Gegenstände. Gut gelaunt schlenderte sie die Straße in Richtung Bahnhof entlang und betrachtete die Angebote der Geschäfte. Sie war nicht mehr weit von der Unterführung entfernt, als sie das Lied hörte. Ein Straßenmusiker saß auf einem der steinernen Podeste, wo die Laternen angebracht waren, und spielte auf seiner Gitarre. Seine sanfte Stimme sang Streets of London, während die Leute an ihm vorbeigingen und ab und an ein Geldstück in den Instrumentenkoffer fallen ließen. Jennifer lauschte den ruhigen Klängen, während sie weiterging. Dabei bemerkte sie erst im letzten Augenblick, daß sie beobachtet wurde. Sie befand sich nun wieder auf gleicher Höhe mit dem Fenster. Und dort saß die Katze, ihren starren Blick auf Jennifer gerichtet. Doch diesmal war etwas anders; das Fenster stand offen, und die weißen Gardinen wehten im leichten Wind auf die Straße hinaus.
Jennifer blieb erschrocken stehen. Dann näherte sie sich zögernd dem offenen Fenster. Es mochte sein, daß sie sich irrte, aber sie hatte den Eindruck, als hätte das Tier einen erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht, als ob es sagen wollte: Na endlich kommst du zu mir. Je mehr sie sich näherte, desto stärker wurde der Eindruck. Schließlich stand sie einen Meter vor der Katze und stellte ihre Taschen auf dem Straßenpflaster ab. Das Lied des Musikers hatte zu einer Ballade ohne Gesang gewechselt, die feinen Gitarrenklänge drangen zu ihr herüber, als sie vorsichtig eine Hand ausstreckte. Das Tier erhob sich langsam auf seine Pfoten und beschnupperte Jennifer ausgiebig. Dann rieb sie ihren Kopf an der Hand und begann zu schnurren.
»Du bist aber ein feines Mädchen«, sagte Jennifer erleichtert und strich dem Tier sanft über den Kopf.
»Woher wissen Sie, daß sie ein Weibchen ist?« fragte plötzlich eine Männerstimme, die aus dem Haus kam. Eine Sekunde später trat ein großer, junger Mann an das Fenster.
Verunsichert wich Jennifer einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie, wenn ich-« begann sie stotternd.
»Nur keine Aufregung«, unterbrach er sie. »Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen. Ich finde es schön, wenn jemand meinen kleinen Liebling mag. Also, wollen Sie mir sagen, woher sie es wußten?«
Die Stimme des Fremden hatte einen weichen, besänftigen Klang. Er sah irgendwie merkwürdig aus, aber Jennifer konnte nicht sagen, was ihr diesen Eindruck vermittelte. Eigentlich war er schlank, etwa einsachtzig groß, dunkelhaarig; er trug dunkle, fast schwarze Kleidung und eine kleine, runde Brille vor den hellen Augen. Doch genau die waren es, die ihr einen leichten Schauer über den Rücken jagten. Sein Blick schien sie zu berühren, fast wie die unsichtbare Hand eines Blinden, der ihr Gesicht betastete, um herauszufinden, wie sie aussah. Unwillkürlich fuhr sie sich mit den Fingern über die Wange, um die imaginäre Berührung fortzuwischen. »Keine Ahnung«, sagte sie dann. »Es schien einfach so zu sein.«
»Dann haben sie ein ausgezeichnetes Gespür für Katzen«, erwiderte der Mann. »Es ist wirklich ein Weibchen. Ich nenne sie Leri. Und mein Name ist Kai.« Er streckte ihr seine Hand zur Begrüßung entgegen.
Schüchtern erwiderte sie die Geste. »Ich bin Jennifer.« Die Berührung seiner feingliedrigen Finger war sanft und vermittelte dennoch den Eindruck großer Stärke.
»Ein hübscher Name«, sagte er dann. »Er paßt wunderbar zu Ihnen.«
Jennifer wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Es war ja auch eine sehr ungewöhnliche, wenn nicht sogar peinliche Angelegenheit, mitten in der Fußgängerzone am Fenster eines Fremden und seiner Katze zu stehen und Höflichkeitsfloskeln auszutauschen. Kai schien das aber nicht zu stören, er lächelte sie an, und Jennifer fühlte sich von seinem Blick umfangen. »Ich glaube, ich muß jetzt gehen«, sagte sie, nachdem sie endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Mein Bus fährt in ein paar Minuten ab.«
»Jammerschade«, meinte Kai bedauernd. »Werde ich Sie wiedersehen?«
»Vermutlich.« Jennifer hob ihre Taschen vom Boden auf. »Ich bin ja schließlich jeden Tag hier. Möchten Sie denn, daß wir uns wiedersehen?«
Anstelle einer Antwort verbeugte sich der Mann leicht und verschwand dann so schnell, wie er vor ein paar Minuten erschienen war. Verblüfft starrte Jennifer auf das Fenster, in dem sich die Katze aufrecht hingesetzt hatte und sich sorgfältig eine Pfote wusch. Dann fiel ihr der Bus wieder ein. Sie wandte sich mit klopfendem Herzen ab und beeilte sich, die Unterführung zu erreichen.
