Auf der Flucht
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)15.01.1995)

Mindestens einhundert Meter von seinen Eltern entfernt ließ Sven ein paar flache Steine übers Wasser hüpfen. Er konnte nicht so lange auf einem Fleck sitzenbleiben, wie es sein Vater und seine Mutter fertigbrachten. Spätestens nach zehn Minuten wurde es ihm langweilig, und er mußte etwas tun. Seine Lieblingsbeschäftigung war es, Steine ins Wasser zu werfen oder sie, wie jetzt auch, springen zu lassen. Deshalb war er auch so weit weg gegangen, mehr als einmal hatte ihn sein Vater mit der Begründung, er würde die Fische verjagen, weggeschickt. Heute war er deswegen gleich abgehauen. Es gab für ihn kaum etwas langweiligeres als Angeln. Besonders, wenn sich seine Eltern ein gutes Abendessen davon versprachen, das wahrscheinlich doch wieder auf Brot mit Wurst hinauslaufen würde. Aber irgendwie konnte er seine Eltern auch verstehen. In einem so kleinen Städtchen konnte man sich nun einmal kaum aussuchen, was man gerne machen würde. Aber er wußte trotzdem viele interessantere Sachen, um einen Sonntag in der ersten Woche der Sommerferien zu verbringen.

Er hatte gerade einen vielversprechend flachen Stein gefunden, als er in einiger Entfernung etwas am Ufer liegen sah. Es war ein langes Stück Holz mit einem dunklen Bündel daran. Von der Stelle aus, wo Sven stand, konnte er nicht erkennen, was es genau war. Also ließ er den Stein mit sensationellen acht Hüpfern ins Wasser fliegen und ging dann am Ufer entlang auf das Stück Holz zu. Zeitweise wurde es vom hohen Schilf verdeckt, das am Wasserrand wuchs, aber schließlich erreichte er die Stelle. Vorsichtig stieg er zum Wasser hinab und blickte durch das dichte Gebüsch. Vor sich konnte er eine Kante des Brettes sehen, wie es von leichten Wellen des Flusses umspült wurde. Hier wurde er vorsichtig. Der Boden war naß und schlüpfrig, ein falscher Schritt und er wäre bis auf die Haut durchnäßt. Also hielt er sich an einem überhängenden Ast fest und bahnte sich Schritt für Schritt einen Weg durch das Gestrüpp. Das dunkle Bündel konnte er von hier aus nicht mehr erkennen, es wurde von den dünnen Zweigen des Gebüsches verdeckt. Vorsichtig ließ er den Ast los und griff nach vorn. Seine Hand packte das nasse Holz, und er zog daran. Es bewegte sich wenige Millimeter, kam aber nicht frei. Was das Bündel auch war, es mußte recht schwer sein. Wieder zog er, diesmal kräftiger. Abermals rutschte das Brett ein kurzes Stück auf ihn zu. Dann gab plötzlich der Boden unter Svens Füßen nach und er begann zu rutschen. Er ruderte wild mit den Armen und versuchte sich an dem Ast festzuhalten, griff aber daneben und landete mit einem lauten Platschen im kalten Wasser.

Triefnaß rappelte er sich wieder auf alle viere hoch. Zum Glück war es recht warm, so daß er nicht allzusehr fror. Er kauerte nun genau neben dem Holzstück, an dem er gezogen hatte. Von der anderen Seite des Brettes, dort, wo es im Gebüsch festsaß, blickte ihn ein hellblaues Augenpaar starr an. Erschreckt versuchte Sven sich aufzurichten, stolperte jedoch und fiel rücklings in den Fluß zurück. Jetzt, da er ein paar Schritte entfernt war, erkannte er, was ihn so in Angst versetzt hatte. Es waren die Augen eines kleinen Mädchens, das sich an das Brett geklammert hatte. Immer noch blickte sie starr geradeaus, ohne sich zu bewegen.

Langsam richtete sich der kleine Junge auf. Da er jetzt ohnehin von Kopf bis Fuß naß war, ging er nun zögernd auf das Gebüsch zu, in dem das Mädchen lag. Er hatte es beinahe erreicht, als ihm ein dünner roter Streifen im Wasser auffiel. Wenige Augenblicke später bemerkte er eine große Wunde im Bein des Kindes. Von dort fielen kleine Blutstropfen in den Fluß. »PAPA!«

Nachdem seine Eltern festgestellt hatten, daß das Mädchen noch lebte, holten sie es vorsichtig aus dem Wasser. Svens Mutter eilte zum Wagen zurück und fuhr los, um Hilfe zu holen, während er und sein Vater sich um das Kind kümmerten. Sie hatte sich noch immer nicht bewegt, und auch der starre Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht verschwunden. Da Uwe, Svens Vater, vermutete, daß die Kleine einen Schock erlitten hatte, legten sie ihr die Beine hoch und deckten sie mit Jacken und Tüchern zu. Dann warteten sie darauf, daß Karin zurückkam.

Eiligst wendete Svens Mutter den Corsa auf dem kleinen Parkplatz. Insgeheim ärgerte sie sich darüber, daß ihr Mann so gerne an diesem entlegenen Fleck angelte, wo es weit und breit keine Anwohner oder wenigstens ein Telefon gab. Nicht, daß sie bisher überhaupt einmal eines gebraucht hatten, aber jetzt zeigte sich ja, daß sie diesen Platz zu recht nicht mochte. Es dauerte sicher eine Viertelstunde, bis sie in der Stadt war, wo sie endlich einen Krankenwagen rufen konnte. Der würde dann nochmals zehn Minuten brauchen, bis er hier wäre. Eine halbe Stunde konnte eine verdammt lange Zeit sein.

So schnell sie auf diesen schmalen Waldwegen konnte, fuhr sie in Richtung Stadt. Unterwegs wäre sie beinahe in einen weißen Lieferwagen hineingerauscht, der fahrerlos am Wegrand geparkt stand. Da allerdings niemand in der Nähe zu sein schien, setzte sie ihre Fahrt gleich darauf wieder fort. Endlich erreichte sie die Landstraße, auf der sie schneller vorwärts kam. Schließlich bog sie in einen schmalen Weg zu einem Bauernhof ein, denn bis zur Stadt zu fahren erschien ihr doch unnötig. Hier würde sie wohl genausogut telefonieren können. Die Reifen wirbelten Staub auf, als sie vor der Haustür bremste. Eiligst stieg sie aus und begann, Sturm zu klingeln. Es dauerte eine Ewigkeit, bis endlich ein Mann die Tür öffnete. »Ja, bitte?«

»Entschuldigen Sie bitte«, sprudelte sie hervor. »Darf ich kurz Ihr Telefon benutzen? Ich muß so schnell wie möglich einen Krankenwagen rufen.«

Der erstaunte Gesichtsausdruck des Mannes wandelte sich sofort. »Ja, natürlich. Kommen Sie herein. Das Telefon steht dort drüben«, fügte er hinzu, während er die Tür schloß.

Karin nahm den Hörer ab und wählte: 1, 1, 2. Es dauerte nicht lange, bis sich am anderen Ende jemand meldete. »Mein Name ist Karin Dahlen«, stellte sie sich vor. »Mein Mann und ich haben im Kalbecker Forst ein kleines Mädchen am Flußufer gefunden, kurz vor der Mündung.«

»Verletzungen?«

Sie schilderte die Wunde am Bein und beschrieb die näheren Umstände. Schließlich legte sie wieder auf und sah den Hausbesitzer an, der immer noch bei ihr auf dem Flur stand. Als sie schließlich in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie suchte, winkte er ab. »Lassen Sie nur. Das ist schon in Ordnung.«

»Vielen Dank. Sie sind wirklich sehr freundlich gewesen.«

»Ich bitte Sie, das war doch wohl selbstverständlich. Wenn es noch etwas gibt, was ich tun kann...«

»Vielen Dank, aber ich glaube, ich sollte jetzt zurückfahren, um meinem Mann Bescheid zu sagen. Aber trotzdem nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Wenig später fuhr sie, wesentlich langsamer nun, wieder in Richtung des Flusses. Dort fand sie ihren Mann und Sven, wie sie sich um das Mädchen kümmerten. Den Lieferwagen hatte sie unterwegs nicht wieder gesehen. Sie parkte den Corsa und stieg aus. »Wie geht es ihr?«

»Bisher unverändert«, antwortete Uwe. »Sie atmet ruhig, aber ihr Herzschlag ist sehr schwach.«

Karin blickte auf ihre Armbanduhr. »Wollen wir hoffen, daß der Krankenwagen bald kommt.«

Sven hatte das Mädchen seit er es gefunden hatte nicht aus den Augen gelassen. Sie war etwa fünf oder sechs Jahre alt, also vier oder fünf Jahre jünger als er. Er stellte sich vor, daß sie seine Schwester wäre. Das war ein seltsames Gefühl, denn er hatte nie eine Schwester gehabt. Trotzdem fand er den Gedanken daran faszinierend. Jetzt, wo ihr Haar ein wenig getrocknet war konnte er erkennen, daß es dunkelblond war, genau wie sein eigenes. Aber er hatte dazu graue Augen, sie hellblaue. Dabei fiel ihm etwas auf. Ihre Lider waren offen. Sie starrte geradeaus in den Himmel, ohne etwas wahrzunehmen. Er fragte sich gerade, wann sie ihre Augen geöffnet hatte, doch dann fiel ihm ein, wie sie ihn bereits vom Gebüsch aus angeblickt hatte. Neugierig sah er ihr nun so lange ins Gesicht, bis sie blinzelte. Wenigstens zeigte sie ein Lebenszeichen. Dann mußte er daran denken, daß es auch heute abend wieder einmal keinen Fisch zum Essen geben würde.

Sie hörten das Heulen des Martinshorns bereits auf der Straße, noch bevor der Krankenwagen in den Wald einbog. Eine oder zwei Minuten später kamen die Pfleger dann bei ihnen an, um das Mädchen in den Wagen zu heben. Kurz nachdem der Krankenwagen wieder abgefahren war, packten Uwe, Karin und Sven ihre Sachen zusammen und fuhren ebenfalls zum Krankenhaus.

Das kleine Krankenzimmer auf der Kinderstation wurde durch die hereinscheinende Sonne hell erleuchtet. Sven und Karin saßen am Bett des Mädchens, während Uwe im Büro den Verlauf des Tages schilderte. Die Krankenschwester, die das Mädchen nach der Untersuchung auf ihr Zimmer gebracht hatte, erklärte ihnen, daß es einen Schock erlitten habe, der wohl bald vorbei sein würde. Dicke Decken wärmten den kleinen Körper, und eine Nährstofflösung tröpfelte durch einen dünnen Schlauch. Die Verletzung an ihrem Bein, die jetzt sauber verbunden worden war, stammte vermutlich von einem Hundebiß. Man hatte ihr eine Tetanus-Spritze gegeben und die Wunde genäht. Wahrscheinlich würde eine kleine Narbe zurückbleiben.

Zwanzig Minuten nachdem die Schwester das Zimmer verlassen hatte, stand Karin auf, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Aber der eigentliche Grund war, daß sie es nicht ertragen konnte, das kleine Kind so still im Bett liegen zu sehen. Es hatte sich nicht ein Mal in der ganzen Zeit bewegt. Ihr Blick war immer starr geradeaus gerichtet gewesen und auch gesprochen hatte sie nicht. Irgendwie erinnerte sie das an einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, dem das Kind nicht entrinnen konnte. Aber schlimmer war: sie konnte ihm nicht helfen.

Nachdem seine Mutter den Raum verlassen hatte, stand Sven auf. Vorsichtig ging er bis an das Bett des Mädchens heran. Ihr Gesicht hatte endlich wieder eine rosige Farbe bekommen. »Keine Angst«, flüsterte er. »Du wirst schon wieder gesund.« Dann strich er ihr vorsichtig mit einer Hand durchs Haar.

Er hatte sich nichts bei dieser beiläufigen Geste gedacht, um so mehr erschreckte ihn, was nun geschah. Er hatte sich gerade umgedreht und wollte zu seinem Stuhl zurückkehren, als sich plötzlich eine kleine Hand um die seine schloß. Überrascht drehte er sich um. Das Mädchen hatte sich aufgerichtet und sah ihn mit großen Augen verwirrt an. Ihre Hand hielt ihn ängstlich fest. Behutsam machte er einen Schritt auf sie zu, und sie streckte auch den anderen Arm nach ihm aus. Eine der Decken, die sie wärmten, fiel zu Boden. Sven bückte sich und hob sie auf. Als er sie gerade auf das Bett zurücklegen wollte, kam die Schwester wieder herein. »Was machst du da?« wollte sie wissen. Ihr verärgerter Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig in Erstaunen, als Sven auf das Mädchen deutete, das nun aufrecht im Bett saß. Einen Augenblick danach hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Wann ist sie wach geworden?«

»Gerade eben, einen Augenblick, bevor Sie hereingekommen sind.«

Die Pflegerin trat an das Bett, doch vor ihr wich das Kind zurück. »Keine Angst«, sagte sie beruhigend. »Ich will dir nichts tun. Wie heißt du?«

Das Mädchen antwortete nicht. Sie blickte sich nur immer wieder ängstlich um. »Paß auf sie auf«, befahl die Pflegerin. »Ich werde den Arzt holen.« Sven nickte, und die Krankenschwester verließ das Zimmer.

Der zehnminütige Spaziergang in dem kleinen Park hatte ihr sehr gut getan. Leise öffnete sie die Tür zum Krankenzimmer. Zu ihrer Überraschung saß Sven am Bett des Mädchens und hielt ihre Hände. Doch dann bemerkte das Kind sie, und sofort zog es sich von Sven zurück. Die hellen blauen Augen zeigten Angst. Sven drehte sich um. »Sie ist vor ein paar Minuten wach geworden«, erklärte er. »Aber sie hat noch nichts gesagt. Nicht mal, wie sie heißt. Außerdem scheint ihr irgendwas ziemliche Angst einzujagen.«

Karin setzte sich auf ihren Stuhl. Dabei bemerkte sie, wie das Kind sie nicht aus den Augen ließ. Ihr Blick verfolgte argwöhnisch jede ihrer Bewegungen. Als Sven ihr beruhigend eine Hand drückte, ergriff sie diese mit beiden Händen, ohne den Blick von Karin abzuwenden. Irgendwie weckte diese Geste in ihm eine Art Beschützerinstinkt, obwohl er genau wußte, daß das Mädchen von seiner Mutter nichts zu befürchten hatte.

War die Reaktion des Mädchens auf Karin schon merkwürdig gewesen, die Art, wie sie auf den Anblick des Arztes reagierte, war weitaus dramatischer. In dem Augenblick, als er zur Tür hereinkam und sie ihn sehen konnte, klammerte sie sich an Svens Arm fest und begann leise zu wimmern. Durch diese heftige Bewegung riß sie den dünnen Kunststoffschlauch von der Nadel in ihrem Arm, und die klare Flüssigkeit aus der Plastikflasche tropfte nutzlos auf den Boden. Verängstigt beobachtete sie den Arzt, wie er sich ihr vorsichtig näherte. Währenddessen hob die Pflegerin den Schlauch auf und drehte den Hahn an der Flasche zu.

