Der Flug des Daimon

Im Ozean von Tanab Buhl, weit, weit im Osten, ferner, als je jemand, oder etwas, aus unseren Breiten gereist ist, lag die Insel von Kajan Dum, über die die herrliche und grausame Königin Ennoar herrschte. Und die Zeit verging auf dieser Insel nicht, oder nur sehr langsam und nie entkam jemand von ihrer tropischen Pracht. Auf dieser Insel lebte auch Daimon, welcher nicht älter als dreißig sein konnte, und dennoch wie kein anderer von dem Auf- und Untergang großer Reiche, von der Erbauung und Zerstörung wundervoller Städte und über ferne Länder erzählte. Oft saß er viele Stunden mit der Königin, ihren Rittern und den Adeligen der Insel an der größten Tafel des Schlosses, um Stunde für Stunde zwischen Mahlzeiten ausgesuchtester Köstlichkeit von dem Fluch von Cassador und der Vernichtung des Gottes von Baylor zu berichten.
Oft ging er nach solchen Festen stundenlangen an, von der Abendsonne rötlich gefärbten Klippen entlang, bevor er sich früh zu Bett begab, um im Morgengrauen ausgeruht genug zu sein, um seiner zweiten Leidenschaft zu frönen: Der Jagd auf Gänse.
Eines Morgens, es war der Tag, an dem er seiner Zuhörerschaft zu berichten wußte, daß an diesem Tage ein fünfhundert Jahre alter Vertrag endete und der Zorn eines mächtigen Volkes die fernen westlichen Meere rot mit dem Blut vieler tapferer Kämpfer färben würde, brachte er eine besonders große Beute von der Jagd mit nach Hause. Obwohl das Herz jener Gans durchbohrt, ihr Rückrat gebrochen und ihr Gefieder mit Blut besudelt war, flößte sie den niederen Dienern der Königin doch Ehrfurcht ein, und den ganzen Tag über war in dem Schloß ein Raunen. Die Herrin jedoch lobte Daimon, denn es war die beste Gans, die sie in ihrem gesamten, unendlichem Leben je verzehrt hatte.
Nachdem die diestägige Feier durch ihre Majestät beendet worden war, machte sich Daimon, wie jeden Abend, auf den Weg zu den Klippen, freudig, satt und nur etwas betrübt, als er einen Schwarm von Gänsen über sein Haupt fliegen sah, daß er nicht auch seinen Bogen mitgenommen hatte.
Auf einmal fühlte er sich unendlich schläfrig und legte sich in das grüne Gras um bei dem wunderschönen Sonnenuntergang etwas zu rasten.
Auf einmal sah er die Klippen, sah seinen Körper im Grase liegen und den wunderbaren Sonnenuntergang hinter den Wassern. Und er sah, daß er zwischen wunderbaren Geschöpfen flog, die er, obwohl er doch jahrhundertelang durch alle Reiche des Kontinents und einige male sogar darüber hinaus gewandert war und gedacht hatte, alle Wunder der unendlichen Welt gesehen haben, nicht kannte.. Sie flogen in der wohlgeordneten Form eines Vs, dessen Spitze fehlte. So fragte er eines der beiden vordersten Geschöpfe, wer sie seien und was passiert wäre. In einem wunderbaren Gesang, Daimon so fremd und doch irgendwie vertraut, antwortete der Angesprochene: "Wir sind die Jahl'esdi und wir laden dich, Daimon, Erforscher vieler Reiche, Entdecker vieler Wunder und größter Jäger von Kajan Dum ein, mit uns um den zu trauern, welcher unser Anführer war, welcher von unserem mächtigsten Feinde mit einem riesigem Pfeil ermordet wurde." Und Daimon war von einem tiefen Schmerz ergriffen. Wer konnte einem Wesen, zu dem selbst sein so wundervoller und perfekter Freund von unendlicher Schönheit aufschaute, je zürnen, je ein Leid tun? Er konnte eine Träne nicht zurückhalten und sagte, dieser Feind müsse ein schreckliches Monster sein. Und der angesprochene bejahte es, mit Trauer in seiner Stimme.
