Die auf der anderen Seite der Mauer
(Eine Geschichte aus Njen'irubia (C)1996 by Dario Abatianni)

Das brennende Himmelsauge hatte seine Tagesfahrt gerade erst begonnen, als im Hause des Händlers Khelet i'Mantet bereits geschäftig gearbeitet wurde. Jara bereitete für sich, ihren Mann und ihre kleine Tochter das Frühstück vor. Khelet war im Laden beschäftigt, die neuen Waren einzusortieren und die alten in den Regalen etwas weiter nach vorne zu rücken, damit sie nicht noch länger unbeachtet blieben. Rhia lief mit einem kupfernen Eimer zum Brunnen und wieder zurück, um Putzwasser zu holen. Als sie zurückkehrte, schlug Jara gerade mit einem Kochlöffel auf einen Teller, um die Familie an den Tisch zu rufen. Kurz und gut: Ein neuer Tag im Leben der Familie i'Mantet hatte begonnen.

Nach dem reichlichen Frühstück begann für Rhia der Alltag. Sie ging mit ihrem kleinen Eimer in den Laden, um den Boden, die Theke und die Regale zu säubern. Während sie mit dem nassen Leinentuch über die Holzplanken wischte, wünschte sie sich, daß dies einmal nicht mehr ihre Aufgabe sein sollte. Vater und Mutter waren immer gut zu ihr, aber dennoch war sie es leid, Tag für Tag dieselben Arbeiten zu verrichten. Mißmutig warf sie den Lappen in den Eimer, drückte den Schmutz aus ihm heraus und nahm ihn wieder in die Hand, um das nächste Regal in Angriff zu nehmen. Kurz bevor sie fertig war, kam ihr Vater herein, um das Geschäft zu eröffnen. »Beeil' dich, Rhia«, meinte er gutgelaunt. »Die Leute stehen schon Schlange vor der Tür.« Das war zwar stark übertrieben, aber es hatten sich tatsächlich bereits ein paar Menschen vor dem Laden eingefunden.

Khelet strich seiner Tochter kurz übers Haar und wandte sich dann wieder der Tür zu. Durch die kleinen Kristallfenster konnte er auf die Straße blicken und beobachtete die Leute, die vor seiner Tür warteten. Rhia beeilte sich, das letzte Regal zu säubern, und dann öffnete Khelet die Eingangstür, noch bevor die letzten Spuren der Feuchtigkeit vom Holz verschwunden waren.

Rhia warf den schmutzigen Lappen auf den Wäschehaufen und kippte den Inhalt des Eimers weg. Sie hatte sich gerade für einen kurzen Augenblick im Hinterhof zum Verschnaufen hingesetzt, als sie die Stimme ihrer Mutter vernahm: »Rhia! Kommst du bitte ins Haus? Die Stoffe müssen noch zu den Leuten.«

Das Mädchen atmete tief ein, stand dann jedoch auf und lief zu ihrer Mutter in die Küche. Dort nahm sie den verschnürten Packen Stoff entgegen, schnallte ihn sich auf den Rücken und lief los, um sie auszuliefern. Auf einer Liste hatte ihre Mutter die Namen und Adressen der Leute notiert, die bei ihr die kunstvoll bestickten Decken bestellt hatten. Zu allem Überfluß lebten die Kunden ihrer Mutter in der gesamten Mittelstadt verstreut, so daß sie erst am Mittag wieder zu Hause war. Zum Glück hatte Jara gerade das Essen bereitet; so konnte sie sich erst einmal ausruhen und stärken, bevor sie ihrer Mutter beim Anfertigen der Decken helfen mußte. Bis zum späten Abend saßen sie zusammen am Tisch und führten die Nadeln durch den Stoff. Jara hatte zuvor die Muster und Farben auf die Decken aufgezeichnet, damit Rhia ihr helfen konnte, aber das Mädchen empfand es allenfalls als störend, daß sie immer nach den vorgegebenen Mustern arbeiten mußte. Die Arbeit selbst störte sie nicht, es war nur die Tatsache, daß sie nicht das einfließen lassen konnte, was sie im Kopf hatte.

Als sich die Nacht schließlich über Crys zu senken begann, schloß Khelet seinen Laden ab und gesellte sich zu Jara und seiner Tochter in das Haus. Rhia und ihre Mutter beendeten ihre Arbeit für diesen Tag, und schließlich aßen sie zu abend.

Wenig später saß das Mädchen in ihrem Zimmer über ein paar Blätter gebeugt. Der feine Kohlestift in ihrer Hand zog temperamentvolle Striche über das Papier, die sich langsam zu konkreten Formen zusammenschlossen. Mit Leidenschaft fertigte sie solche Zeichnungen an, doch ihre Eltern sahen es nicht gerne, wenn sie sich mit einer solchen Zeitverschwendung befaßte. Deshalb wartete sie immer bis zur Nacht damit, ihre kleinen Bilder zu zeichnen. Die Pflichten des Tages ließen ihr jedoch immer weniger Zeit dafür, und so wurden die fertigen Zeichnungen auch immer weniger. Sie würde viel dafür geben, wenn sie nicht mehr so viel arbeiten müßte.