Sie hatten sie doch wieder gefunden! Der Doktor mit dem weißen Kittel und die anderen! Bestimmt wollten sie sie wieder zurückbringen. Bestimmt würden sie wieder die Hunde holen und das Feuer anzünden. Sie würden ihr wieder wehtun. Nur ihr großer Bruder konnte sie jetzt noch retten. Sie klammerte sich schutzsuchend an ihm fest. Doch wie auch beim erstenmal gab es einen fürchterlichen Knall, und ihr Bruder fiel zu Boden. Sie schrie laut auf und versuchte wegzulaufen, doch jemand hielt sie fest. »Ruhig, ganz ruhig!« sagte eine tiefe Stimme, die sie erschreckte. Plötzlich spürte sie einen schmerzhaften Stich in ihrem Arm, und wenige Augenblicke später verließen sie ihre Kräfte.

Fassungslos starrte Sven auf die reglose Gestalt in seinen Armen. Warum hatte sie sich plötzlich so gewehrt? Und warum hatte sie geschrien? Sanft ließ er sie ins Bett zurückgleiten und deckte sie zu.

Am nächsten Tag ging Sven zusammen mit seiner Mutter wieder ins Krankenhaus. Sein Vater mußte heute in der Firma länger arbeiten, und so konnte er nicht mitkommen. Unten an der Auskunft erkundigten sie sich nach dem Mädchen und erfuhren, daß sie morgen entlassen werden sollte. Zusammen gingen die beiden in die Kinderstation hinauf, doch das Zimmer, in dem sie gestern gelegen hatte, war leer.

Karin hielt einen Pfleger an, der gerade einen kleinen Wagen über den Gang schob. »Entschuldigen Sie bitte. Wissen Sie, wo das kleine Mädchen ist, das in diesem Zimmer lag?«

Der Pfleger dachte einen Augenblick nach. »An Ihrer Stelle würde ich es mal im Spielzimmer versuchen«, sagte er dann und deutete in eine Richtung den Gang hinunter. »Um diese Zeit sind die meisten der Kinder dort.«

Je näher sie dem Spielzimmer kamen, desto deutlicher wurde das Geräusch von vielen Kinderstimmen, die wild durcheinanderplapperten. Es dauerte nicht lange, bis sie die Tür erreichten. Sven erkannte sofort eine der Krankenschwestern, die er gestern getroffen hatte. Zusammen mit seiner Mutter ging er zu ihr.

»Ah, Frau Dahlen. Wie geht es Ihnen?« fragte sie höflich.

»Danke, gut«, erwiderte Karin. »Ich bin wegen der Kleinen von gestern hier. Wissen Sie, wo sie ist?«

Das Gesicht der Pflegerin wurde eine Spur betrübt. »Ja. Sie sitzt dort drüben am Fenster. Es ist wirklich ein Jammer. Das arme, kleine Ding spricht nicht, und auch jetzt sitzt sie nur da und schaut hinaus. Irgend etwas muß ihr wohl einen schweren Schock versetzt haben.« Langsam führte sie die beiden zum Fenster. »Ängstigen Sie das Kind nicht«, mahnte die Schwester. »Sie scheint immer noch große Furcht zu haben.«

Karin nickte. Sven war bereits unterwegs und berührte das Mädchen sanft an der Schulter. Erschreckt wirbelte sie herum und wich zur Wand zurück. Dann erkannte sie Sven und umarmte ihn heftig. Er murmelte ein paar beruhigende Worte und strich ihr sanft über das dunkelblonde Haar. Ungläubig beobachteten die beiden Frauen diese Szene. »Wenn ich bedenke, daß wir ihr nur in die Nähe kommen können, wenn sie schläft«, sagte die Pflegerin. »Sonst zieht sie sich gleich immer in eine Ecke des Zimmers zurück. Aber zu Ihrem Sohn scheint sie ja Vertrauen zu haben.«

Karin war mindestens genauso verwundert. So kannte sie Sven gar nicht. Eigentlich war er ein ziemliches Energiebündel, nie zu bremsen. Aber ihn jetzt zu sehen, wie er geduldig mit dem kleinen Mädchen sprach und spielte, schien genau das Gegenteil zu beweisen. Etwa eine Stunde später endete die Besuchszeit, und Sven mußte sich verabschieden. Unten am Ausgang hörten sie plötzlich hinter sich aufgeregte Rufe, woraufhin sie sich umdrehten. Das Mädchen war ihnen hinterhergerannt und umklammerte Sven. Die Pflegerin kam wenige Meter hinter ihr her den Gang heruntergerannt, dann blieb sie bei den beiden stehen. Die Kleine begann zu weinen und hielt sich an dem Jungen fest, als die Schwester sie zurückbringen wollte. Schließlich mußte Sven noch einmal zur Kinderstation zurück. Nachdem er ihr versprochen hatte, sie morgen wieder zu besuchen, blieb sie im Spielzimmer.

Abends saß Sven mit seinen Eltern im Wohnzimmer. Im Fernsehen lief gerade Henry Slesars Krimistunde, eine der Lieblingssendungen seiner Mutter, als es an der Haustür klingelte. Svens Vater stand auf und kam einen Augenblick später mit einem älteren Mann zurück. Es war Ernst, ein guter Freund seines Vaters. »Hallo Karin«, begrüßte er seine Mutter.

»Oh, hallo Ernst«, erwiderte sie abwesend. »Wie geht's denn so?«

»Gut, sehr gut, danke.« Er setzte sich an den Tisch. »Ich habe gehört, ihr habt im Krankenhaus für einige Aufregung gesorgt.«

»Sozusagen. Habt ihr beim Jugendamt denn schon etwas herausgefunden?«

»Bisher noch nicht.« Ernst lehnte sich zurück. »Es hat sich bei uns noch niemand wegen des Mädchens gemeldet. Scheinbar wird sie nicht vermißt. Und da sie nicht redet und auch keine Papiere bei sich hat, können wir ihren Wohnort nicht ohne weiteres feststellen.«

»Morgen soll sie aus dem Krankenhaus entlassen werden...«, sagte Karin.

»Und du fragst dich jetzt, was aus der Kleinen wird, nicht wahr?« Karin nickte. Sven lauschte jetzt angespannt. »Nun ja, zuerst werden wir sie wohl in ein Kinderheim einweisen müssen, wo sie bleiben wird, bis sich ihre Eltern bei uns gemeldet, oder wir die nächsten anderen Verwandten ausfindig gemacht haben.«

»Aber das geht nicht«, warf Sven ein.

»Was geht nicht?« fragte sein Vater.

»Sie kann nicht in ein Heim kommen. Da kennt sie doch niemanden. Ihr wißt doch, wie sehr sie sich vor Fremden fürchtet.«

»Vor allen, außer vor dir«, meinte Ernst belustigt. »Komm schon«, fuhr er fort, als er Svens überraschten Gesichtsausdruck sah. »Das ganze Amt weiß schon darüber Bescheid. Du bist bisher der einzige, zu dem sie wirklich Vertrauen gezeigt hat. Deshalb bin ich ja hier. Ich wollte euch nämlich einen Vorschlag machen.«

»Sag bloß, wir sollen-« begann Uwe.

Ernst winkte ab. »Nein, Uwe! Ihr sollt nicht, ihr könnt sie bei euch aufnehmen, bis wir mit den Nachforschungen fertig sind. Ihr habt genügend Platz, Karin ist den ganzen Tag zu Hause, und da gerade Sommerferien sind, kann Sven sich auch um sie kümmern.« Er blickte zu dem Jungen hinüber, der ihn mit offenem Mund anstarrte.

»Ich glaube nicht, daß das eine so gute Idee ist«, sagte Uwe.

»Wieso eigentlich nicht«, gab Karin zurück. »Ich glaube, Sven wäre froh über etwas Gesellschaft.« Der Junge nickte.

»Ich glaube, wir sollten uns die Sache erst noch einmal überlegen«, meinte Uwe. »Wir können dich ja morgen im Büro anrufen, wenn wir uns entschieden haben.«

»Gut, von mir aus gerne. Ich bin den ganzen Tag zu erreichen. Meine Nummer habt ihr ja.«

Es war ein heftiger Wind aufgekommen, als Sven mit seinen Eltern am nächsten Morgen zum Krankenhaus fuhr. Ein paar Blätter wirbelten im Kreis vor dem großen Eingang und wehten dann auf die davorliegende Wiese. Sven hatte seine Ungeduld während der Fahrt kaum bezähmen können. Er hatte selbst keine Ahnung, warum er sich so sehr darauf freute, eine Schwester zu bekommen, aber er konnte es kaum erwarten. Seit dem Augenblick, als sein Vater beim Jugendamt angerufen und zugestimmt hatte, wartete Sven darauf, das Mädchen endlich wiederzusehen. So war er auch schon an der Auskunft angekommen, als seine Eltern gerade das Gebäude betraten. Ernst wartete dort bereits auf sie.

»Hallo, Sven. Ich wette, heute ist ein Freudentag für dich.«

»Papa hat mir gesagt, daß wir noch irgendwas unterschreiben müssen.«

»Das stimmt, aber es dauert nicht lange. Hallo, ihr zwei«, sagte er zu Svens Eltern gewandt, die gerade herankamen. »Ich dachte, du müßtest heute arbeiten?« erkundigte er sich.

»Tag, Ernst«, begrüßte Uwe seinen Freund. »Ich habe mir für den feierlichen Anlaß einen Tag Urlaub geben lassen. Du weißt doch am besten über den ganzen Kram hier Bescheid. Was müssen wir jetzt machen?«

»Kommt einfach mit. Ich zeige euch, was noch ansteht.« Mit einer Handbewegung bedeutete er ihnen, ihm zu folgen. »Als erstes müßt ihr ein paar Formulare unterschreiben, die dann belegen, daß das Jugendamt das Kind zu euch in Pflege gegeben hat. Dann kommt noch eine abschließende Routineuntersuchung für das Mädchen, und danach könnt ihr sie zu euch nach Hause bringen.«

Inzwischen waren sie an einer Glastür angekommen, an die Ernst jetzt klopfte. Ein gedämpftes »Herein!« war zu hören, und sie betraten das Büro. Sven blieb draußen, er konnte diese Schreibtischzimmer nicht ausstehen.

Es dauerte in der Tat nur zehn Minuten, bis seine Eltern in Begleitung eines Arztes wieder aus dem Büro kamen. Sven, der auf einem der unbequemen Stühle im Flur gesessen hatte, war diese Zeit allerdings beinahe unendlich lang vorgekommen. Jetzt drängte er darauf, endlich zur Kinderstation hinauf zu gehen. Dieses Mal gingen sie gleich zum Spielzimmer, wo sie das Mädchen fanden. Wie auch am vorherigen Tag saß sie auf einem Stuhl am Fenster und blickte hinaus. Der Verband an ihrem Bein war nun deutlich kleiner geworden, nicht mehr als ein dünnes Stück Stoff, das man sich aus Spaß als Teil einer Verkleidung umbindet. Diesmal näherte Sven sich ihr vorsichtiger. Er stellte sich neben ihren Stuhl und wartete, bis sie ihn sah. Ihre ängstlichen Züge wandelten sich in ein Lächeln.

»Bist du gerne hier?« fragte er nach einer Weile. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Du könntest bei mir wohnen. Möchtest du das?«

Der strahlende Glanz, der jetzt in ihre sonst so traurigen Augen trat, war ihm Antwort genug. »Dann komm mit«, sagte er und nahm sie bei der Hand. Zusammen gingen sie mit dem Arzt und seinen Eltern in eines der Behandlungszimmer. Das Mädchen hielt sich nahe bei Sven, er mußte ihr während der Untersuchung die Hand halten und gut zureden, damit sie keine Angst hatte. Doch schließlich konnten sie endgültig nach Hause fahren. Uwe verabschiedete sich von Ernst und dankte ihm für seine Hilfe. Karin beobachtete ihren Sohn, wie er mit dem Mädchen zusammen auf die Rückbank kletterte. Es war schon seltsam, aber er schien sehr glücklich zu sein. Auch die Kleine war offensichtlich wesentlich gelöster als zuvor. Mit großen Augen blickte sie neugierig umher, als sie durch den kleinen Ort fuhren. Von ihrer anfänglichen Traurigkeit war nun nichts mehr zu sehen. Allerdings ließ sie während der ganzen Fahrt Svens Hand nicht los.

Endlich waren sie daheim. Uwe stoppte den Corsa vor dem Haus und ließ die drei anderen aussteigen, bevor er den Wagen in der Garage parkte. Karin schloß die Haustür auf und wartete auf die beiden Kinder.

»Das ist dein neues Zuhause«, sagte sie, als das Mädchen vor der Tür angekommen war. Zögernd machte sie ein paar weitere Schritte und stand im Flur. Sie hinkte immer noch leicht, aber das würde wohl in den nächsten Tagen vergehen. Sven brachte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch setzten und auf seinen Vater warteten. Es würde mit Sicherheit noch einiges zu besprechen geben.

Ein neugieriges Augenpaar beobachtete Sven, als er am Abend das kleine Gästebett neben seinem eigenen aufklappte. »Das ist jetzt dein Bett«, sagte er. »Du wirst hier in meinem Zimmer wohnen. Es ist groß genug für zwei.« Er holte noch ein paar Decken aus seinem Schrank und breitete sie auf der Liege aus. Außerdem förderte er noch einen bunten Schlafanzug zutage. »Ich hoffe, er paßt dir. Mir ist er mittlerweile zu klein geworden, aber es macht doch sicher nichts, wenn er dir ein bißchen zu lang ist, oder?« Er legte den Anzug auf das Bett. »Ich habe ziemlich viel Kram. Du kannst damit spielen, wenn du willst. Aber du mußt die Sachen auch wieder einräumen, sonst wird Mama böse.« Er setzte sich mit ihr zusammen hin. »Wie heißt du eigentlich?« Als sie nicht antwortete, fragte er noch einmal. Aber wieder zeigte sie keine Reaktion. »Kannst du nicht sprechen?« fragte er. Sie blickte ihn nur an. Sven zuckte mit den Schultern. »Na gut, wer nicht will, der hat schon.« Er stand auf. »Ich komme gleich wieder. Du kannst dich ja schon mal umziehen, wenn du müde bist.«

Als er aus dem Badezimmer zurückkam, fand er sie, wie sie auf dem Bett lag und bereits schlief. Sie hatte sich noch nicht einmal zugedeckt. Sven zog eine der Decken über sie, und sie regte sich im Schlaf. Dann zog er sich seinen Schlafanzug an und legte sich hin. Jetzt erst bemerkte er die Buchstaben, die an seiner magnetischen Wandtafel hingen.

»KRISTINA«

Sven war sprachlos. Er sah sich die Buchstaben ein weiteres Mal an. Es bestand kein Zweifel, sie hatte ihren Namen gelegt. Zwar mußte es seiner Meinung nach richtig »Christina« heißen, aber das war Sven im Moment egal. Wichtig war nur, daß er endlich wußte, wie sie hieß. Dann beschäftigte ihn eine andere Frage: Wollte sie ihm ihren Namen nennen oder hatte sie ihn nur zufällig gelegt, weil es vielleicht das einzige Wort war, das sie schreiben konnte. Er erinnerte sich an die Zeit, als er selbst kurz vor der Einschulung gestanden hatte. Damals hatte ihm seine Mutter beigebracht, wie er »Sven« schreiben mußte, und vor lauter Begeisterung hatte er seinen Namen überall auf seine Sachen gekritzelt. Es erschien ihm daher nur logisch, daß es sich mit dem Mädchen ähnlich verhielt. Aber innerlich hoffte er, daß sie es absichtlich gelegt hatte.

Der Radiowecker zeigte zehn Uhr, als Sven sacht von seiner Mutter geweckt wurde. »Aufstehen, du Faulpelz. Das Frühstück ist fertig.«

Sven murmelte etwas und setzte sich auf. Dann gähnte er herzhaft und streckte seine Glieder. Kristina lag immer noch friedlich schlummernd im Bett.