Kurz nachdem sie fort war, trat der Mann wieder an das Fenster und hob die Katze auf seinen Arm. Langsam und bedächtig streichelte er den Kopf des Tieres, das wieder zu schnurren begonnen hatte. Seine hellen Augen blickten die Straße hinauf. »Was meinst du, mein Liebes?« fragte er leise, wie in Gedanken. »Wird sie die Richtige für uns sein? Ich schätze, wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen, es ist schon fast zu spät.« Wie zur Antwort stupste die Katze sein Kinn mit ihrem Kopf an und schnurrte weiter. Der Mann hatte seinen Entschluß gefaßt.
Obwohl Jennifer rechtzeitig an der Haltestelle war, stieg sie nicht in den gerade herangekommenen Bus ein. Ihre Gedanken purzelten in ihrem Kopf durcheinander wie ein Kartenhaus im Herbststurm. Was für ein merkwürdiger Mann war dieser Kai. Niemals würde sie diese Augen vergessen, die sie förmlich berührt hatten. Nicht, daß er sie mit seinen Blicken ausgezogen hätte, so wie ein paar ihrer früheren Begegnungen in der Disco; diese Augen hatten ein ganz anderes Gefühl in ihr ausgelöst. Trotz seiner ruhigen Art und seines sanften Händedruckes meinte sie, etwas Wildes und Ungezähmtes in seinem Blick gelesen zu haben, das auch seine samtige Stimme nicht hatte verdecken können. Was war nur mit ihr los? Sie hatte ihn doch nur einmal gesehen, für weniger als zwei Minuten. Und doch schien es ihr, als würde sie dieses Gesicht und diese Stimme schon jahrelang kennen. Auch war sie schon oft genug verliebt gewesen um zu wissen, daß ihre augenblicklichen Gefühle nur wenig mit dem gemein hatten, was sie bisher empfunden hatte.
Er hatte sie gefragt, ob er sie wiedersehen würde. Hatte er denn das gleiche Gefühl wie sie? So merkwürdig es war, sie konnte es auch kaum erwarten, ihn erneut zu treffen. Doch dieses Verlangen erschreckte sie. Woher sollte sie wissen, was er für ein Mensch war? Das Risiko war hoch, das wußte sie. Und doch schien es keine Rolle zu spielen. Sie würden sich wiedersehen, etwas anderes kam gar nicht in Frage.
Gedankenverloren stieg sie in den nächsten Bus, der zu dieser Zeit nur halbvoll war. Auf dem ganzen Weg zu ihrer Wohnung wurde sie von Kais Stimme begleitet. Sanft, aber eindringlich sprach sie auf Jennifer ein, ohne wirkliche Worte zu äußern. Immer noch hatte sie das Gefühl, als wenn jemand sie in seinen Armen hielt; es waren sanfte Hände, und die Umarmung war voller Wärme.
Der Wecker holte sie aus einem tiefen Schlaf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, das Zimmer war in Dunkelheit getaucht. Das wenige Licht, das durch ihr Fenster hereinsickerte, ließ die Gegenstände in ihrem Zimmer leichte Schatten werfen. Jennifer rieb sich ihre Augen. Hatte sich dieser Schatten nicht gerade bewegt? Nein, das war sicher nur eine ihrer üblichen Phantasievorstellungen. Es geschah häufig, daß sie aus dem Augenwinkel meinte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben; wenn sie dann aber genauer hinsah, war alles wie immer. Aus alter Gewohnheit blickte sie jetzt dorthin, wo die Bewegung vermutlich gewesen war. Das erhellte Viereck des Fensters wurde durch eine schemenhafte Silhouette verdunkelt. Plötzlich bewegte sie sich wieder, diesmal aber deutlich sichtbar. Ein kaltes Kribbeln durchlief Jennifers Körper. An ihrem Fenster saß eine Katze, die jetzt ihre leuchtenden Augen auf sie richtete. Mit einem Aufschrei sprang die junge Frau aus dem Bett und rannte aus dem Raum, wobei sie die Tür hinter sich zuschlug. Atemlos kam sie im Wohnzimmer zum Stehen. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust; die kühle Luft, die ihre ungeschützten Arme und Beine umstrich, ließ sie zittern. Langsam beruhigte sie sich, die Vernunft gewann wieder die Oberhand.