Und so flog Daimon, selbst in einer solch wunderbaren und schönen Gestalt, wie seine Begleiter, über Kajan Dum und so sangen sie gemeinsam Lieder über das Leben, über den Tod und über die unendliche Freude, welches ersteres und die unendliche Trauer, welches letzteres bereitete. Und oft sang Daimon nur Teile der wunderschönen Lieder, wenn er seine übergroße Bedrückung, ob des Todes jenes großen und gütigen Führers, nicht mehr zurückhalten konnte und den Tränen ihren freien Lauf lassen mußte.
Viele Stunden später, die Tränen waren versiegt, die Lieder über den Tod denen über die Wiederauferstehung gewichen und die Trauer war der Gewißheit gewichen, daß sie bald wieder einen Führer haben würden, der für sie sorgte, landeten Daimon und die Jahl'esdi an einer gedeckten Tafel, von einer Art, wie sie Daimon noch nie gesehen hatte. Und seine Begleiter begannen Lieder zu singen und Geschichten zu erzählen, über Wunder und ferne Länder, die Daimon nie betreten hatte, welche ferner waren als das Heim der Sonne und die Wiege der Sterne und von anderen Wesen bewohnt wurden, von denen Daimon nur Legenden gehört hatte. Und während des Singens bedienten sie sich von den köstlichen und doch so sonderbaren Speisen, vor denen Daimon anfangs zurückschreckte, bevor er ihre Erlesenheit kostete.
Als der helle Vollmond in dieser Nacht den Zenit überschritten hatte, kam eine wundervolle Frau der Jahl'esdi zu ihm, so weiß ihr Äußeres, so süß ihr Duft, schöner als jedes Parfüm war, welches er während seines langen Lebens gerochen hatte. Und sie sangen zusammen über die Wunder, die sie auf ihren Reisen gesehen hatten. Dann jedoch änderten sich ihr Gesang und erzählte Daimon von ihrer Liebe zu dem großen Führer, dessen Tod sie heute beklagt hatten, wenig Zeit hatten sie miteinander, der Pfeil traf ihn nur einen Tag nach ihrer Liaison, und ging dann zu einer Liebeserklärung ihm gegenüber und der Frage über, ob er ihr Anführer werden wolle. Überglücklich über die Liebe eines solch wunderbaren Geschöpfes und das große Vertrauen, daß sie in ihn legte, bejahte er die Fragen in dem wunderbaren Gesang, der die Sprache jener Rasse war. Und bald darauf brauchten sie weder Worte noch Gesang und sie liebten sich lange und auf schönere Arten, als Daimon je geträumt hatte.
Am nächsten Morgen brachte der neue Führer sein Volk über die Klippen Kajan Dums, auf das Meer, der Macht der Königin trotzend, die verhinderte, daß jemand die Insel verließ. Sie waren noch nicht lange geflogen, da blickte Daimon ins Meer hinab und erschauderte. Er deutete seinen Untergebenen weiterzufliegen und ging tiefer, und tiefer, den Blick aber gen Himmel gerichtet. Schließlich, er war nur noch drei Fuß über dem von keiner Welle bewegten Wassers. Und wieder sah er hinein, und tief in ihm zerriß etwas. Von unendlichem Schrecken erfüllt, wendete er um und flog von panischer Angst getrieben auf die Insel Kajan Dum zu. Er wollte zurück zu seinem alten Körper, wollte wieder der Daimon sein der er schon seit Jahrhunderten war. Er hatte fast die Stelle erreicht, als ihn plötzlich etwas brutal nach oben stieß. Er hörte wie sein Herz platzte, wie sein Rückgrat brach und sah den Boden immer näher und näher kommen. Und während seines letzten Momentes wußte er, daß er, Daimon, heute der Königin und seiner Zuhörerschaft von dem Ende eines fünfhundertjährigen Vertrages erzählen würde, und von dem Zorn eines mächtigen Volkes, welches die fernen Westlichen Meere rot von dem Blut vieler tapferer Kämpfer tauchte, und das die Diener ob seiner heutigen Jagdbeute raunen und ihn die Königin dafür loben würde. Und er wußte, das er heute die Jahl'esdi wiedersehen würde, und wieder würden sie einen Anführer betrauern, welcher durch den Pfeil ihres mächtigsten Feindes den Tod fand.
Denn als er in das Meer blickte, sah er sein Spiegelbild, und es war das der Gans, die er am gestrigen Tage erlegt hatte.

05-10-97

-Pilgrim

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