»Ich glaube, wir sollten sie noch schlafen lassen«, meinte Svens Mutter als sie merkte, daß er sich nach dem Mädchen umblickte. »Sie hat ein paar anstrengende Tage hinter sich. Sie kann ja später etwas essen. Aber du bist in zehn Minuten am Tisch, junger Mann.«

»Zu Befehl.« Er salutierte und Karin verließ das Zimmer. Immer noch müde schwang Sven seine Beine aus dem Bett und stand auf. Unsicher torkelte er über den Flur ins Badezimmer, wo er sich für den Tag fertigmachte. Mitten in seiner Beschäftigung, seine Zahnbürste ragte aus seinem rechten Mundwinkel heraus, mußte er an gestern abend denken. Hatte er sich das nur eingebildet, oder war es Wirklichkeit gewesen. Schnell ging er in sein Zimmer und blickte sich um. Kein Zweifel. Die Buchstaben hingen immer noch in derselben Anordnung an der Tafel. Das beruhigte ihn wieder, und er setzte seine Morgentoilette fort.

»Soldat Sven Dahlen zum Essen angetreten«, meldete er, als er fünf Minuten später am Frühstückstisch stand.

»Morgendliche Pflichten erfüllt, Soldat?« konterte Karin.

»Melde gehorsamst, daß ja. Bitte um Erlaubnis, mich setzen zu dürfen.«

»Erlaubnis erteilt, Soldat Dahlen.«

Sven setzte sich und griff nach einem der Brötchen, die in einem kleinen Drahtkorb auf dem Tisch lagen. Während er aß, lauschte er der Musik, die aus dem Radio kam und ließ seinen Fuß im Takt mitwippen. Er hatte gerade sein drittes Brötchen in Angriff genommen, als sich die Wohnzimmertür einen Spalt öffnete. Von dem Platz, an dem er saß, konnte Sven nichts sehen, aber als seine Mutter aufstand und zur Tür hinüberging wußte er, wer da draußen stand.

»Guten Morgen, Kleines«, sagte sie und führte das schüchterne Mädchen in die Küche. »Ich hoffe, du hast Hunger. Komm, setz dich da auf den Stuhl. Ich bringe dir etwas.« Nachdem das Mädchen Platz genommen hatte, holte Karin einen Teller und ein Messer für sie aus einer Schublade.

»Hast du gut geschlafen, Kristina?« fragte Sven. Den überraschten Gesichtsausdruck seiner Mutter bemerkte er überhaupt nicht. Kristina nickte leicht. »Hier, nimm«, sagte Sven und legte dem Mädchen ein Brötchen auf den Teller. Als er ihr dann auch noch die Marmelade hinstellte, begann sie schließlich, zu essen. Jetzt erst bemerkte Sven Karins fragenden Blick. Er sah zu ihr auf und hob die Augenbrauen. »Is' was?«

»Eigentlich hätte ich nur gerne gewußt, woher du ihren Namen weißt«, entgegnete sie mit einer Spur Gereiztheit in ihrer Stimme.

»Och das«, Sven genoß das kleine Spielchen. »Das war eigentlich nicht weiter schwierig.«

»Raus mit der Sprache.«

»Okay, okay. Ich hab sie ja gestern abend auf mein Zimmer gebracht. Dann habe ich ihr das Bett aufgebaut und ein paar Sachen aus dem Schrank geholt.« Sven wußte, daß diese Details seine Mutter im Prinzip überhaupt nicht wissen wollte, aber das machte die ganze Sache etwas spannender. »Ach ja, ich hab ihr meinen alten Schlafanzug gegeben, den, der mir zu klein geworden ist. Dann bin ich ins Bad gegangen, und als ich wiederkam, lag sie schon im Bett und schlief. Aber an meine Magnettafel hatte sie ein paar Buchstaben gehängt. Das war eigentlich alles.«

»Dann kannst du ja schon schreiben«, sagte sie zu Kristina. Das Mädchen antwortete nicht, sondern kaute langsam weiter an seinem Brötchen.

»Glaubst du, daß sie überhaupt nicht sprechen kann?«

»Nein. Ich denke eher, daß sie nicht will. Vielleicht hat sie noch zu viel Angst. Wer weiß, was ihr zugestoßen ist.«

»Keine Ahnung.« Sven biß wieder in sein Brötchen. »Aber vor uns braucht sie sich nicht zu fürchten. Soviel ist sicher.«

»Nach dem Essen werden wir dich erst einmal baden und deine Sachen waschen«, sagte Karin zu Kristina gewandt. »Dann kann Sven dir unseren Garten zeigen, wenn du möchtest.«

Einige Zeit später ging Karin ins Badezimmer, um die Wanne vollaufen zu lassen. Nachdem sie die Wassertemperatur eingestellt hatte, steckte sie den Stöpsel in den Abfluß und füllte eine Kappe Schaumbad in die Wanne. Nach einer Weile rief sie Sven, und kurz darauf kam er mit Kristina ins Badezimmer. Er half seiner Mutter das Mädchen auszuziehen, und dann hob Karin die Kleine ins Wasser. Sie beauftragte Sven, auf Kristina aufzupassen, während sie die schmutzigen Sachen in den Wäschekorb legte und dann kurz in die Stadt ging, um noch ein paar kleinere Besorgungen zu machen.

Als sie schließlich wieder zurückkam, saßen die beiden Kinder auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sven hatte das Mädchen in einen übergroßen Bademantel gehüllt, in dem sie noch kleiner aussah, als sie es in Wirklichkeit war. Sven tippte auf der Fernbedienung des Fernsehers herum, legte sie aber auf den Tisch, als Karin hereinkam. Sie stellte ihre Taschen in einer Ecke des Raumes ab und zog ein kleines Paket heraus, das sie jetzt auswickelte. »Sven, bring Kristina doch mal hier herüber. Ich habe etwas für sie.« Sie wartete, bis die beiden neben ihr standen. Dann packte sie das Bündel endgültig aus und hielt ein hübsches Kleid hoch. »Ich glaube, das müßte so etwa deine Größe sein, Kristina«, sagte sie. »Möchtest du es gerne mal anziehen?« Kristina machte große Augen, sagte aber nichts. »Ich habe noch zwei andere besorgt. Und Unterwäsche. Das ist alles in dem Beutel hier.« Sie drückte Sven eine Stofftragetasche in die Hand. »Sie kann sich ja bei dir im Zimmer umziehen. Bring die Sachen schon mal hinein, und räum ein Fach in deinem Schrank frei, ja? Ich komme gleich mit ihr nach.« Sie nahm Kristina bei der Hand und ging mit ihr ins Badezimmer zurück, wo sie ihr die, immer noch feuchten, Haare fönte und bürstete. Dann brachte sie das Kind zu Sven ins Zimmer, wo es seine neuen Sachen anzog, während Karin und ihr Sohn draußen warteten.

Uwe hätte das Mädchen beinahe nicht wiedererkannt, als er von der Arbeit nach Hause kam. Karin hatte ihr die Haare zu einer hübschen Frisur gebunden, und das neue Kleid tat sein Übriges. »Nanu?« meinte er. »Ich wußte ja gar nicht, daß wir eine so hübsche junge Dame bei uns haben.« Dann stellte er seine Tasche ab, ging zu Karin hinüber und gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Hallo Schatz«, sagte sie. »Wie war dein Tag?«

»Heute war glücklicherweise nicht viel los. Nur ein paar Planungen, die ich heute abend noch ein bißchen bearbeiten muß. Hier und da noch eine Zeichnung ausbessern und so weiter. Ach ja, Ernst hat mich angerufen. Er wollte demnächst vorbeikommen und sehen, wie sich unser Gast so eingelebt hat.«

»Sie heißt Kristina«, warf Sven von der Couch aus ein.

»So? Woher wißt ihr denn das?«

»Sven hat es gestern abend herausgefunden«, sagte Karin. »Als er gerade nicht im Zimmer war, hat sie ihren Namen mit seinen Magnetbuchstaben auf die Tafel geschrieben.«

»Na, dann wissen wir ja jetzt, wie wir dich anreden müssen. Hat sie sich denn schon eingewöhnt?«

»Ich glaube, es wird noch eine Zeit dauern, bis sie ihre Scheu ganz verliert«, sagte Karin leise. »Vielleicht erfahren wir dann, was geschehen ist.«

Sven achtete nicht mehr auf das Gespräch, das seine Eltern führten. Sein Vater hatte die Baupläne für irgendein neues Gebäude auf den Tisch gelegt und erklärte Karin jetzt die Symbole. Sven hatte sich nie besonders für die Arbeit seines Vaters interessiert. Seine Aufmerksamkeit widmete er lieber den Dingen, die man draußen machen konnte. Am liebsten spielte er hinten im Garten mit ein paar anderen Jungs aus der Nachbarschaft. Aber der größte Teil von ihnen war über die Ferien verreist. Deshalb saß er in dieser Zeit meist alleine auf der Wiese und dachte sich kurze Geschichten aus, die er dann in ein kleines Buch schrieb, das er sorgfältig in seinem Zimmer versteckt hielt. Nicht einmal seine Eltern wußten von dieser kleinen Angewohnheit.

Als er heute mit Kris im Garten umhergelaufen war, hatte er ihr die großen Blumenbeete gezeigt, die sein Vater mit viel Mühe angepflanzt hatte. Er hatte gehofft, daß sie endlich mit ihm sprechen würde, aber sie blieb stumm. Das strahlende Lächeln auf ihrem Gesicht, als er ihr den Teich, in dem sie ein paar Goldfische hielten, zeigte, war allerdings ein gewisser Ausgleich dafür. Sie sollten nichts überstürzen, hatte seine Mutter gesagt. Sie würde sich schon wieder fangen, die Zeit heilt alle Wunden. Also mußte er sich gedulden, so schwierig das auch sein mochte.

Es gab keinen triftigen Grund dafür, daß Sven Dahlen mitten in der Nacht plötzlich erwachte. Die Leuchtziffern seines Radioweckers zeigten vier Minuten nach drei. Draußen war der Wind in den Bäumen des Gartens zu hören, ein Wagen fuhr über die entfernte Landstraße, kein Geräusch, das ungewöhnlich genug wäre, um ihn aufzuwecken. Alles war wie immer. Es mußte also etwas anderes gewesen sein. Sein letzter Traum spukte ihm noch im Kopf herum. Er hatte geträumt, Kristina wäre seine wirkliche Schwester und er hätte mit ihr im Garten eine Schaukel mit langen Seilen an der riesigen Linde aufgehängt. Kein wirklicher Alptraum also. Das konnte es auch nicht gewesen sein. Er zog sich seine dünne Decke bis an die Schultern und schloß erneut die Augen.

Wieder erwachte er, es war zehn nach drei. Er drehte sich herum und blickte in die Richtung, in der Kristinas Bett stand. In der Dunkelheit des Zimmers konnte er nichts sehen. Dann hörte er etwas, es war das Geräusch, das ihn nun schon zum zweitenmal aus dem Schlaf geholt hatte. Kristina murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin. Erleichtert, daß sich der Vorfall so simpel erklären ließ, machte Sven es sich wieder bequem. Doch dann schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Sie spricht! Mein Gott, sie spricht!

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, stand er auf und tastete sich zu ihrem Bett hinüber. Sie gab immer noch unverständliche Laute von sich, und Sven versuchte, Hand und Fuß darin zu finden. Aber alles, was er mit Sicherheit verstand, waren die Worte Feuer und Hunde. Plötzlich schrie sie schrill auf, und Sven bemerkte erschreckt, wie sie sich im Bett aufsetzte und wild mit den Armen zu fuchteln begann. Immer wieder schrie sie auf, als hätte sie Schmerzen. Sven umarmte das kleine Mädchen und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Dann wurde sie wieder ruhiger, schlang ihre Arme um ihn und begann zu weinen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis plötzlich das Licht im Zimmer aufleuchtete. Seine Eltern standen in der Tür.

»Sie hatte einen Alptraum«, sagte Sven sofort. »Jetzt hat sie sich wieder beruhigt.« Er strich dem immer noch weinenden Mädchen sanft durchs Haar.

»Kommst du zurecht?« fragte seine Mutter. Sven nickte. Wenig später waren die beiden Kinder wieder allein.

Endlich hörte sie auf zu weinen, doch sie löste ihre Umarmung nicht. Ganz leise, so daß er die Worte kaum verstehen konnte, sagte sie: »Hilf mir.« Gleich darauf war sie wieder eingeschlafen. Sven war ziemlich durcheinander. Einerseits freute es ihn ungemein, daß sie endlich mit ihm gesprochen hatte, andererseits, was hatte sie gemeint, als sie ihn um Hilfe bat? Er entschied sich dafür, sie am Morgen noch einmal zu fragen. Jedenfalls, wenn sie dann noch mit ihm sprach. Behutsam legte er sie ins Bett zurück, deckte sie zu und machte es sich wieder bequem. Dann schaltete er das Licht ab.

Doch beim Frühstück zeigte sie sich genauso verschlossen wie zuvor. Sven hatte seiner Mutter bisher noch nicht erzählt, daß sie mit ihm gesprochen hatte. Das wollte er ihr erst sagen wenn er wußte, worum es bei der Sache ging. Statt dessen bettelte er ihr ein paar Mark für den Zoo ab, und nachdem er seiner Mutter feierlich versprochen hatte, auf Kris aufzupassen, führte er das Mädchen durch die Straßen zu dem kleinen Tierpark des Städtchens.

Am Eingang angekommen bezahlte Sven und betrat mit Kristina den Zoo. Hier gab es eine ganze Menge einheimischer Tierarten, aber auch zwei Straußen und ein Lama hatten hier ihr Quartier gefunden. Kristina zeigte sich von den Straußen begeistert, wenn man bei ihr überhaupt von Begeisterung reden konnte. Hier war sie zumindest noch am längsten stehengeblieben, und sie hatte tatsächlich gelächelt, als ein anderes Kind seinen Finger unvorsichtigerweise durch den Maschendraht gesteckt hatte, bevor seine Mutter es daran hindern konnte. Einer der Straußen hatte direkt zugehackt, und mit einem erschreckten Aufschrei zog das Kind seine Hand sofort zurück. Schließlich hatten sie sich alles angesehen und verließen nun den Tierpark durch das Drehtor. Draußen standen ein paar Leute, die noch den Tierpark besuchen wollten. Als er mit Kristina den Vorplatz betrat, stieß das Mädchen plötzlich einen Schrei aus.

Sie rannte, so schnell sie ihre kleinen Beine trugen. Immer noch war der schreckliche Lärm hinter ihr zu hören. Und er wurde lauter, die Meute kam näher. So schnell sie auch lief, sie konnte nicht entkommen. Plötzlich brach einer der Hunde aus dem Gebüsch neben ihr heraus, und sie spürte einen scharfen Schmerz in ihrem Bein. Verzweifelt schrie sie und trat um sich. Dabei traf sie das Tier an der Nase, und mit einem kurzen Winseln ließ es von ihr ab. Sie versuchte aufzustehen und zu fliehen, aber ihr Bein schmerzte fürchterlich, und sie fiel wieder hin, rollte einen kleinen Abhang hinunter, wo sie vor einem Zementrohr liegenblieb. Ein kleiner Bach plätscherte durch das Rohr hindurch, und sie krabbelte hinein. Drinnen war es dunkel, doch hier war sie vielleicht vor den Hunden sicher. Das kühle Wasser durchnäßte ihre Kleidung und sie begann zu frieren.