Bis sie sich dazu durchringen konnte, die Schlafzimmertür erneut zu öffnen, verging beinahe eine Viertelstunde. Dann blickte sie sich in dem Raum um, der mittlerweile etwas heller erleuchtet war. Das Fenster sah aus wie sonst auch. Die katzenähnliche Gestalt war fort.
Die zweite Überraschung erlebte Jennifer dann, als sie wieder einmal durch die Passage ging. Das Fenster war verlassen. Sie hatte sich schon so an den Anblick der Katze gewöhnt, daß es ihr im ersten Moment einen kleinen Schrecken einjagte. Aber warum sollte das Tier nicht auch einmal das Interesse an einer Gewohnheit verlieren?
Am Abend jedoch, als Jennifer von der Arbeit kam, saß das Tier wieder an seinem Platz. Auch heute stand das Fenster offen, und die Katze blickte zu ihr herüber. Jennifer ging zu ihr hin und streichelte ihren geschmeidigen Körper. Wie schon am Tage vorher, kam der junge Mann einen Augenblick später hinzu. »Ich wünsche Ihnen einen guten Abend«, begrüßte er sie. »Ich hoffe, Ihr Tag ist nicht zu anstrengend gewesen.«
»Es war auszuhalten«, antwortete Jennifer. »Ich wollte mein gestriges Versprechen einlösen. Wie ich schon gesagt habe, ich komme hier jeden Tag vorbei.«
»Eine wunderbare Vorsehung des Schicksals, finden Sie nicht?« Seine hellen Augen begannen schon wieder, sie in ihren Bann zu ziehen. »Doch ich würde es viel mehr genießen, wenn Sie und ich uns nicht immer nur am Fenster sehen würden. Es gibt gemütlichere Orte, um sich näher kennenzulernen. Deshalb möchte ich Sie heute abend zu mir zum Essen einladen. Dann können wir uns gegenseitig voneinander erzählen.«
»Ich weiß nicht, ob das richtig ist«, sagte Jennifer vorsichtig. »Wir kennen uns doch gar nicht - ich meine, das einzige, was wir gemeinsam haben, ist dieses Fenster - und Leri.« Die getigerte Katze hatte sich auf der Fensterbank zwischen den beiden ausgestreckt, während Jennifer ihr mit einem Finger sanft das Bauchfell kraulte.
»Glauben Sie mir, ich weiß, daß es das Richtige ist«, antwortete Kai. »Auch Leri weiß es, sehen Sie? Es geschieht nicht oft, daß sie sich von jemandem so streicheln läßt, den sie nicht kennt. Alleine schon deswegen möchte ich mehr über Sie erfahren. Außerdem sehe ich es Ihnen an, daß sie sich nach etwas Gesellschaft sehnen, jetzt, wo Sie alleine sind.«
»Woher wissen Sie das?« Jennifer hörte auf, die Katze zu streicheln und blickte Kai forschend an.
Kai zuckte mit den Achseln. »Nur geraten. Ich dachte mir, Sie würden sich wahrscheinlich nicht mit mir hier unterhalten, wenn jemand auf Sie warten würde.«
»Nur der Bus«, sagte sie nach einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. »Es tut mir leid, aber ich muß jetzt gehen.«
»Werden Sie denn heute abend kommen?«
Jennifer überlegte kurz. Dann nickte Sie. »Wie wäre es gegen halb neun?«
*
Später klingelte Jennifer an Kais Haustür. Sie hatte beinahe eine Dreiviertelstunde damit verbracht, ihre Frisur und Kleidung herzurichten. Aber warum sie sich solche Mühe gab, wußte sie nicht. Kai war nett, richtig. Trotzdem kein Grund, gleich wie eine Schönheitskönigin herumzulaufen. Doch irgendetwas hatte sie dazu gebracht. Vermutlich hatte er recht; sie konnte nicht alleine leben, zumindest nicht sehr lange. Und er hatte ja auch ziemlich offen zum Ausdruck gebracht, daß er sie mochte. Dann grinste sie. Es war viel zu früh, um über irgendwelche derartigen Dinge nachzudenken. Zuerst mußten sie einander etwas länger kennen, dann würde sich alles schon von selber ergeben.