Sven fand Kristina ein paar hundert Meter weiter die Straße hinunter. Sie hatte sich hinter eine Gartenhecke gekauert und zitterte am ganzen Leib. Hundegebell schallte vom Zooeingang herüber. Als sie vor ein paar Augenblicken so plötzlich davongelaufen war, hatte er zuerst einen Moment lang nicht reagiert. Dann war er ihr hinterhergelaufen, immer die Worte seiner Mutter im Kopf: Paß gut auf sie auf, Sven.

Zuerst wehrte sie sich, als er ihre Hand nehmen wollte. Dann aber schien sie ihn wiederzuerkennen und ließ sich zurück auf die Straße führen. Ängstlich klammerte sie sich an ihn, blickte immer wieder die Straße auf und ab, als erwarte sie, daß sie jemand verfolgte. Sven beschloß, sie zu Hause zu fragen, wovor sie Angst gehabt hatte. Das hatte er eigentlich schon am Morgen tun wollen, doch die ganze Zeit über war seine Mutter bei ihm gewesen, und er wollte der Sache erst einmal alleine auf den Grund gehen. Auf dem Weg zum Zoo und während sie dort waren hatte er sein Vorhaben schließlich ganz vergessen. Heute abend aber wollte er sie fragen. Zumindest, wenn sie noch einmal mit ihm sprechen würde. Jetzt aber ging er langsam mit ihr die Straße hinunter, einen Arm tröstend um ihre Seite gelegt. Unterwegs kaufte er für sich und Kris an einem Kiosk eine Tüte Bonbons, die sie auf dem Nachhauseweg gemeinsam leerten. Jetzt schien sie wieder vollkommen ruhig zu sein. Aber Sven wußte mittlerweile, wie schnell sich das ändern konnte.

»Na, hat es euch Spaß gemacht?« fragte Karin, als ihr Sohn mit Kristina am frühen Nachmittag nach Hause kam. Sven nickte, aber das Mädchen schwieg. Armes Kind, dachte sie, während sich ihr Sohn mit Kris auf die Couch setzte. »In einer halben Stunde ist das Mittagessen fertig. Inzwischen werde ich mir mal dein Bein ansehen, Kristina. Vielleicht können wir den Verband schon abnehmen.« Vorsichtig hob sie das verletzte Bein des Kindes an und legte es auf die Lehne des Möbels. Die Wunde sah in der Tat bereits viel besser aus, und Karin kam zu dem Schluß, daß ein neuer Verband nicht notwendig war. Eine Verletzung heilte ohnehin an der Luft viel besser.

Wenig später deckten Kris und Sven den Tisch, während Karin das Essen zubereitete. Der Duft nach frischem Blumenkohl und Kartoffeln mischte sich mit dem der Koteletts und begann bereits durch das Wohnzimmer zu strömen, als sich die Haustür öffnete. Uwe wurde von einer Woge aus Wohlgerüchen empfangen und suchte nun nach der Quelle des Duftes. Karin kam ihm aus der Küche entgegen, in den Händen eine große Porzellanschüssel, in der ein mit weißer Sauce übergossener Blumenkohl auf seinen Verzehr wartete. »Hallo Liebling«, begrüßte er sie und gab ihr vorsichtig einen Kuß auf die Wange, damit sie die Schüssel nicht fallen ließ. »Ich habe eine wundervolle Nachricht für uns«, kündigte er an, während sie ins Wohnzimmer gingen, wo die beiden Kinder bereits am Tisch warteten. Uwe stellte seine Tasche neben einem der Sessel ab und zog sich seine Jacke aus, die er dann im Flur an einen der Haken hängte. »Mein Boß hat mir heute die Verantwortung für ein neues Projekt übertragen«, fuhr er fort, als er wieder hereinkam. »Ich soll an einem Bankgebäude mitarbeiten, das in den nächsten Monaten gebaut wird. Ein riesiger Komplex soll das werden, mit einer eigenen Tiefgarage für die Angestellten und einer Menge Büros.« Zusammen mit seiner Frau, die ihm jetzt ungeduldig zuhörte, setzte er sich an den Tisch. Sven bediente sich bereits und füllte auch Kristinas Teller. »Alles in allem bedeutet das für mich ein paar Stunden mehr Arbeit, aber auch eine saftige Zulage.« Er grinste, als er Karins überraschten Gesichtsausdruck sah.

»Und wie saftig ist diese Zulage?«

»Zwischen eintausend und fünfzehnhundert Mark. Aber das Schönste habe ich dir noch gar nicht gesagt.« Karin konnte sich nach dieser Ankündigung kaum noch etwas besseres vorstellen, aber sie wartete gespannt. »Wenn die Planung abgeschlossen und der Auftraggeber zufrieden ist, werden wir in Urlaub fahren. Ich habe die Bewilligung für vier lange Wochen bekommen.«

»Das ist phantastisch!« Karin war begeistert. »Dann können wir ja endlich mal einen ordentlichen Skiurlaub in der Schweiz machen. Es ist schon so lange her, seit ich das letzte Mal auf den Brettern gestanden habe. Was sagst du dazu, Sven?«

»Muß ich dann auch Skifahren?«

Karin und Uwe mußten über den bittenden Ausdruck in Svens Gesicht lachen. »So schwer ist das gar nicht«, erklärte sie. »Du wirst schon sehen, ein paar Tage Übung, und alles läuft wie von selbst.«

Sven war sich da gar nicht so sicher. Er hatte schon viele Sendungen im Fernsehen gesehen, und seine Vorstellung von einem Skifahrer war die eines im Bett liegenden Mannes, von Kopf bis Fuß in Gips eingepackt. Trotzdem gelang es ihm, ein Lächeln aufzusetzen. Vielleicht war es ja doch nicht so schlimm. Es gab ja noch so viele andere Dinge, die man machen konnte: Schlittschuhlaufen, Rodeln, Schneemänner bauen, und vielleicht konnte er mit Kris eine Schneeballschlacht machen. Er fand es recht komisch, mitten im Sommer an Schnee zu denken. So etwas konnte auch nur seinen Eltern einfallen. Mittlerweile unterhielten sie sich angeregt über die Vor- und Nachteile der einzelnen Urlaubsorte, die in Frage kamen. Ihm war es ziemlich egal wo sie hinfuhren, Hauptsache es machte Spaß.

Uwe war schon wieder zur Arbeit gefahren, als Sven und Kristina am Wohnzimmertisch saßen. Sven hatte einen Stapel alter Schulhefte aus einer seiner Kisten geholt und einen Haufen Buntstifte, die er jetzt auf dem Tisch verstreute. Kris' Augen begannen zu leuchten, als sie die Malsachen sah und begann sofort, mit einem Bleistift herumzukritzeln. Sie hielt sich tief über das Heft gebeugt, in das sie hineinzeichnete, so daß Sven nicht sehen konnte, was sie machte. Eine lange Zeit saß sie so da, machte hier ein paar Striche und radierte an einer anderen Stelle wieder etwas weg. Aber immer noch konnte Sven nicht sehen, was sie eigentlich malte. Selbst, als er schließlich seine Sachen wieder zusammenräumte, zeichnete sie immer noch herum. Sven hätte viel darum gegeben, einmal in das Heft schauen zu können.

Am Abend saßen Sven und Kris auf dem Boden vor dem Fernseher. Trotz Svens hartnäckiger Versuche hatte er bisher noch keinen Blick auf ihre Zeichnung werfen können. Sie hielt das Heft immer bei sich, als hätte es eine besondere Bedeutung für sie. Auch jetzt lag es neben ihr. Sven hatte sein Memoryspiel auf dem Boden ausgebreitet, und nun spielten sie schon die dritte Partie. Bisher stand es eins zu eins unentschieden. Kris war an der Reihe. Sie drehte nacheinander das Bild eines Seesterns und ein Kleeblatt um. Enttäuscht legte sie die Karten wieder hin und wartete auf Svens nächsten Zug. Aber anstatt weiterzuspielen, sah er das Mädchen genau an. »Warum bist du vorhin weggelaufen?« fragte er leise, damit seine Eltern ihn nicht hören konnten. Kris antwortete nicht. Aber diesmal wollte Sven nicht so schnell aufgeben. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will doch nur, daß du mir sagst, wovor du weggerannt bist. Ich werde es auch nicht weitersagen, wenn du das willst.« Sven blickte sie an, doch Kris hielt ihren Kopf gesenkt. Vorsichtig hob er ihr Kinn an, und als er ihr ins Gesicht sehen konnte, las er darin eine solche Furcht, daß er am liebsten seine Fragen zurückgenommen hätte. Aber er wußte, daß er jetzt nicht lockerlassen durfte. »Gestern nacht, da hast du im Schlaf von Feuer und Hunden gesprochen. Ist es das? Hast du davor Angst, vor Feuer und Hunden?« Kris rückte ein Stück von ihm ab und schüttelte heftig den Kopf. Sven beugte sich zu ihr nach vorne. »Wovor hast du Angst?« fragte er noch einmal. Das Mädchen rutschte noch ein Stück nach hinten, bis es mit dem Rücken gegen den Fernsehtisch stieß. Sven kroch zu ihr. »Sag es mir, bitte. Ich will dir doch nur helfen.«

»Ich weiß es nicht!« schrie sie plötzlich. »Ich weiß nicht! ICH WEISS NICHT!«

Hastig umarmte Sven sie, und sie begann zu weinen. Karin und Uwe waren aufgesprungen und kamen herangeeilt. Immer wieder wimmerte sie: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht.« Und ihre Tränen flossen auf Svens T-Shirt hinab. Seine Eltern beugten sich zu ihr herab und versuchten sie zu trösten, doch Kristina weinte und weinte. Uwe bemerkte schließlich das Schulheft, das auf dem Boden lag und hob es auf. Kristina merkte es gar nicht, und so konnte er ungehindert hineinsehen. Verblüfft blickte er auf die Zeichnung, die das Mädchen mit dem Bleistift auf das karierte Papier gemalt hatte. Sie zeigte das Gesicht einer Frau, die Kristina ziemlich ähnlich sah. Uwe staunte über die Detailtreue des Bildes; das Kind hatte eindeutig ein großes Zeichentalent. Aber was wichtiger war: sie hatten nun scheinbar ein Bild ihrer Mutter.

*

»Herr Maczek ist da, Herr Lenert.« Die Sekretärin ließ die Sprechtaste los und lächelte dem Mann zu, der wartend vor ihrem Schreibtisch stand.

»Er soll hereinkommen«, kam es aus der Sprechanlage. Lena wies mit einer Hand zur Tür und beugte sich gleich darauf wieder über ihre Schreibmaschine. Diese Rechnung mußte heute noch raus. Also beeilte sie sich. Der Kopf ihrer Maschine arbeitete bereits wieder, als der Besucher gerade die Tür zum Büro öffnete.

Lothar Lenert hob den Kopf, als Maczek in sein Arbeitszimmer kam. Er hatte ihn eigentlich bereits vor zehn Minuten erwartet, aber der Zeitpunkt war im Augenblick noch nicht ganz so wichtig. Er hatte ohnehin noch genug zu tun. Aber diese Sache hatte dennoch Vorrang vor den meisten anderen. Trotzdem lächelte er, als er den wartenden Mann anblickte.

»Ah, Maczek. Setzen Sie sich doch.« Er wies auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. Der andere kam der Aufforderung nach.

»Sie wollten mit mir sprechen, Lothar?«

Lenert nickte. »Lesen Sie das«, sagte er und reichte seinem Mitarbeiter eine Zeitung.

Maczek nahm das Papier entgegen und sah sich die erste Seite an. Sofort sah er den Artikel, den sein Chef gemeint hatte. Wer kennt dieses Mädchen? stand in großen Buchstaben auf der oberen Hälfte des Blattes. Darunter war ein Bild eines etwa fünfjährigen Kindes abgedruckt. Ein begleitender Text befand sich unter dem Foto.

Dieses Mädchen wurde am letzten Sonntag von Anglern im Kalbecker Forst gefunden. Man hatte sie entdeckt, wie sie an ein Brett geklammert im Fluß trieb. Der sofort herbeigerufene Krankenwagen brachte das Kind umgehend ins Krankenhaus, wo es in ärztliche Behandlung kommen konnte. Jetzt sucht die Polizei nach den Eltern des Kindes oder nach Personen, die es möglicherweise identifizieren können. Das Mädchen selbst kann sich an nichts erinnern. Im Zusammenhang mit diesem Fall wird auch eine Frau gesucht, deren Phantombild ebenfalls auf dieser Seite abgedruckt ist. Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe.

Mehr auf Seite 3. <jt>

Gregor hatte das Mädchen sofort wiedererkannt. Er hatte von Anfang an gewußt, daß es noch Ärger geben würde. Nachdem sie verschwunden war, hatte man sie nicht wiedergefunden. Jetzt war es auch klar, warum. Wenigstens wußte noch niemand, woher sie kam. Allerdings beunruhigte ihn das Phantombild ein wenig. Woher hatten sie es?

»Was halten Sie davon«, fragte Lenert.

»Zumindest wissen wir jetzt, wo sie ist«, erwiderte Gregor. »Wir-«

»Einen Dreck wissen wir!« Der dunkelhaarige Mann sprang auf. »Sie könnte überall sein. Wer weiß, wo man sie nun hingeschafft hat. Wir können nur von Glück sagen, daß sie sich an nichts erinnert. Scheinbar hat sie nur noch ihre Mutter im Gedächtnis behalten. Ich möchte gar nicht daran denken was passiert, wenn der Rest ihrer Erinnerungen plötzlich wiederkommt. Warum haben Sie die Suche auch so voreilig abbrechen lassen?«

»Nachdem sie in den Wald gelaufen war, haben wir ihre Spur bis zu diesem Kanal verfolgt«, versuchte Gregor Maczek sich zu verteidigen. »Dahinter verlief ein Fluß, aber dort haben wir sie nicht mehr gefunden. Ein paar meiner Männer suchten die Ufer ab, aber sie haben keine Spuren entdeckt. Ich habe sogar mehrere Wagen abgestellt, um den Fluß in weiterer Umgebung abzufahren. Aber auch dort hatte sie niemand gesehen. Deshalb habe ich die Männer zurückgerufen. Ich nahm an, daß sie ertrunken war.«

»Nun, sie scheint aber alles andere als ertrunken zu sein«, sagte Lenert wütend, während er sich langsam wieder hinsetzte. »Im Gegenteil. Die Polizei hat sie schon gefunden. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis einer von diesen Psychiatern alles erfährt. Bis dahin muß das Kind verschwinden. Sie werden es finden, Maczek. Sie tragen die Verantwortung für diesen Schlamassel!«

»Sie haben doch selbst gesagt, sie kann überall sein«, warf Maczek ein, und sein polnischer Akzent trat deutlich in den Vordergrund. »Wie soll ich-«

»Das ist Ihr Problem!« fauchte Lothar Lenert. »Wenn Sie das Kind nicht finden, werden Sie die Konsequenzen zu tragen haben. Und vor allem, Maczek«, er sah ihn über den Rand seiner Brille drohend an, »finden Sie sie lebend.«

*

Wieder ging ein Sonntag vorüber. Sven machte sich zum Schlafengehen bereit, während Kris bereits im Bett lag. Seit jenem Tag, an dem sie das Bild ihrer Mutter gezeichnet hatte, war sie ein ganzes Stück zugänglicher geworden. Zwar sprach sie immer noch nicht über das, was ihr vermutlich zugestoßen war, aber sie war doch bereits soweit, daß man mit ihr über einfache Dinge reden konnte. Seine Mutter hatte das Bild gleich am nächsten Tag zu Ernst aufs Jugendamt gebracht, und einen Tag später erschien es in der Rundschau, der ortseigenen kleinen Tageszeitung, die seine Mutter an jedem Morgen las. Zu Svens Bedauern wurde nicht erwähnt, wer sie gefunden hatte, aber vielleicht war das ja auch besser so. Er konnte Reporter nicht ausstehen. Genau wie die Skifahrer kannte er Reporter gut genug aus dem Fernsehen. Er wußte nicht, was er mehr hassen würde, eingegipst im Krankenhaus zu liegen, oder von einer wilden Horde knipswütiger Männer und Frauen umlagert zu sein. Wahrscheinlich ist beides gleich schlimm, dachte er, während er sich gähnend ins Bett fallen ließ. »Gute Nacht, Kris«, sagte er.