Ihre Gedanken zerplatzten wie eine Seifenblase, als Kai die Tür öffnete. »Guten Abend, Jennifer«, begrüßte er sie. Immer noch trug er seine beinahe schwarze Kleidung, wirkte aber dennoch elegant. »Der Summer funktioniert mal wieder nicht«, erklärte er, als er sie mit einer Bewegung bat, einzutreten. Dann führte er sie durch das Treppenhaus zur offenen Wohnungstür. Langsam betrat Jennifer die Wohnung. Schon hier war ein Hauch des Extravaganten zu spüren. Die Wände waren mit surrealistischen Gemälden geschmückt, viele kleine Halogenlampen erhellten den Flur, und auf einem kleinen Tisch stand ein modernes Telefon. »Darf ich Ihnen Ihre Jacke abnehmen?« fragte Kai höflich und hängte das Kleidungsstück an einen der Haken in der Wand. Dann wies er auf eine offenstehende Tür. »Nehmen Sie doch schon einmal Platz. Ich komme gleich zu Ihnen.«
Begeistert betrachtete Jennifer die Einrichtung des Wohnzimmers, das sie gerade betreten hatte. Auch hier waren überall die kleinen Lampen angebracht, die im Augenblick mit geringer Intensität leuchteten. Der Tisch bestand aus einem Stahlrohrgestell, in dessen Mitte eine große Rauchglasplatte befestigt war. Darauf stand eine bemalte Vase voll bunter Blumen. Die Couch und die dazu passenden Sessel waren mit dunklem Stoff bezogen, auf dem dünne Linien in allen Farben leuchteten. Aus den großen Lautsprechern in zwei Ecken des Raumes klang leise Musik. Unvermittelt kam ihr der Gedanke an ihre eigene kleine Wohnung. Im Gegensatz hierzu wohnte sie wirklich in einem Nasenloch. Allein schon dieses Zimmer war so groß wie ihr Wohnzimmer und Schlafzimmer zusammen. Ihr Blick versuchte, das gesamte Szenario in sich aufzunehmen. An der Wand über dem Sofa hing ein zwei mal ein Meter großes Ölgemälde einer Katze. Allerdings war es keine getigerte, so wie Leri. Es zeigte eine schwarze Katze mit grünen, grell leuchtenden Augen. Schon als sie den Raum betreten hatte, war ihr dieses Bild aufgefallen. Nun nahm sie auf der Couch Platz und wartete auf ihren Gastgeber.
Fast als hätte er diesen Moment genau abgepaßt, kam Kai in das Wohnzimmer, Leri folgte gleich darauf. Er machte es sich auf dem Sessel ihr gegenüber bequem und setzte ein leichtes Lächeln auf. »So, das Essen ist gleich fertig. Ich hoffe, Sie haben es gemütlich.«
»Oh, ja«, sagte Jennifer mit Nachdruck. »Ich bin begeistert von ihrem Geschmack. Die Einrichtung muß eine Menge Geld gekostet haben.«
»Das ist nicht so wichtig«, erwiderte Kai. »Die Hauptsache ist, daß man sich wohl fühlt. Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich das gefunden hatte, was ich dazu benötigte.« Er nahm ein Tuch aus seiner Brusttasche und begann, seine Brille zu säubern. Nachdem er sie prüfend ins Licht gehalten hatte, setzte er sie wieder auf. »Es ist nicht einfach, immer das richtige zu finden.«
»Das glaube ich. Mich wundert nur, daß Ihre Katze das anscheinend ähnlich sieht.« Die Möbel waren tatsächlich in besonders gutem Zustand. Nach allem, was sie bei Freunden und Bekannten gesehen hatte, war das nicht immer der Fall, wenn eine Katze im Haus war. Leri hatte sich auf einen der anderen beiden Sessel zusammengerollt und schlief friedlich.
»Sie weiß, was sie darf und was nicht«, sagte Kai. »Ich habe es ihr nicht beigebracht, aber trotzdem scheint sie genau zu erkennen, daß ich es nicht mögen würde.« Unvermittelt stand er auf und ging aus dem Raum. »Ich denke, wir können jetzt essen.« Wenig später kam er mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Teller und Besteck lagen. Dann holte er aus einer Vitrine noch zwei Weingläser und die passende Flasche heraus. Jennifer betrachtete fasziniert die geschmeidigen Bewegungen seiner Finger, als er den Korkenzieher ansetzte. Er schien überhaupt eine ungewöhnliche Anmut zu besitzen. Dieser Eindruck wurde immer stärker, je länger sie ihn beobachtete, während er das Essen auftrug. Jede seiner Bewegungen war exakt und präzise, sie gingen fließend ineinander über, wie jahrelang eingeübt. Schließlich stellte er noch zwei schmale Kerzenhalter auf den Tisch und zündete die Dochte mit einem Streichholz an. Der Duft des Essens stieg ihr in die Nase, und sie wandte den Blick von ihm ab, um ihren Teller zu betrachten.
Während des Essens hatte Jennifer Zeit und Gelegenheit, Kai ausgiebig zu studieren. Obwohl er sich dessen mit Sicherheit bewußt war, schien er doch nicht im mindesten nervös oder peinlich berührt zu sein. Statt dessen lächelte er ihr gelegentlich zu und schenkte ihr auch den ein oder anderen tieferen Blick. In diesen Augenblicken spürte Jennifer immer wieder die sanfte Berührung, die sie auch schon vorher am Fenster bemerkt hatte. Diesmal widerstand sie aber dem Impuls, sie wegzuwischen. Sie begann, es zu genießen. Sie konnte nicht ergründen, was sie so an ihm anzog. Sein gutes Aussehen und seine Art sich auszudrücken konnten es alleine nicht sein. Sie hatte schon mehrere gutaussehende Männer kennengelernt, Michael war einer von ihnen gewesen. Aber nie war ihr ein solches Gefühl nahe gekommen. Sie begann sich zu fragen, ob er ähnliche Empfindungen ihr gegenüber hatte.
Nach dem Essen räumte Kai das Geschirr ab und setzte sich dann zu ihr an den Tisch. Geschickt füllte er ihre mittlerweile leeren Gläser nach und hob seines dann zu einem Toast. »Ich möchte mit Ihnen auf weitere Abende wie diesen trinken«, sagte er feierlich und blickte sie sanft an.
Jennifer konnte sich im Augenblick kaum etwas lieber wünschen. »Auf weitere gemeinsame Abende.« Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus, als sie zusammen einen Schluck nahmen. Dann setzte sie ihr Glas behutsam ab. »Irgendwie ist das doch sehr merkwürdig«, sagte sie leise, als würde sie laut nachdenken. »Sie müssen schon entschuldigen, aber das ist wirklich ein ziemlich dummer Gedanke. Ich weiß, ich habe sie gestern abend das erste Mal gesehen, aber doch scheint es mir, als würde ich Sie schon lange kennen.«
»Das freut mich«, erwiderte Kai. »Ich mag Sie auch sehr, Jennifer. Sie sind eine wirklich erfrischende Abwechslung in meinem eintönigen Leben.«
»Was tun Sie denn so eintöniges?« fragte sie belustigt.
»Ich bin Innenarchitekt«, sagte er mit einer unbestimmten Handbewegung. »Ich weiß, die meisten Leute stellen es sich sehr reizvoll vor, sich immer wieder neue Ausstattungen für Wohnungen und Büros auszudenken. Es ist nur so, daß einem auch die schönste Sache irgendwann einmal zu langweilig wird, wenn man sonst nichts zu tun hat.«
»Und wie verbringen Sie Ihre freien Tage?«
»Mindestens genauso langweilig. Meistens sitze ich hier im Zimmer, höre Musik und versuche, mich zu entspannen. Aber dann regt es sich in mir wieder, und ich muß etwas tun. Manchmal kommt es sogar so weit, daß ich mich in meinen Wagen setze und einfach nur so in der Gegend herumfahre.« Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck verstummte er. »Was ist mit Ihnen? Was sind Ihre Interessen?« fragte er schließlich und beugte sich zu ihr herüber.
»Eine meiner Interessen ist es, daß wir endlich das Sie fallen lassen, wenn Sie damit einverstanden sind.« Er erklärte ihr, daß er ihr früher oder später ohnehin das Du angeboten hätte, warum dann nicht bereits jetzt. Eine kurze Zeit herrschte Schweigen, dann aber kam die Unterhaltung langsam wieder in Gang. Sie sprachen noch lange miteinander, bis Jennifer dann feststellte, daß es schon spät geworden war. »Ich muß morgen früh wieder ausgeruht auf der Arbeit erscheinen«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber ich muß wirklich gehen.«
»Ja, mir tut es auch leid. Aber wir sehen uns ja morgen wieder, nicht wahr?« Behutsam half er ihr, die Jacke anzuziehen. »Ich werde auf dich warten.«
Jennifer fröstelte in der kühlen Nachtluft, als sie sich auf den Weg zum Busbahnhof machte. In ihrem Kopf summte es, sie hätte nicht so viel trinken sollen. Aber es war ein wundervoller Abend mit einem wundervollen Mann gewesen. Gut, daß sie an diesem Donnerstag keinen Spätdienst gehabt hatte, denn sonst wäre wohl keine Zeit mehr für das Treffen geblieben. Zu gerne hätte sie noch mehr über Kai erfahren, aber vielleicht bekam sie ja noch Gelegenheit dazu. Für heute war es aber auch wirklich genug, oder sie würde morgen früh gar nicht aus dem Bett kommen. Kurz darauf stieg sie in den Bus der Linie Eins ein und hätte beinahe ihre Haltestelle verschlafen, so müde war sie. Endlich zu Hause angekommen, fiel sie schon bald erschöpft ins Bett und war schon im Land der Träume, bevor sie sich noch einmal umdrehen konnte.