»Nacht, Svennie. Und nenn mich nicht immer Kris.«

Sven grinste und schaltete das Licht ab. Sie konnte es nicht leiden, wenn man sie Kris nannte. Sie fand, daß ihr Name schön genug sei, daß man ihn vollständig aussprechen sollte. Wogegen es bei Sven ein Glück wäre, daß der Name so kurz war. Als sie ihm das gesagt hatte, war er zuerst beleidigt gewesen, aber dann riß er sich zusammen und erklärte, daß er wenigstens einen ungewöhnlichen Namen hatte, der noch nicht einmal aus Deutschland stammte. Damit waren die Fronten geklärt, und er nannte sie weiterhin Kris, während sie ihn mit Svennie aufzog. Er kuschelte sich in seine Decke und schlief schon bald tief und fest.

Sven wurde von einem lauten Geräusch plötzlich wach. Es war ein sehr scharf klingender Laut, wie das Splittern von Glas. Augenblicklich schlug er die Augen auf und wandte seinen Kopf um. Es war immer noch dunkel im Zimmer, aber durch das leichte Mondlicht fiel ein wenig Licht in den Raum. Dann hörte er einen leisen gedämpften Aufschrei von Kris. Jetzt bemerkte er die Gestalt, die sich an Kris' Bett zu schaffen machte. Sven wurde es eiskalt. Anscheinend wollte man seine Schwester entführen. Er sprang aus dem Bett und stürzte sich mit lautem Geschrei auf den Eindringling. Mit seinen Fäusten trommelte er auf den Rücken des Mannes ein, der sich überrascht umdrehte. Dabei ließ er Kristina los, die nun ebenfalls zu schreien begann. Plötzlich sah Sven sich Auge in Auge mit einem dunklen Kerl, der ihn wütend anstarrte. Eine lange Narbe zeichnete sich im Mondlicht scharf auf seiner Stirn ab. Svens Schrei erstarb in seiner Kehle. Der Mann versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, und Sven taumelte rücklings gegen den Kleiderschrank, wo er zu Boden fiel. Dann waren Schritte von draußen zu hören. Mama! Papa! dachte er, bevor alles dunkel wurde.

Als seine Eltern die Tür zum Kinderzimmer öffneten und das Licht einschalteten, war der Eindringling bereits wieder durch das eingeschlagene Fenster geflohen.

Sven wurde grob an den Schultern gepackt und wachgerüttelt. Das erste, das er wahrnahm, waren die schrillen Schreie eines Mädchens. Sofort war er hellwach. Kristina! Er schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht seiner Mutter. Er saß immer noch auf dem Boden vor dem Kleiderschrank, wo er vor ein paar Sekunden zusammengebrochen war. Sein Kopf schmerzte schrecklich.

»Sven! Was ist passiert?«

Der Junge konnte nicht antworten. Statt dessen wies er mit einer Hand auf das Fenster. Karin wandte sich um und sah die eingeschlagene Fensterscheibe. Kristina hatte sich in eine Ecke des Zimmers verkrochen und weinte. Jedesmal wenn Uwe zu ihr gehen wollte, vergrub sie den Kopf in den Armen und begann zu schreien.

Sven zwang sich, aufzustehen. Nachdem der erste Schock abgeklungen war, klärten sich seine Gedanken, und er wußte wieder, wo er war. Langsam ging er zu Kris hinüber und tröstete sie. Als sie seine Nähe bemerkte, klammerte sie sich an ihn, genau, wie an jenem Tag im Krankenhaus. Während er ihr beruhigend durchs Haar strich, erzählte er seinen immer noch ahnungslosen Eltern, was vorgefallen war. Uwe ging, nachdem Sven fertig war, sofort ins Wohnzimmer, um die Polizei zu verständigen, während Sven und seine Mutter das kleine Mädchen ins Wohnzimmer brachten. Dort warteten sie dann gemeinsam auf das Eintreffen der Beamten.

Den Rest der Nacht, nachdem die Spurensicherung abgeschlossen war und man ihnen versichert hatte, daß sofort eine Fahndung eingeleitet werden würde, verbrachten Sven und Kris im Schlafzimmer seiner Eltern. Sven schwor sich, nie wieder bei offenen Jalousien zu schlafen. Dennoch konnte er kein Auge zumachen. Die Angst saß ihm immer noch in den Knochen. Immer wieder erschien vor seinem geistigen Auge das schreckliche Gesicht des dunklen Mannes mit der häßlichen langen Stirnnarbe. Kris dagegen hatte sich an ihn geschmiegt und war wieder eingeschlafen. Sven beneidete sie darum. Angstvoll sehnte er den nächsten Morgen herbei und suchte Trost in der Berührung des kleinen Körpers an seiner Seite.

Schließlich ertönte das Piepen des Weckers. Es war sechs Uhr fünfzehn. Kris schlief weiter, während sein Vater aufstand und sich auf die Arbeit vorbereitete. Eine Dreiviertelstunde später verließ Uwe dann das Haus. Als er den Corsa aus der Garage holte und schließlich zur Arbeit fuhr, bemerkte er die beiden Männer nicht, die ihn aus einem weißen Lieferwagen heraus beobachteten. Sobald sie sicher waren, daß er fort war, gab einer der beiden Männer dem anderen ein Zeichen, und sie stiegen aus.

Das Schrillen der Türglocke schreckte Sven aus einem unruhigen Halbschlaf, in den er kurz zuvor gesunken war. Einen Augenblick später klingelte es nochmals. Svens Mutter stand auf und warf sich einen Morgenmantel über. Wer konnte es wohl um diese Zeit sein? Dann mußte sie an gestern nacht denken und plötzlich hatte sie das Gefühl, daß es besser wäre, die Tür nicht zu öffnen. Rrring, rrrring! Karin war nun an der Haustür angekommen und spähte durch den Spion. Vor ihrer Tür stand ein Mann in einem Anzug, der ein Klemmbrett unter dem Arm trug. Auf seiner Nase saß eine kleine Brille, die ihm das Aussehen eines Geschäftsmannes verlieh. In diesem Augenblick beugte sich der Mann wieder nach vorne. Rrrrring, ring.

Trotzdem, dachte sie. Es ist wohl besser, nicht aufzumachen. Also drehte sie sich um und ging den Weg durch den Flur zurück. Ein lauter Knall ließ sie herumfahren. Zwei weitere Schüsse ertönten, und plötzlich wurde die Tür nach innen aufgestoßen. Der Mann im Anzug stürzte in den Flur und ein anderer folgte ihm. »Bleiben Sie stehen!« befahl der Geschäftsmann und hielt ihr eine Pistole entgegen. Das Klemmbrett lag in einem Wust aus Papier auf dem Boden des Flurs. Der andere Mann schloß die Tür zur Straße und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

»Was wollen Sie?« gelang es Karin zu fragen, ehe sie der Mann mit der Waffe durch eine kurze Handbewegung zum Schweigen brachte.

»Gehen Sie dort hinein«, sagte der Mann und wies auf die Wohnzimmertür. Karin gehorchte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Im Wohnzimmer blieb sie stehen und wartete angsterfüllt. Der andere Mann kam hinter ihnen herein und schloß auch diese Tür. Als sie ihn gespannt beobachtete, bemerkte sie die lange Narbe auf seiner Stirn und mußte an die Beschreibung denken, die ihr Sven gestern nacht gegeben hatte.

»Wo ist das Mädchen?« fragte der bewaffnete Mann, in seiner Sprechweise schwang ein leicht osteuropäischer Akzent mit. Als Karin nicht sofort antwortete, trat er einen Schritt auf sie zu, seine Pistole richtete sich gefährlich auf ihre Brust.

Zwei furchtsame Augenpaare beobachteten die Szene im Schutze der großen Zimmerpflanze, die neben der Tür zum Schlafzimmer in einem riesigen Blumentopf stand. Sven war von dem Getöse im Flur wach geworden, und nachdem er gesehen hatte was sich abspielte, hatte er Kris geweckt. Jetzt zogen sie sich von der Tür ins Schlafzimmer zurück. Die Augen des Mädchens waren vor Angst geweitet, aber sie blieb still. Schnell packte er sie bei der Hand und führte sie zum Schlafzimmerfenster. So leise er konnte zog er die Jalousien hoch und öffnete einen der Flügel. Er half Kristina, hinauszuklettern und kam einen Augenblick danach hinterher. Sie standen nun im Garten, Sven nahm das Mädchen bei der Hand.

»Zum letzten Mal: Wo ist das Mädchen?« Karin antwortete nicht. Statt dessen starrte sie nur stumm auf den Lauf der auf sie gerichteten Waffe. Wie könnte sie in einer solchen Situation auch nur ein Wort herausbringen. Sie war vor Furcht wie gelähmt. Schließlich verlor der Mann die Geduld und stieß sie auf die Couch, wo sie benommen liegenblieb. »Durchsuch die Wohnung«, wies er den anderen an. Der Narbige nickte und machte sich an die Arbeit.

»Sie sind hinten durch den Garten abgehauen«, berichtete er, als er zurückkam. »Ich habe den anderen schon über Funk Bescheid gegeben.«

Der Geschäftsmann nickte. Dann wandte er sich wieder an Karin: »Sie kommen jetzt mit uns mit. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.« Der Narbige riß sie grob hoch und stieß sie durch das Zimmer auf den Flur hinaus. Draußen brachten sie sie zu dem weißen Lieferwagen. Mit Hilfe des Klemmbrettes verdeckte der Mann die Pistole, während der andere den Laderaum des Wagens öffnete. Sie wurde hineingestoßen, der Mann mit dem Anzug stieg zu ihr herein, und dann fielen die Türen hinter ihnen zu.

Sven hastete mit Kristina an der Hand durch den Garten. Wenige Sekunden später waren sie am anderen Ende angekommen, und Sven kletterte über den Jägerzaun auf das angrenzende Grundstück. Kris folgte einen Augenblick später. Dann rannten sie schon wieder, überquerten einen großen Rasen und gelangten schließlich auf eine Querstraße. Als sie diese ein paar Meter entlanggehastet waren, vernahmen sie hinter sich einen kurzen Ruf, es waren zwei Männer, die sie verfolgten. Panisch rannte Sven wieder los und zog Kristina hinter sich her. Unvermittelt fuhr vor ihnen ein weißer Lieferwagen auf die Straße, der in einer Einfahrt gestanden hatte, um ihnen den Weg abzuschneiden. Ohne zu zögern bog Sven in einen Grundstückseingang ein, bahnte sich seinen Weg durch Blumenbeete und vorbei an einem Geräteschuppen, der schon reichlich verfallen aussah. Sie überkletterten noch zwei weitere Zäune, die sich ihnen in den Weg stellten, bis sie plötzlich auf einer etwas breiteren Straße standen. Sie waren am Rande des kleinen Städtchens angekommen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite begann eine Kuhweide, die sich bis zu einem weiter entfernten Bauernhof hinzog. Ein schmaler Bach durchschnitt das Land und teilte es in zwei ungleiche Hälften. Sven beschloß, erst einmal aus dem Ort zu flüchten, denn ohne Zweifel würden die Männer sie dort überall finden. Wahrscheinlich hätte man sie schon geschnappt, bevor sie auch nur zwei Blocks weit gekommen waren. Ihre einzige Chance zu entkommen bestand in der Flucht in den Wald. Von hier aus war er als schmales grünes Band in einiger Entfernung zu sehen. Ohne anzuhalten führte er Kris über die Straße, und dort krochen sie unter einem Stacheldrahtzaun hinweg, der die Wiese von der Straße trennte. Eilig hasteten sie durch die verblüfft starrenden Kühe hindurch und kamen schließlich an den kleinen Bach, der von Wasserpflanzen fast erstickt wurde. Sven sprang auf die andere Seite und drehte sich nach Kristina um, die noch am gegenüberliegenden Ufer war. Unschlüssig blickte sie zu ihm herüber. »Spring!« rief Sven, er streckte seine Arme nach ihr aus. »Schnell! Wir müssen weiter!«

»Ich kann nicht«, erwiderte das Mädchen. »Das ist viel zu weit.«

»Versuch es, bitte!« Sven bemerkte die zwei Gestalten, die unbeholfen über den Stacheldraht kletterten und dann rasch näherkamen. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!«

Endlich nahm sie Anlauf und setzte zum Sprung an. Dabei glitt sie jedoch auf der schlammigen Erde des Ufers aus und wäre um ein Haar ins Wasser gefallen, wenn Sven sie nicht im letzten Moment am Arm zu fassen bekommen hätte. Mit einem kräftigen Schwung zog er sie zu sich herüber und floh weiter über das gepflügte Feld, das sich der Weide anschloß. Das Bauernhaus war nun nicht mehr als zweihundert Meter entfernt.

Die Luft im stickigen Laderaum des Lieferwagens wurde drückend heiß. Der Mann mit dem Anzug hatte sich mit dem Rücken zur Tür auf eine Holzpalette gesetzt und bewachte sie mit gezogener Waffe. Die kleine Lampe über den beiden Türflügeln erleuchtete den Innenraum nur spärlich, denn es gab keine Fenster. Angst ergriff von Karin Besitz, während der Wagen durch verschiedene Straßen fuhr. Angst um sich selbst, vor der Pistole, die auf sie gerichtet war, aber noch stärker war in ihr die Angst um Sven und Kristina. Sie hatte keine Ahnung, warum diese Männer so hinter dem Mädchen her waren und was sie mit ihr vor hatten, aber es war mit Sicherheit nichts Gutes. Sie betete, daß sie die Kinder nicht finden würden. Sven kannte sich in der Stadt aus, so gut, wie man sich eben hier auskennen konnte. Aber das Mädchen würde mit Sicherheit völlig den Verstand verlieren. Immer wieder ließ sie ihren Blick durch den Innenraum des Wagens gleiten, doch jedesmal kehrte er zu der Waffe des Mannes vor ihr zurück. Was hatten sie mit ihr vor? Wo brachte man sie hin?

Sven hielt in gerader Linie auf das Haus zu. Aus dem Augenwinkel nahm er den weißen Lieferwagen wahr, der den Feldweg zum Hof heraufgefahren kam. Er hatte sich bereits gedacht, daß es keinen Zweck hätte, bei den Bewohnern des Hauses Schutz zu suchen. Die Szene mit seiner Mutter stand ihm immer noch deutlich vor Augen. Er hatte etwas anderes im Sinn.