Der Freitag im Kaufhaus war hektisch wie üblich. An den vier offenen Kassen hatten sich schon am Vormittag lange Schlangen gebildet, die sich bis zum Abend halten würden. Zusammen mit Helga, einer Kollegin aus ihrer Abteilung, räumte Jennifer die nun doch noch eingetroffenen Lieferungen in die Regale. Ab und an rissen sie die Kanten eines leergewordenen Kartons auf und legten ihn auf die Ladefläche der Lastameise, wo sich schon einige dieser flachen Pappstücke befanden. Geistesabwesend nahm sie ein Teil nach dem anderen aus dem Karton und stellte es auf das Brett vor sich, bis Helga sie nun schon zum dritten Mal anstieß. »Jenny! Sag mal, schläfst du?«
Erschrocken blickte die Angesprochene auf. Wie schon zwei Mal zuvor hatte sie die Waren wahllos hingestellt, ohne sie nach Marke und Inhalt zu sortieren. Hektisch begann sie, das Malheur wieder in Ordnung zu bringen. »Entschuldige, aber ich hab' im Augenblick keinen Kopf für so was.«
»Was ist eigentlich mit dir?« erkundigte sich ihre Kollegin besorgt. »Du läufst schon seit heute morgen wie eine Schlafwandlerin umher.«
Jennifer hatte ihr Regal wieder auf Vordermann gebracht und stellte nun die nächsten Päckchen in die Reihe. »Ich habe mich gestern mit jemandem getroffen«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie kann ich mich auf sonst nichts mehr konzentrieren.«
Helga grinste sie an. »Wer ist es? Kenne ich ihn?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Jennifer. »Er heißt Kai, und er wohnt hier in der Fußgängerzone, in der Nähe der Bäckerei. Wir haben gestern bei ihm zu Abend gegessen. Ich sage dir, Helga: Der Mann hat einen äußerst interessanten Geschmack.«
»Wie sieht er aus?« fragte die andere junge Frau neugierig, während sie weiterarbeitete.
Jennifer überlegte eine Weile. »Er ist groß, dunkelhaarig und hat unheimlich tolle Augen. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden mit einem faszinierenderen Blick gesehen, als ihn. Du hättest die Wohnung sehen sollen! Alles in schwarz gehalten - er trägt übrigens auch fast nur schwarze Klamotten. Und die Möbel hatten ein richtig tolles Design. Irgendwie futuristisch, weißt du?«
»Und?«
»Was und?« Jennifer wandte sich wieder ihren Kartons zu, die sie mittlerweile bis zur Hälfte in das Regal eingeräumt hatte.
»Was passiert als nächstes? Habt ihr euch wieder verabredet, oder was? Spann mich nicht so auf die Folter, nun sag schon.«
»Ja, wir haben uns verabredet«, antwortete Jennifer. »Heute abend wollten wir uns treffen. Ich weiß aber noch nicht, was wir machen werden.«
»Ich kann mir schon denken, worauf das hinausläuft«, sagte Helga grinsend und warf ihrer Kollegin einen belustigten Blick zu.
»Ach du!« entrüstete sich Jennifer und lachte. Sie hatte aber wirklich keine solchen Gedanken gehabt.
Der Arbeitstag schleppte sich dahin, bis Jennifer sich endlich umziehen konnte. Langsam schlenderte sie durch die Passage. Die Luft war wieder etwas wärmer geworden; es schien, daß der Frühling sehr schnell hereinbrechen würde. Der Großteil der Leute auf der Straße trug schon leichtere Kleidung als noch vor einigen Tagen. Hell und angenehm schien die Sonne auf die Erde herab. Fröhlich ging Jennifer weiter ihrem Ziel entgegen. Bald schon konnte sie das Fenster von Kais Wohnung sehen. Wie schon viele Tage zuvor saß Leri auf der Fensterbank und blickte nach draußen. Sie ging zu der Katze hin und strich ihr sanft über den Kopf. Wie sie erwartet hatte, tauchte Kai nach kurzer Zeit am Fenster auf, um sie zu begrüßen.
»Möchtest du nicht hereinkommen?« fragte Kai. »Ich habe etwas, das ich dir gerne zeigen will.«
»Ich komme gerade von der Arbeit«, sagte Jennifer. Sie wußte gar nicht, warum sie sich dagegen wehrte, ihn zu besuchen, aber irgendwie ging ihr alles ein wenig zu schnell. »Ich muß erst einmal nach Hause.«
»Warum?« fragte Kai. »Wartet vielleicht doch jemand auf dich, von dem ich nichts weiß?«
»Nein, aber ich habe noch einiges in der Wohnung zu tun. Ich bin dort schließlich erst vor ein paar Tagen eingezogen.«
»Das kann bestimmt warten«, meinte er. »Ich glaube nicht, daß ohne dich alles zusammenfallen wird. Also, was ist?«
Widerstrebend nickte sie. »Na gut. Aber nur kurz. Ich muß wirklich gleich fahren.«
Augenblicke später surrte der Türöffner. Jennifer betrat das Treppenhaus und dann die Wohnung, wo Kai schon im Wohnzimmer auf sie wartete. Er hatte ein kleines Paket auf dem Tisch vor sich liegen. Er sagte nichts, und so setzte sie sich ihm gegenüber auf den Sessel. »Ist es das, was du mir zeigen wolltest?« fragte sie, nachdem er weiterhin geschwiegen hatte.
»Ja«, erwiderte er und schenkte ihr einen seiner unergründlichen Blicke. »Möchtest du es öffnen?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie etwas schüchtern. »Ich denke schon.« Sie wartete noch einen Moment, streckte dann aber die Hand nach dem kleinen, bunten Päckchen aus. Es war nicht besonders schwer, dafür aber sehr hart. Behutsam entfernte sie die hübsche Schleife aus blauem Geschenkband und begann nun, das Papier auseinanderzuwickeln. Schließlich hielt sie ein dunkles Kästchen in der Hand, dessen Inhalt ziemlich leicht zu erraten war. Dennoch klopfte ihr das Herz, als sie den Deckel abhob. Die fein geschliffenen Steine in dem schmalen Silberring funkelten sie irisierend an. Jennifer war von diesem Schmuckstück beeindruckt. Kai hatte wirklich einen ausgeprägten Sinn für alles Schöne.
»Gib ihn mir bitte«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. Jennifer löste den Ring aus seiner Einfassung und legte ihn in seine Handfläche. Er schloß seine Finger darum. »Jetzt setz dich bitte hierhin.« Er deutete auf den Platz neben sich auf dem Sofa. Belustigt folgte sie der Aufforderung; sie war gespannt, was nun folgen würde. Kai wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte, bevor er ihre Hand in seine nahm. Die sanfte Berührung seiner Finger jagte ihr einen Schauer über den Rücken, doch sie hielt still. Dann öffnete er seine Faust wieder und steckte ihr das Schmuckstück sanft auf den Ringfinger. Die Steine funkelten in hellem Rot, obwohl sie sicher war, daß sie vorhin noch farblos gewesen waren. Der Ring paßte genau auf ihren Finger, sie war überrascht, wie gut er ihr stand. Kai hielt ihre Hand immer noch leicht fest, führte sie dann zu seinem Mund und küßte sie leicht. Etwas verlegen, weil sie nicht mit einer solchen Geste gerechnet hatte, wandte sie sich zum Fenster um.
»Er ist wunderschön«, sagte sie. »Und wie die Steine leuchten.« Sie drehte ihre Hand im Licht der Sonne, die leicht hereinschien. Leri saß auf der Sofakante und beobachtete sie mit ihren grünen Augen. Jennifer streckte ihre Hand aus, und die Katze beschnupperte sie, bevor sie dann ihren Kopf an ihren Fingern rieb. »Sogar Leri findet ihn schön, siehst du?«
»Ich hatte gehofft, daß er dir gefallen würde. Ich dachte mir, daß er das richtige für dich wäre. Seine Farbe paßt sehr gut zu dir.« Er blickte sie an, nachdem sie sich wieder zu ihm herumgedreht hatte. Seine Augen suchten die ihren, sein Blick hielt sie fest. Im nächsten Augenblick trafen sich ihre Lippen.
Eine heftige Explosion erhellte Jennifers Gedanken. Wellen nie gekannter Leidenschaft schlugen in ihr zusammen, als sie seine Arme um sich spürte. Sie schloß die Augen und ließ die Gefühle über sich hereinbrechen. Bunte Lichter überall, ein wunderschönes, farbenfrohes Bild entstand vor ihren Augen, das sich im Takt ihres schnellen Pulses ständig wandelte. Mit einem leichten Stöhnen löste sie sich von ihm. Was war nur mit ihr geschehen?
Plötzlich stand Kai auf und ließ sie atemlos auf der Couch zurück. Er schloß das Fenster, zog die Vorhänge zu und schaltete seine Anlage ein. Leise Musik erfüllte den Raum, als er zu ihr zurückkam und vor dem Sofa stehenblieb. »Gewährst du mir einen Tanz?« fragte er, während er seine Hand ausstreckte.