Als er das Grundstück endlich erreicht hatte, waren die Verfolger schon auf etwa einhundert Meter herangekommen, und auch der Lieferwagen war nicht mehr weit weg. Sven huschte zwischen zwei Holzgebäuden hindurch, führte Kristina dann am Rand eines größeren Steinhauses entlang und blieb schließlich stehen. In seiner Anspannung nahm er die Gerüche und Geräusche des Hofes verstärkt wahr. Stallgeruch und Pflanzenduft mischte sich in der sommerlichen Wärme mit den Lauten der Tiere, die in den Ställen untergebracht waren. Plötzlich hörte Sven, wie Türen eines Autos geschlagen wurden. Dann waren mehrere Stimmen zu hören. Das genügte. Er gab seinen Horchposten auf und rannte mit Kris weiter an dem großen Gebäude entlang. Endlich sah er, wonach er gesucht hatte. Lange Reihen aus gelbem Mais zogen sich bis an den sandigen Hof heran. Mit einem kurzen Blick nach rechts und links huschte er mit Kris an der Hand in das Feld hinein. Sekunden später waren sie schon nicht mehr zu sehen.

Die Fahrt endete nach langer Zeit des Wartens und der Angst. Der Lieferwagen hielt, und Sekunden später wurden die hinteren Türen geöffnet. Karin war erleichtert und gleichzeitig beunruhigt. Während der gesamten Fahrt hatte sie der Mann bewacht, und das war beinahe eine gewisse Sicherheit, denn er hatte keinen Anlaß, ihr etwas anzutun. Jetzt aber änderte sich die Situation wieder, und sie hatte keine Ahnung, was als nächstes geschehen würde.

Der Mann mit der Waffe stieg aus und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Vorsichtig stieg sie mit steifen Gelenken aus dem Wagen. Der Boden der Ladefläche war hart gewesen, sie spürte jeden Schritt in ihren Beckenknochen. Sie trat auf einen mit Kies bestreuten Hof hinaus, der von mehreren grauen Industriegebäuden umrahmt wurde. Bei ihr waren vier Männer, ihr Bewacher, der Narbige und zwei andere, die sie noch nie gesehen hatte. Alle trugen Funkgeräte an ihren Gürteln. Die beiden Fremden packten sie grob an den Armen und begannen, sie über den Hof zu führen, während der Narbige ihnen folgte. Sie brachten sie zu einem der kleineren Gebäude, an dessen Tür ein gelbes Schild festgemacht war. Der rote, gezackte Pfeil ließ darauf schließen, daß es ein Generatorraum war. Der Narbige schloß die Tür auf, und sie wurde hineingestoßen. Sie hatte wenig Zeit sich in diesem Raum umzusehen, denn die Männer brachten sie zu einem weiteren Durchgang, der in den Keller führte. Unten wurde sie in eine kleine Kammer gesperrt, der mit Kisten vollgestellt war. Ein lauter Knall hallte in dem kleinen Raum wider, als die schwere Eisentür zugezogen und verriegelt wurde. Verzweifelt stürzte sie nach vorne und rüttelte an der Klinke. Dann ging das Licht aus.

Es schien Sven, als renne er bereits seit einer Ewigkeit durch die endlosen Reihen des Maisfeldes. Er wagte nicht, anzuhalten und sich umzuschauen, denn er hatte Angst, daß er dadurch wertvolle Zeit verlieren würde. Und das konnte gefährlich sein. Er zerrte Kristina hinter sich her, die mühsam Schritt zu halten versuchte. Endlich erreichten sie das Ende des Feldes. Sven blickte auf die dahinterliegende Landstraße. Es war in beiden Richtungen kein Mensch zu sehen, und vor ihnen lag der Wald. Er kauerte sich mit Kris im Straßengraben nieder und wartete, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Während sie sich ausruhte, spähte Sven über den Rand der Grube und hielt nach Zeichen der Verfolgung Ausschau. Schließlich war Kristina wieder soweit bei Kräften, daß sie weitergehen konnten. Trotzdem hielt sie ihn zurück, als er gerade aufbrechen wollte.

»Sven, ich kenne den Mann.«

Verwirrt kletterte der Junge wieder in den Graben. »Welchen Mann?«

»Den großen Kerl, der mit der Narbe.«

»Meinst du den, der gestern nacht bei uns-«

Kristina nickte. Svens Gedanken purzelten durcheinander. Woher kannte sie den Mann? Hatte er vielleicht etwas damit zu tun, daß sie sich an nichts erinnern konnte? Vielleicht kam jetzt endlich ihre Vergangenheit zurück. »Woher kennst du ihn?« fragte er vorsichtig.

Sie blickte an ihm vorbei. »Ich weiß nicht. Ich habe ihn schon mal gesehen, aber ich weiß nicht, wo.« Jetzt blickte sie ihn wieder an. »Aber er macht mit Angst, Sven.«

Behutsam umarmte er seine kleine Schwester. »Wir schaffen das schon, Kris. Ich werde dir helfen.«

Sie nickte. »Aber du darfst mich nicht immer Kris nennen.«

Grinsend ließ er sie los. »Komm jetzt«, sagte er. »Wir müssen los. Ich kenne im Wald ein paar Stellen, wo die uns niemals finden werden.« Mit Kristina an der Hand verließ er nun vorsichtig den Graben und rannte dann über die Straße in das Dickicht des Waldes hinein.

Mehrere Kilometer entfernt lauschte Gregor Maczek der Stimme aus dem Funkgerät, die ihm von der Flucht der beiden Kinder berichtete. »Kurwa«, fluchte er und schaltete das Gerät ab, während er sich in Bewegung setzte.

Uwes Finger tippten im Takt der Musik auf dem Lenkrad des Corsas herum, im Radio lief gerade Queens Friends will be Friends. Er pfiff die Melodie vor sich hin, während er nach Hause fuhr, um seine Mittagspause anzutreten. Er war froh, eine Arbeit im Ort zu haben, denn sonst hätte er nicht einfach so über Mittag nach Hause kommen können. Er wollte um nichts in der Welt diese halbe Stunde verlieren, in der er mit seiner jetzt gewachsenen Familie zusammen sein konnte. Gerade als das Lied zuende war, schaltete er den Motor ab und stieg aus. Er verriegelte den Wagen und ging zur Haustür. Als er aufschließen wollte, schwang die Tür von selbst nach innen auf. Das Holz an der Riegelfassung war zersplittert und dunkel verfärbt, Späne lagen auf dem Boden verstreut. Unbehagen erfaßte ihn, als er vorsichtig die Tür weiter aufschob. Es war nichts zu hören. Leise ging er in den Flur. Auch hier war alles still. Der Eingang zum Wohnzimmer stand weit offen. Plötzlich ließ er seine Sachen fallen, rannte durch die Tür und begann nach Karin zu rufen. Im Schlafzimmer bemerkte er das offene Fenster und blickte hinaus in den Garten. Er war verlassen. Jetzt endlich begriff er, was geschehen sein mußte. So schnell er konnte, hastete er zum Telefon.

Uwe saß mit einem der Beamten auf dem Sofa, während die Spurensicherung um ihn herum in vollem Gange war. Er hatte ihm berichtet, was er wußte, was nicht lange gedauert hatte, da er ja gar nichts wußte und beantwortete nun die Fragen des Mannes.

»Wann haben Sie bemerkt, daß Ihre Familie verschwunden war?«

»Ich bin um halb eins von der Arbeit gekommen. Als ich dann das zerstörte Schloß gesehen habe und das offene Fenster im Schlafzimmer, habe ich gleich bei Ihnen angerufen. Nach dem, was gestern passiert ist, war ich sicher, daß sie entführt worden sind.«

»Haben Sie die Nachbarn schon gefragt, ob ihnen etwas aufgefallen ist?«

»Nein, ich habe seit dem Anruf hier auf Sie gewartet.«

»In Ordnung.« Der Beamte machte einen Schlußstrich auf seinem Notizblock und stand auf. »Wir werden tun was wir können. Bleiben Sie in der Zeit hier im Haus, für den Fall, daß sich die Entführer melden. Wir haben eine Fangschaltung einrichten lassen. Wenn sie von sich hören lassen sollten, wählen Sie einfach eine fünf, dann haben wir eine Chance, die Kerle zu finden.«

Uwe bedankte sich bei dem Beamten mit einem Händedruck. »Ich hoffe, Sie finden sie«, sagte er.

»Wir machen uns gleich an die Arbeit.« Der Mann verabschiedete sich, und einige Zeit später gingen auch die Leute von der Spurensicherung, nachdem sie ihm erklärt hatten, daß er seine Wohnung wieder ganz normal benutzen konnte. Uwe schob die Kette in die Halterung, nachdem der letzte aus der Tür war. Dann ließ er sich auf die Couch sinken. Beinahe zehn Minuten saß er reglos da, bevor er sich das Telefon nahm und die Nummer seines Arbeitsplatzes wählte.

Die zweite Nummer, die er wählte, war die von Ernst. Es läutete viermal, bevor jemand abnahm. »Städtisches Jugendamt, Duebner«, meldete sich eine weibliche Stimme.

»Guten Tag, Dahlen mein Name. Ich hätte gerne mit Herrn Greich gesprochen.«

»Es tut mir leid«, erwiderte die Frauenstimme, »aber Herr Greich ist im Augenblick nicht da. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

Uwe überlegte. Ernst war nicht da? Gerade jetzt? »Nein, danke«, sagte er schließlich. »Können Sie ihm bestellen, daß er mich anrufen soll, wenn er wieder im Büro ist?«

»Natürlich. Wie war noch gleich Ihr Name?«

Uwe wiederholte es und legte schließlich auf. »So ein Mist!« fluchte er. Gerade jetzt hätte er den Beistand und Rat seines Freundes gebraucht. Niedergeschlagen setzte er sich im Sofa zurück und hing seinen Gedanken nach.

Kälte durchzog Karins Körper, während sie auf dem harten Boden des Kellerraumes saß und in die Dunkelheit starrte. Sie hatte es längst aufgegeben, an der Tür zu rütteln und um Hilfe zu rufen. Hier würde sie niemand hören, egal was sie auch versuchte. Sie zog die Knie an die Brust und schlang ihre Arme darum, um wenigstens einen Rest ihrer inneren Wärme zu behalten. Die Druckstellen, wo die beiden Männer sie festgehalten hatten, schmerzten nun nicht mehr so stark. Der Schmerz war einem dumpfen Pochen gewichen, das sie regelmäßig spürte. Helle Flecken tanzten vor ihren Augen in der Dunkelheit herum, während sie über ihre Situation nachdachte. Wahrscheinlich würde man ihr einige Fragen stellen, vermutlich über Kristina. Und dann? Würde sie freigelassen werden? Sie hoffte es, aber es erschien ihr sehr unwahrscheinlich. Sie konnten es nicht riskieren, daß sie jemand identifizieren konnte. Aber wenn das tatsächlich zutraf, würden sie sie dann wirklich... Plötzlich sah sie das Gesicht ihres Mannes vor ihren Augen. Vielleicht würde sie ihn nie wiedersehen.

Doch ein kleiner Hoffnungsschimmer flammte in ihrem Denken auf. Uwe! Er würde wie jeden Tag zur Mittagspause nach Hause kommen. Sie wußte zwar nicht, wieviel Zeit seit ihrer Entführung vergangen war, aber sie hoffte, daß die Polizei bereits auf der Suche nach ihr war. Sie klammerte sich hartnäckig an diesen Strohhalm und überwand so ihre Furcht.

Sie fuhr erschreckt hoch, als die schwere Eisentür plötzlich geöffnet wurde. Grelles Licht flutete in den kleinen Raum. Staubteilchen wirbelten auf und segelten als kleine helle Lichtpunkte wieder dem Boden entgegen. Zwei dunkle Schatten standen auf der Schwelle zu ihrem Gefängnis. Sie konnte die Gesichter nicht erkennen, denn das ungewohnte Licht blendete sie. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie ihre Augen endlich wieder richtig öffnen konnte. Der Mann auf der rechten Seite war der bewaffnete Kerl, der sie im Lieferwagen bewacht hatte. Das Gesicht des anderen lag noch im Schatten.

»Ich hoffe, Sie werden uns ein paar Fragen beantworten können«, sagte der Mann mit dem Ost-Akzent und schaltete mit einer Handbewegung das Deckenlicht ein. Jetzt war das Gesicht des anderen klar und deutlich zu erkennen. Karin konnte nicht verhindern, daß ihr Herz einen Schlag aussetzte.

Sven führte das kleine Mädchen quer durchs Unterholz. Hier kannte er sich so gut aus, daß er seinen Weg auch mit verbundenen Augen gefunden hätte. Er führte sie an Gräben und Löchern vorbei, überquerte schmale Trampelpfade, um gleich darauf wieder in den dichten Wald einzutauchen. Sie erreichten bald einen Teil des Forstes, der ausschließlich von Nadelbäumen bewachsen war. Wie gut gedrillte Soldaten wuchsen sie in Reih‘ und Glied dem Himmel entgegen. Durch diesen Baumbestand führte er Kristina bis zu einer riesigen Fichte, deren Stamm beinahe doppelt so dick war, wie die der restlichen Bäume. Äste streckten sich von diesem Stamm aus in den Wald hinein, jeder beinahe so groß wie ein junger Baum. Hier blieb Sven stehen und wies nach oben. In mehr als fünf Metern Höhe konnte man ein paar Bretter erkennen, die anscheinend den Boden eines Baumhauses bildeten. »Warte einen Augenblick hier«, sagte er und begann, den Baum zu erklimmen.

»Wo willst du hin?« rief sie ihm nach.

»Nach oben, wohin sonst. Warte eine Sekunde.« Ohne ein weiteres Wort schwang er sich weiter den Stamm hinauf. Oben angekommen ging er in das kleine Holzhäuschen, das er mit ein paar Freunden gebaut hatte, hinein und ließ einen Strick zu Kristina hinunter. »Stell deinen Fuß in die Schlaufe und halt dich am Seil fest«, wies er sie an. Als sie ihm winkte, zog er sie mit kräftigem Schwung herauf. Es dauerte nicht lange, und sie konnten sich beide auf gemütlichen Sofakissen ausruhen. Jetzt, da sie endlich etwas Ruhe hatten, bemerkte Sven erst, daß sie beide noch Schlafanzüge trugen. Nur ihre Hausschuhe hatten verhindert, daß sie verletzte Fußsohlen bekamen.

»Es tut mir wirklich leid, daß es so weit kommen mußte«, sagte Ernst und machte einen Schritt auf sie zu. »Ich habe wirklich gehofft, daß ihr nicht in diese Sache hereingezogen werdet, aber durch eure nächtliche Rettungsaktion haben sich die Umstände doch ein wenig geändert.«

Karin konnte es nicht glauben. Ernst steckte mit diesen hinterhältigen Kerlen unter einer Decke! Wahrscheinlich hatten sie auch von ihm die Information, wann Uwe zur Arbeit fuhr. Aber was hatte er mit dieser Sache zu tun?

»Glaube mir, ich habe eigentlich nicht gewollt, daß es so kommt. Meine Partner wollen nichts weiter, als ein paar Informationen über das Mädchen. Sag uns einfach, wo sie ist, und wir können alle diese unangenehme Angelegenheit vergessen.«

Lügner! dachte Karin. Wenn ihr mich nicht mehr braucht, werdet ihr mich beseitigen, ihr werdet es müssen. Sie überlegte. Natürlich würde er ihr nicht glauben, daß sie es nicht wußte. Aber sie konnte nun überall sein.

Ernst kam noch einen Schritt auf sie zu, und Karin wich an die Wand zurück. »Keine Angst, ich tu dir nichts. Beantworte mit nur meine Frage. Wo ist das Mädchen?«

Karin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.