Jennifer war sprachlos. Was würde diesem merkwürdigen Mann noch alles einfallen? Nach einem leichten Zögern stand sie schließlich auf und ließ sich von ihm in die Mitte des Zimmers führen. Seine Hände hielten ihre sanft fest, und er begann, im Takt der Musik zu tanzen. Sie folgte seinen Schritten ohne Mühe, denn er bewegte sich genau wie sie es tun würde. Der Zauber ließ sie alles um sich herum vergessen. Es gab nur noch sie beide und die Musik. Sie fühlte sich in seinen Armen, als wäre sie eine Feder, die vom leichten Wind herumgeweht wurde. Die Wärme, die sie durchflutete, war schon beinahe unnatürlich.
Jennifer wußte nicht mehr, wie lange sie so getanzt hatten. Doch schließlich war es vorüber und sie setzten sich wieder hin. Verzweifelt versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Dieser Mann hatte sie wirklich von Grund auf verwirrt. Sie öffnete die Augen und erkannte, daß sie sich nicht mehr im Wohnzimmer befanden. Sie saß auf einem breiten, mit schwarzen Tüchern bedeckten Bett. Die Wände des Raumes waren mit großen Fototapeten geschmückt, die auf einer Seite einen Sonnenuntergang am Meer, auf der anderen Seite den Blick auf eine Palmenlandschaft zeigten. Jennifer mußte an Helgas Worte denken, doch schienen sie nun bedeutungslos geworden zu sein.
»Du bist wunderschön«, sagte eine sanfte Stimme neben ihr. Eine behutsame Hand faßte ihr unters Kinn und drehte ihren Kopf ein wenig herum, bis sie in sein Gesicht sah. »Ich brauche dich, Jennifer. Ich dachte, es wäre längst zu spät, aber ich habe mich getäuscht. Ich habe lange auf dich gewartet.«
»Auf mich?« fragte sie leise, aber er verschloß ihren Mund mit einem Finger.
»Ich brauche dich«, wiederholte er, während er sie sanft in die Decken zurücksinken ließ. Dann legte er sich neben sie und strich ihr sanft durch die Haare. »Leri wußte von Anfang an, daß du die richtige für mich bist. Sie weiß immer, was ich brauche. Und du brauchst mich auch.« Zärtlich liebkoste er ihre Lippen, und sie fühlte die Hitze in sich aufsteigen.
Die Erinnerung an die Explosion kam ihr ins Gedächtnis. Was würde geschehen, wenn sie sich ihm nun ganz hingab? Ihr Zögern wurde von seinen sanften Händen gebrochen. Sie fühlte sich mit ihm so sehr verbunden und sehnte sich nach mehr. Endlich warf sie ihre Scheu ab und erwiderte die Zärtlichkeiten, die er ihr schenkte. Sie schmiegten sich aneinander, küßten und liebten sich. Jennifer fühlte eine Leidenschaft, die alles andere bei weitem überstieg. Wieder flimmerten ihr Farben vor den Augen, die sich zu einem mitreißenden Sog verdichteten, in dem sie sich zu verlieren drohte.
Plötzlich brach dieses Gefühl auseinander. Seine Hände wurden unvermittelt stärker, er hielt sie fest unter sich und preßte seine Lippen auf ihre. Er hatte jetzt nichts Sanftes und Zärtliches mehr an sich. Die Wildheit, die sie zwei Tage zuvor in ihm erkannt hatte, brach sich nun ihre Bahn. Jennifer wollte schreien, doch sie konnte sich nicht von ihm lösen. Etwas kroch in ihren Mund, drohte, sie zu ersticken. Ihre Handgelenke schmerzten unter seinem brutalen Griff. Die Augen! Jennifer blickte in seine Augen. Sie waren immer noch hell, leuchteten nun jedoch in einem satten Grün; die Pupille hatte sich zu einem schmalen Schlitz zusammengezogen. Dann durchfuhr sie ein heftiger Schmerz, als etwas ihre Luftröhre hinunterdrang. Zwei oder drei Mal bäumte sie sich noch auf, dann blieb sie reglos auf dem dunklen Bett liegen, den starren Blick auf die getigerte Katze am Schlafzimmerfenster gerichtet.
Der Morgen brach mit strahlend blauem Himmel an. Das Leben kehrte langsam in die Fußgängerzone zurück. Menschen gingen zur Arbeit, Ladenbesitzer schlossen ihre Türen auf und brachten die Regale nach draußen, Kinder machten sich auf den Weg zur Schule. Ein paar Tauben liefen über das Pflaster und pickten nach den Krümeln und Steinchen, die dort herumlagen. Die gesamte Szenerie wurde von den wachsamen, grünen Augen eines pechschwarzen Katers verfolgt, der auf dem Fensterbrett einer Wohnung nahe der Bäckerei saß und auf die Straße hinausblickte.
ENDE