»Komm, komm. Versuch nicht, mich hinzuhalten. Sie ist zusammen mit Sven abgehauen. Wohin sind sie gegangen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie, nun etwas lauter. »Sven kennt sich in der Stadt aus. Sie könnten mittlerweile überall sein. Ich habe keine Ahnung, wo er sie hingebracht hat.«

»Dann wirst du uns aber zumindest sagen können, wo sich Sven öfter aufhält, und wo er seine kleinen Verstecke hat. Ich warne dich. Versuch nicht, mir etwas zu verschweigen.«

»Meistens ist er mit seinen Freunden mit den Rädern unterwegs. Dann fahren sie entweder zum Baggersee oder spielen im Wald. Manchmal fahren sie auch bis zum Schwimmbad. Aber er könnte auch noch irgendwo in der Stadt sein.«

Ernst ging zu dem Mann, der an der Tür gewartet hatte. Er unterhielt sich kurz mit ihm, aber die Worte waren zu leise, als daß Karin etwas verstanden hätte. Dann wandte er sich wieder ihr zu. »Ich komme wieder. In der Zeit denke mal darüber nach, ob dir noch etwas einfällt.«

Wieder fiel die Tür zu, wieder wurde das Licht gelöscht. Karin ließ sich an der Wand hinabgleiten. Hatte sie ihnen zu viel erzählt? Wußten sie jetzt, wo sie Sven und Kristina finden konnten? Eine Menge Fragen und keine Antworten. Ängstlich klammerte sie sich wieder an den Gedanken an ihren Mann.

Sven hatte sich an die Holzwand der Hütte gelehnt und knabberte an einer Tafel Schokolade, die er aus den Vorräten im Baumhaus geholt hatte. Kristina hatte sich einen Apfel genommen. Sven war froh darüber, daß er die Vorräte noch nicht, wie eigentlich geplant, vor zwei Tagen abgeholt hatte. Die Sache mit Kris hatte alle anderen in den Hintergrund gedrängt. Jetzt, wo er wieder etwas Ruhe hatte, dachte er über den morgendlichen Vorfall nach. Was hatten sie mit seiner Mutter gemacht? Es war offensichtlich, daß sie hinter Kristina her waren, schließlich hatte sie den Narbigen wiedererkannt. Es war also wahrscheinlich, daß sie seiner Mutter gar nichts getan hatten. Er machte sich wohl zu viele Sorgen. Sicher war sie zu Hause oder schon auf der Suche nach ihnen. Aber andererseits hätten die Männer sie bestimmt nicht laufen lassen, sie konnte sie ja schließlich beschreiben. Meistens wurden solche Zeugen dann an einen Ort gebracht, wo man sie nicht fand, jedenfalls war es so im Fernsehen. Aber sein Vater würde mittags nach Hause kommen. Vielleicht würde er sie holen kommen.

Kris warf den Rest ihres Apfels zur Tür hinaus. Sven rückte zu ihr heran. »Kannst du dich jetzt daran erinnern, woher du den Mann mit der Narbe kennst?« wollte er wissen.

Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht. Irgendwie kommt er mir bekannt vor.«

»War er vielleicht bei euch zu Hause gewesen? Wo hast du denn gewohnt?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, daß er mir mal sehr weh getan hat.«

Sven überlegte. »Als wir neulich im Tierpark waren, bist du auf einmal davongerannt. Wovor hattest du denn Angst?«

Kristinas Gesicht legte sich in Falten. »Da war so ein Hund gewesen«, sagte sie langsam. »Nein, es waren ganz viele. Ich bin vor ihnen weggerannt, weil sie mich beißen wollten. Ich habe mich im Rohr versteckt, wo sie mich nicht kriegen konnten. Aber sie streckten immer wieder ihre Köpfe herein, und ich bin weitergekrochen. Dann fiel ich ins Wasser. Es war so kalt, Sven.«

Sven hatte keine Hundemeute gesehen. Auch keinen Kanal oder Wasser. Dann erinnerte er sich an das Bellen eines Hundes, als er hinter ihr hergerannt war. Vielleicht hatte das mit ihrer Vergangenheit zu tun. Und vielleicht war das Wasser ja der Fluß, in dem er sie gefunden hatte. Er beschloß, noch weiter darauf einzugehen. »War der Mann auch dagewesen?«

»Nein, nur die Hunde. Ich bin von dem Feuer weggelaufen, das die Männer gelegt haben. Dann haben sie mich verfolgt.«

Sven erinnerte sich an den Abend, als sie ihren Alptraum gehabt hatte. »Was war das für ein Feuer.«

»Ich weiß nicht. Die Männer hatten Pistolen und haben damit herumgeschossen. Da waren noch andere. Ich bin zu ihnen gerannt, aber sie konnten mir nicht helfen.«

»Wer waren die anderen Leute? Kanntest du sie?« Als Kris mit den Schultern zuckte, fragte Sven weiter: »War die Frau auf deiner Zeichnung dabei? War es deine Mutter?«

Plötzlich machte Kris große Augen. Sie tastete mit den Armen umher, und Sven nahm sie in die Arme. »Sie haben Stefan erschossen. Mutti und Papi stehen an der anderen Seite, einer der Männer hält sie zurück. Dann erschießen sie auch sie. Das Feuer! Ich muß hier weg! Es ist so heiß!« Tränen rannen ihr über die Wangen, als ihre Erinnerung an das Geschehene mit einem Schlag zurückkehrte. Das Bild einer Explosion entstand vor ihrem geistigen Auge, sie schrie auf. Sven drückte sie an sich, und Kristina ließ sich von ihm trösten.

Auf dem Beifahrersitz des Lieferwagens wartete Ernst auf den Mann, der sich bei ihm als Maczek vorgestellt hatte. Bald würden sie das Mädchen haben, und dann konnte er den Rest seiner Bezahlung bekommen. Als Maczek ihn vor ein paar Tagen im Büro aufgesucht hatte, war Ernst zuerst skeptisch gewesen, als er nach dem Mädchen fragte. Sein merkwürdiger Akzent machte ihn sofort unsympathisch und ließ ihn zweifelhaft erscheinen, wie Ernst fand. Allerdings hatten die ersten fünftausend Mark seine Bedenken schnell zerstreut. Wenn die Sache endlich ausgestanden war, konnte er sich auf weitere fünftausend freuen. Karin und Uwe sollte natürlich nichts passieren, das hatte Maczek ihm versichert. Zwar würde er einen guten Kumpel verlieren, aber zumindest könnte man ihm selbst nichts nachweisen.

Warum hatten sie sich auch einmischen müssen, als der große Kerl, mit dem Maczek immer zusammen war, das Mädchen hatte holen wollen? Es hätte alles so glatt verlaufen können. Aber der verdammte Bengel mußte ja den Helden spielen.

Egal, dachte er. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Maczeks Leute hatten die beiden Kinder bis zu einem Maisfeld verfolgt, wo sie dann ihre Spur verloren hatten. Aber an das Feld grenzte ein Wald an, in dem Sven, wie sie jetzt wußten, gelegentlich spielte. Es war sehr wahrscheinlich, daß er sich immer noch dort befand.

Maczek kam zum Transporter und stieg auf der Fahrerseite ein. Ohne ein Wort startete er den Motor und fuhr vom Werksgelände auf die Bundesstraße. Im Rückspiegel erkannte Ernst noch zwei weitere Wagen, die ihrem folgten. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie den Rand des Waldes erreicht hatten. Die beiden Lieferwagen, die hinter ihnen hergefahren waren, stoppten, während er und Maczek weiter die Straße hinunterfuhren. »Werden Sie nicht die Suche leiten?« fragte er den Fahrer.

»Nein«, erwiderte dieser ohne sich umzublicken. »Einer meiner Kollegen hat das übernommen. Wir werden auf der anderen Seite aufpassen.«

Es waren weitere fünf Minuten vergangen, als der Wagen in einen Waldweg einbog. Das dunkle Blätterdach schloß sich über ihnen, und der Kies knirschte unter den Reifen. Mehrere hundert Meter fuhren sie, bevor Maczek an den Wegrand fuhr und stoppte. Wortlos stieg er aus. Ernst folgte ihm, da er vermutete, daß sie hier auf weitere Anweisungen warten sollten, die durch das Funkgerät durchgegeben würden. Er umging den Wagen und sah gerade noch, wie Maczek im Wald verschwand. Schulterzuckend beeilte sich Ernst, dem merkwürdigen Kerl zu folgen. Auf einer Lichtung holte er ihn ein. Maczek stand mit dem Rücken zu ihm am Rand der Lichtung und starrte in den Wald. Als er hörte, daß Ernst sich näherte, drehte er sich um. Ernst blieb wie angewurzelt stehen. Der andere hatte eine Pistole mit Schalldämpfer auf ihn gerichtet und blickte ihn mit einem beinahe mitleidigen Ausdruck im Gesicht an.

»Was soll das denn?« fragte Ernst.

Maczek lachte. »Haben Sie geglaubt, wir würden Sie mit dem Wissen, das Sie haben, einfach so laufen lassen? Dieses Risiko können wir nicht eingehen. Das müssen Sie verstehen. Es ist einfach zu - wie sagt man hier - unsicher. Wer weiß, auf welche Gedanken Sie kommen, wenn das hier erst einmal vorbei ist.«

»Das können Sie doch nicht wirklich glauben.« Ernst spürte, wie sich Schweiß auf seiner Stirn sammelte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich werde niemandem ein Wort verraten!«

»Ja, und ich habe Ihnen gesagt, der Familie wird nichts geschehen. Sie sehen, wie viel so ein Versprechen wert ist.«

Ernst wurde bleich. »Sie wollen doch nicht etwa...« Seine Kehle schnürte sich zu, als er sah, wie der andere nickte.

»Sie wären zu gute Zeugen. Wir haben keine andere Wahl. Seit das Mädchen uns entkommen ist, stecke ich in Schwierigkeiten. Ich kann es mir nicht leisten, noch weitere Schwierigkeiten zu dulden.«

»Sie sind ja verrückt! Das können Sie doch nicht machen!« Verzweifelt machte er einen Schritt auf Maczek zu.

»Natürlich kann ich«, erwiderte der andere trocken. Sekunden später lag Ernst blutend am Boden.

Endlich wußte Sven etwas über seine kleine Schwester, das wirklich von Bedeutung war. Wenn er das, was sie ihm erzählt hatte, richtig deutete, war ihr Vater bei einer großen Firma angestellt, die etwas mit militärischen Geräten zu tun hatte. Mehr wußte sie nicht, weil er alles geheim halten mußte. An einem Tag waren dann die Männer gekommen und hatten sie eingesperrt. Sie hatten gesagt, daß ihr Vater irgendetwas verraten hätte. Stefan, ihr größerer Bruder, hatte noch versucht sie zu schützen, aber er konnte auch nicht verhindern, daß ihre Eltern erschossen wurden und daß die Männer das Haus niederbrannten. Kristina war entkommen, wie, das wußte sie auch nicht mehr. Aber dann waren die Hunde aufgetaucht. Die Männer jagten sie quer durch den kleinen Wald, der an das Haus angrenzte und hätten sie auch beinahe erwischt, als sie das Kanalrohr entdeckte und dort hineinkroch. Leider war sie nicht schnell genug, eines der Tiere erwischte sie am Bein und fügte ihr eine schwere Wunde zu. Aber irgendwie kam sie wieder frei und krabbelte weiter durch das Rohr. Es war zu eng für die riesigen Hunde, nur ihr Bellen klang laut und bedrohlich zu ihr herüber. Irgendwann endete der Kanal über einem Fluß, und bevor sie sich festhalten konnte, fiel sie in das kalte Wasser unter ihr.

Und dann habe ich dich gefunden, dachte Sven, während er die immer noch weinende Kristina in seinen Armen hielt. Er überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Seine Mutter war sicher noch in der Gewalt dieser Kerle. Wahrscheinlich würden sie in Kürze wissen, wo sie sich versteckt hielten. Sie mußten bald verschwinden. Als er dann darüber nachdachte, wohin sie fliehen sollten, kam ihm als erstes sein Zuhause in den Sinn. Dann verwarf er diese Möglichkeit. Dort würde man bestimmt schon auf sie warten. Auf dem Weg zur Polizei wäre es wohl kaum anders. Die dritte Möglichkeit erschreckte ihn, als er daran dachte. Aber was sollten sie sonst machen? Bestimmt würden sie seiner Mutter nichts tun, solange sie Kris nicht gefunden hatten. Er mußte sie also zuerst finden und befreien. Er war zwar nur ein Kind, und sie waren auch nur zu zweit, aber vielleicht würden sie es dennoch schaffen. Wenn sie ihre Mutter erst einmal gefunden hatten, wäre alles viel einfacher.

Eine halbe Stunde saßen sie noch so im Baumhaus. Kris hatte sich schließlich wieder beruhigt und lag jetzt schweigend auf den Kissen. Die Sonne schien nun nicht mehr direkt in die Hütte, mittlerweile war es Mittag geworden. Sven hing seinen Gedanken nach und spielte abwesend mit einem kleinen Ball herum, den sie immer hier oben aufbewahrten. Er hatte die Erlebnisse, die sie ihm erzählt hatte, sorgfältig auf ein Blatt Papier geschrieben. Vielleicht konnte er irgendwann eine Geschichte daraus machen. Jetzt hing der Zettel an einer Nadel in der Wand des Baumhauses, wo schon viele andere seiner Ideen hingen. Plötzlich aber setzte sich Kristina auf.

»Was ist?« fragte Sven.

»Psst«, machte sie und legte einen Finger über ihren Mund. »Ich hab was gehört.«

Der Wald lag still unter ihnen. Sven lauschte, aber es war kein Laut zu vernehmen. Er wollte gerade etwas sagen, als er plötzlich doch ein leises Geräusch hörte. Es klang wie Schritte. Vorsichtig spähte Sven durch die Tür des Baumhauses in den Wald hinein. Er konnte niemanden sehen, aber die Schritte wurden beständig lauter. Bald schon waren sie nicht mehr zu überhören. Es dauerte nicht lange, bis sie ein paar Männer sehen konnten, die sich ihren Weg durch die Bäume bahnten. Sie trugen helle Kleidung, und Sven konnte Funkgeräte an ihren Gürteln ausmachen. Was ihm aber am meisten Angst einjagte waren die Gewehre, die sie in den Händen hielten.

Er wagte kaum zu atmen, bis sie endlich wieder im Wald verschwunden waren und sich die Schritte entfernten. Sein Entschluß war gefaßt. Sie mußten fliehen und das schnell. Irgendwann würden die Männer auf die Idee kommen, auch in den Bäumen zu suchen, und dann wären sie verloren.

»Kristina«, flüsterte er. »Wir müssen hier weg.«

»Wohin denn?«

»Das ist erstmal egal. Ich weiß, wo wir am besten langgehen. Da werden sie uns nicht finden. Dann mußt du mich führen.«

»Wieso ich?«

»Erkläre ich dir später. Laß uns erst einmal losgehen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, holte er das Seil mit der Schlaufe aus einer Ecke der Hütte. Wenig später waren sie beide wieder auf dem Boden. Sie hatten sich zur Sicherheit etwas von den Vorräten mitgenommen, damit sie unterwegs zu essen hatten. Sven führte sie wieder durch den Wald, benutzte die dichtesten Stellen, um sie vor ihren Verfolgern zu verbergen. Ein oder zwei Mal hörten sie wieder die Schritte, aber sie waren nie nahe genug, um sie zu sehen. Es dauerte gut zwanzig Minuten, bis Sven mit Kris aus dem Wald trat und sie auf eine Landstraße kamen. Schnell zog er sie die Straße hinunter, bis sie einige hundert Meter vom Wald entfernt waren. Hier ruhten sie sich einen Augenblick aus.

»Wohin gehen wir jetzt?« wollte Kristina wissen, als sie endlich wieder zu Atem gekommen war.

»Zu der Firma, wo dein Vater gearbeitet hat.«

Das Mädchen wurde bleich. »Nein! Da dürfen wir nicht hin! Das ist gefährlich.«

»Ja, aber da finden wir meine Mutter. Wir müssen sie da rausholen.«

Kristina schüttelte energisch den Kopf. »Die haben Hunde, und die fangen uns bestimmt.«

»Du brauchst keine Angst zu haben. Wir schaffen das schon. Ich werde auf dich aufpassen.«

Schließlich überwand sie ihre Furcht, und nachdem sie Sven erklärt hatte, in welcher Firma ihr Vater gearbeitet hatte, gingen sie los. Sven kannte das Gebäude, von dem sie sprach. Es lag ein Stück außerhalb des Ortes, mitten in einem Waldstück. Er war schon oft mit seinen Freunden daran vorbeigefahren, aber niemand hatte gewußt, was sich darin befand. Er war neugierig, es herauszufinden.

Natürlich konnten sie nicht bei hellichtem Tag hineingehen. Sie würden noch eine Zeit brauchen, bis sie dort waren, aber dann würde es noch zwei oder drei Stunden dauern, bis es wirklich dunkel war. Wenn sie dann herausgefunden hatten, wo man seine Mutter gefangen hielt, wäre alles endlich überstanden. Gemütlich gingen sie nun weiter die Straße entlang. Sven hatte sich vorgenommen, nicht unnötig zu hetzen. Sie würden noch lange genug warten müssen. Unterwegs redeten sie, er erzählte ihr eine seiner Geschichten, die er sich ausgedacht hatte, und sie hörte gespannt zu, während er von Detektiven und Gaunern berichtete, die in einer Großstadt Katz und Maus spielten. Irgendwie war ihre eigene Situation dieser nicht unähnlich, dachte er.

Endlich war es dunkel genug. Die Sonne war bereits seit einer Stunde verschwunden, und die Luft wurde erfrischend kühl nach der sommerlichen Wärme des Tages. Trotzdem war es für die beiden Kinder unangenehm, die mit ihren dünnen Kleidern in einem Gebüsch saßen und warteten. Ein kleines Stück die Straße entlang war das Tor, das den Zugang zur Firma versperrte. Ab und zu kam ein Wagen hier vorbei, fuhr hinein oder kam heraus. Jetzt wartete Sven auf eine Gelegenheit, in das Gebäude zu kommen, ohne gesehen zu werden. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und machte das Warten nur noch schlimmer. Aber dennoch kam ihm eine Idee.

»Wenn ich dir Bescheid sage, rennst du zum Wachhäuschen hinüber. Ich lenke den Wachmann ab.«

Sie nickte ängstlich, und er kroch ein Stück durch das Gebüsch. Dann nahm er eine Handvoll Steine und schleuderte sie über die Straße hinweg in das Gesträuch, das dort wuchs. Dies wiederholte er so lange, bis der Wachmann darauf aufmerksam wurde. Jetzt nahm er größere Steine, die mehr Krach machten und wartete, bis der Mann weit genug vom Häuschen entfernt war. Mißtrauisch beobachtete der Uniformierte die Sträucher, erwartete jeden Augenblick, daß jemand daraus hervortreten könnte.

»Jetzt«, flüsterte er Kristina zu und begann, durchs Gebüsch zu ihr zurückzukrabbeln. Sie war gerade zwei Schritte vor ihm am Wachhaus. Leise krochen sie unter dem Schlagbaum der Schranke hindurch und huschten um die Ecke auf den Hof der Firma. Der Kies unter ihren Füßen knirschte leicht, aber das ließ sich nicht ändern. Vorsichtig stahlen sie sich an den Wänden der Gebäude entlang bis zu einer dunklen Gasse. Dort versteckten sie sich, als jemand aus der Tür in dem Haus vor ihnen herauskam. Den einen erkannte er sofort an der Stimme. Es war der Mann mit der Pistole, der seine Mutter bedroht hatte. Die Stimme der anderen Person erkannte er nicht. Aber was er hörte, war ihm wichtiger. Anscheinend war seine Mutter in diesem Gebäude.

»Sie wird reden, verlaß dich drauf. Spätestens morgen haben wir die Kleine.« Der andere Mann murmelte etwas Unverständliches. Ihre Schritte auf dem Kies übertönten bald das Gespräch, aber Sven hatte genug gehört. Als die Männer den Platz überquert hatten, winkte er Kristina und schlich sich zur Tür hinüber. Sie war nicht verschlossen.

Ein dunkler Raum lag auf der anderen Seite. Ihre Augen waren gut an die Dunkelheit gewöhnt, aber hier drinnen war es noch finsterer als draußen. Es gab keine Fenster, die etwas von dem Mondlicht hereinlassen konnten, das ihnen draußen geleuchtet hatte. Ein dumpfes Brummen lag in der Luft. Sven tastete an einer Wand entlang und fand einen Knopf, mit dem er das Deckenlicht einschaltete. Endlich konnte er erkennen, was für einen Raum er betreten hatte. Es war eher eine Gerätekammer, mit zwei Türen an der gegenüberliegenden Wand und einer Menge Werkzeug, das überall in Regalen herumlag. Sicher ist sicher, dachte Sven, als er den Eingang zu diesem Raum mit dem innen steckenden Schlüssel verriegelte. Dann ging er zu der ersten der beiden Türen. Dahinter wurde das Summen lauter. Vorsichtig drückte er die Klinke hinunter und rüttelte an ihr. Sie war verschlossen.

»Sven, hier«, flüsterte Kristina, die den anderen Zugang geöffnet hatte. Dahinter befand sich eine Treppe, die nach unten führte.

»Das ist es«, sagte Sven und kam zu ihr herüber. »Man versteckt Menschen immer in Kellern, das weiß ich aus dem Fernsehen.« Wieder ging die Deckenbeleuchtung an, und Sven schlich gefolgt von Kristina die Steintreppe hinunter. Hier war es noch kühler als draußen, Spinnweben hingen von Wänden und Decke, Dreck hatte sich auf dem Fußboden angesammelt. Von hier aus waren drei weitere Eingänge zu sehen, alles schwere Eisentüren. Sven huschte zu der ersten und drückte sein Ohr an sie. Das kühle Metall ließ ihn erschaudern. Nichts war zu hören. Er lauschte an den anderen, aber auch dort rührte sich nichts. Entschlossen legte er seine Hand auf die Klinke der hintersten Tür und drückte sie hinunter.

Uwe hielt es zu Hause nicht mehr aus. Er wußte zwar, daß sich jederzeit jemand melden konnte, aber er konnte nicht einfach untätig herumsitzen und warten. Seit er heute mittag nach Hause gekommen war, hatte nervöse Anspannung seinen Körper verkrampft. Man hatte seine Familie entführt, die Polizei hatte keine nennenswerten Hinweise gefunden, und bisher hatte sich niemand gemeldet. Jetzt war der Punkt erreicht, an dem er das Warten endgültig aufgeben mußte.

Er beschloß, auf eigene Faust zu suchen.

Uwe zog sich seine Jacke an und fuhr wenige Minuten später mit dem Corsa los. Er hatte keine Ahnung, wohin er fahren wollte. Seine Vernunft war in den Hintergrund getreten, die Gefühle gewannen die Oberhand. Eine Flut von Gedanken schwappte durch sein Gehirn. Wer könnte Interesse daran haben, seine Familie zu entführen? Was hatte man mit ihnen vor? Waren sie überhaupt alle entführt worden? Diese Möglichkeit ließ ihn erschreckt einatmen. Vielleicht waren sie ja gar nicht zu Hause gewesen, oder vielleicht nicht alle. Wäre es möglich, daß jemand entkommen war?

Wäre es Karin, sie wäre wahrscheinlich längst wieder daheim gewesen. Es war bisher nur selten vorgekommen, daß sie länger als bis sechs Uhr fort war. Meist war sie schon vor ihm wieder da. Bei Sven war es dagegen anders. Es gab Tage, an denen er seinen Sohn das erste Mal um neun Uhr abends zu Gesicht bekam. Dann war er für gewöhnlich mit seinen Freunden im Wald gewesen, wo sie in den Sommermonaten oft spielten. Vielleicht war er auch jetzt dort? Mit Kristina, womöglich!

Vor einiger Zeit, es lag schon ein oder zwei Jahre zurück, war Uwe seinem Sohn zum Wald gefolgt. Sven hatte sich immer geweigert, ihnen ihren geheimen Ort im Wald zu verraten. Uwe hatte es für besser gehalten, ihn nicht dazu zu zwingen, sondern selbst herauszufinden, wo sie sich versteckten. Sven mußte ja nicht wissen, daß er ihren Ort kannte. Jedenfalls war es besser, wenn man wußte, wo er war. Sven und seine Freunde hatten ihn zu ihrem Baumhaus geführt, ohne es zu merken. Jetzt, Jahre später, war er wieder auf dem Weg dorthin.

Die beiden Türen, die er bisher geöffnet hatte, führten in Lagerräume, die mit Kartons vollgestopft worden waren. Jetzt blieb nur noch die letzte Tür. Als er sie öffnen wollte stellte er fest, daß sie verschlossen war. Er rüttelte ein paar Mal an der Klinke, aber er konnte die Tür nicht öffnen. Plötzlich hörte er einen Laut auf der anderen Seite. Erschreckt hielt er inne, um zu lauschen. Es war eine Stimme.

»Hallo? Wer ist da?«

Svens Herz schlug schneller, als er seine Mutter erkannte. »Mama«, rief er ihr durch die Tür zu. »Ich bin es!«

»Sven? Was machst du hier?«

»Ich will dich hier rausholen. Kristina ist auch hier.«

»Bist du wahnsinnig? Wo ist Papa?«

»Ich weiß nicht, ich hab ihn nicht gesehen.«

Auf der anderen Seite sank Karin verzweifelt an der Tür zu Boden. Jetzt hatten sie auch die Kinder.

Sven spähte durch das Schlüsselloch. Es war ein einfaches Schloß, für einen Schlüssel mit langem Bart. Ein Kinderspiel, dachte Sven. Auch nicht schwieriger, als die Tür zum Dachboden. Seine Eltern hatten ihm immer verboten, auf dem Dachboden zu spielen. Dort stand ein riesiger Haufen Gerümpel herum, der praktisch dazu einlud, darin herumzuwühlen. Einer seiner Freunde hatte ihm einmal gezeigt, wie er ein einfaches Schloß mit einem umgebogenen Nagel und einer Zange öffnen konnte, und das gleiche hatte er an der Tür zum Boden ausprobiert. Es hatte ihn mehrere Tage gekostet, aber irgendwann hatte er es geschafft, sie zu öffnen. Jetzt besaß er schon so viel Übung darin, daß er nur wenige Sekunden brauchte, um sie zu entriegeln. Er war bereits auf dem Weg nach oben, um sich die Sachen zu suchen, die er benötigte.

Eine Zange war schnell gefunden. Drei Stück lagen auf einem der Regale, er wählte eine, die sich feststellen ließ, das würde die Sache ziemlich erleichtern. Die Suche nach einem Nagel dauerte schon etwas länger. Schließlich fand er eine dickere Schraube, die seiner Meinung nach ebenfalls genügen würde. Er spannte sie etwa einen Zentimeter tief in die Zange und bog sie gegen die Wand herum. Dann steckte er sie andersherum in das Werkzeug und begab sich wieder zu der Tür, wo Kristina noch immer wartete.

»Ich mache jetzt die Tür auf, Mama. Dauert nur ein bißchen.«

»Wie willst du das denn anstellen?« kam es durch die Stahlwand.

»Abwarten«, antwortete er und steckte die Schraube ins Schloß. Vorsichtig drehte er sie herum und versuchte, die Feder darin zu entriegeln. Aber entweder war der Haken zu lang, oder es lag am unregelmäßigen Profil der Schraube, jedenfalls brauchte er recht lange, um die Feder überhaupt zu bewegen. Als das Schloß dann plötzlich ein lautes Klicken von sich gab, war er mindestens genauso überrascht wie seine Mutter. Zufrieden ließ er die Zange hinter sich fallen und öffnete die Tür.

Karin konnte es nicht glauben. Die Tür war auf, sie war frei! Und Sven hatte das geschafft. Sie umarmte ihren Sohn und Kristina liebevoll. Sie wollte sie nicht mehr loslassen. Freudentränen rannen über ihr Gesicht, sie blinzelte in der ungewohnten Helligkeit. Doch plötzlich wurden laute Schläge hörbar, die die Eingangstür trafen.

»Aufmachen!« schrie jemand. »Macht die Tür auf, sofort.« Der Akzent des Mannes war unverkennbar.

Karin und die Kinder sahen sich an. Was sollten sie jetzt tun? Ihre Flucht war bemerkt worden. Selbst Sven mußte nun zugeben, daß er keinen Rat mehr wußte. Aber aufgeben wollte er auch nicht. Er ging nach oben zur Eingangstür und lauschte. Viele Männer standen draußen und redeten leise miteinander. Kies knirschte unter dem Gewicht eines Gerätes, das herangeschafft wurde. Plötzlich gab es ein Zischen, und kurz darauf drang eine helle Flamme durch den Stahl oberhalb des Schlosses, die immer weiter wanderte, langsam, aber doch unaufhaltsam.

Karin und Kristina waren ebenfalls in den kleinen Raum gekommen und beobachteten, wie sich der Riß in der Tür immer weiter verlängerte. Sie könnten sich hinter der Tür zur Treppe verschanzen und auch sie verriegeln, doch das würde das Unausweichliche nur hinauszögern. Zudem war diese nur aus Holz, das würde die Männer sicher nicht lange aufhalten.

Die Flamme war bereits um das Schloß herumgewandert, nur noch wenige Zentimeter Stahl hielten die Tür. Dann erlosch der Schneidbrenner plötzlich. Einen Augenblick danach wurde wieder gegen die Tür geschlagen. Sofort verbog sich das Metall. Es war nun lediglich eine Frage der Zeit, bis die Tür endgültig nachgeben würde.

Genauso plötzlich wie es begonnen hatte, erstarb das Geräusch des Schlagens. Draußen war nichts zu hören. Sven und die anderen, die sich in der hintersten Ecke des Raumes zusammengedrängt hatten, blickten gespannt zum Eingang hinüber. Dann flog die Tür mit einem lauten Knall auf.

Ein Mann in dunkler Uniform stürmte in den Raum. Kurz dahinter folgte Uwe, der seine Familie überschwenglich umarmte. Die drei konnten es kaum fassen, daß sie gerettet worden waren.

*

Auf dem Weg ins Präsidium erklärte Uwe, was geschehen war. Im Baumhaus von Svens Freunden hatte er den Zettel gefunden, auf dem Sven die kleine Geschichte des Mädchens notiert hatte. Damit war er dann zur Polizei gefahren und hatte sie überzeugt, daß sie der Sache nachgehen mußten. Es hatte über eine Stunde gedauert, bis er sie soweit hatte, aber dann waren sie endlich losgefahren. Als sie dann auf den Hof kamen, ergriffen ein paar der Männer sofort die Flucht, sie konnten aber gestellt werden, und ihre Aussagen erbrachten die letzten Beweise. Schließlich hatten sie die Tür aufgebrochen und die drei gerettet.

»Alles in allem haben wir den glücklichen Ausgang der Situation Sven zu verdanken«, schloß Uwe mit einem bewundernden Blick auf seinen Sohn.

»Ein Kinderspiel«, murmelte Sven und war einen Augenblick später an Karins Seite eingeschlafen.

ENDE