Der Stift fiel mit einem leisen Geräusch auf das Papier und hinterließ einen feinen Strich. Rhia war eingeschlafen.

*

Die Straßen der Unterstadt wimmelten vor Leben. Menschen und Angehörige aller anderen Völker von Njen'irubia wanderten zwischen den Häusern umher und gingen ihren Geschäften nach. An vielen Häuserecken und -wänden hatten sich Bettler niedergelassen, die allerdings nur wenig Chancen hatten, in diesem Teil der Stadt viel zu verdienen; denn wer in der Unterstadt von Crys lebte, war in der Regel nicht mit Reichtümern gesegnet. Die wenigsten derer, die sich hier niedergelassen hatten, wußten, wie ein Goldring oder gar ein Ogridring überhaupt aussah. Und noch weniger von ihnen hatten je einen in der Hand gehabt. Über den allgemeinen Lärm, der das Geschehen der Unterstadt allgemein untermalte, erhob sich plötzlich ein Tumult. Am Ende der Gasse hörte man einen Mann rufen und die überraschten Ausrufe derer, die unwirsch beiseite gestoßen wurden.

»Haltet ihn! Er hat mich bestohlen!« rief eine Männerstimme. Kurz darauf bahnte sich ein Junge seinen Weg durch die Menge. Die meisten Menschen wichen dem flinken kleinen Kerl aus, andere versuchten halbherzig, den wendigen Körper festzuhalten, doch es gelang ihm, ihnen zu entkommen.

Wenig später kam ein korpulenter Mann um die Ecke gerannt, der offensichtlich hinter dem Jungen her war. Grob stieß er die Leute beiseite und bahnte sich so seinen Weg durch die Gasse. Auf einer Kreuzung, an der sich eine breitere Straße und eine schmale Gasse trafen, blieb er stehen und blickte sich um. »Verdammter Mist!« rief er, als er erkannte, daß er den Jungen aus den Augen verloren hatte. Wütend stapfte er in eine Richtung davon.

Ekoj war ärgerlich. Er beobachtete den Mann von seinem erhöhten Standpunkt aus, bis dieser außer Sicht war. Dann sprang er von dem Dach herunter und wischte sich die ohnehin schmutzigen Hosen ab. Ekoj, du Dummkopf, schalt er sich selbst in Gedanken. Du warst auch schon mal besser. Seine anfänglich dumpfe Stimmung wandelte sich in Erwartung, als er das Gewicht des kleinen Beutelchens in seiner Hosentasche spürte. Flink verschwand er in einer kleinen Seitengasse, hockte sich hinter eine Regentonne und kramte das Ledersäckchen hervor. Die verschieden großen Ringe klimperten leise, als er sie auf den Boden der Gasse ausschüttete. Acht kupferne und ein eiserner. Na, immerhin. Der Mann hatte anscheinend eine der wichtigsten Regeln der Unterstadt beachtet: Nimm nur soviel Geld mit, wie du wirklich brauchst oder meinst, verlieren zu können. So, wie der Mann gekleidet war, würde ihn der Verlust dieses Geldes wohl nur wenig ausmachen. Dumm genug, in einem solchen Aufzug überhaupt in der Unterstadt herumzulaufen.

Zufrieden sammelte er die Ringe ein und reihte sie auf zwei verschiedene Schnüre auf, die er auf der Innenseite seines Gürtels trug. Die Kupfernen band er auf die eine, die Eisernen auf die andere Kordel; es mußte ja niemand wissen, wie viele Ringe er besaß, wenn er etwas bezahlen wollte. Es war zwar nicht viel, doch zumindest würde es für zwei oder drei Tage reichen, wenn er etwas sparsam damit umging.

Fröhlich pfeifend ging Ekoj durch die Straßen, bis er auf dem Marktplatz den Stand des Händlers Venyon ai'Crys entdeckte. Mit unschuldiger Miene schlenderte er darauf zu und griff hinter seinem Rücken nach einem Apfel. »He, Ekoj! Meinst du, ich hätte Rotfrüchte auf den Augen? Laß den Apfel, wo er ist, mein Kleiner, sonst versohle ich dir den Hintern!« Venyon lachte lauthals.

»Ach wo«, gab Ekoj verschmitzt zurück. »Ich will ihn mir kaufen, Mann! Was denkst du denn?«

Der Mann begann von Neuem zu lachen. »Du willst etwas kaufen? Sag bloß, du hast einen Dummen gefunden, der dich bei sich arbeiten läßt.«

»Willst du mir den Apfel jetzt verkaufen, oder nicht?« Der Junge setzte ein beleidigtes Gesicht auf und wandte sich halb um, als wollte er den Stand verlassen.

»Klar, wenn du bezahlen kannst, immer.« Venyon grinste. Dieser kleine Kerl würde noch mal ein gerissener Verhandlungspartner werden. »Ich gebe dir den Apfel für ... sagen wir ... drei Kupferringe.«

»Was? Drei Kupfer? Ich habe zwar etwas Geld, aber ein Oberstädter bin ich deswegen noch nicht. Ich gebe dir höchstens einen, und das ist noch zuviel.«

»Zwei.«

»Abgemacht.« Der Junge grinste, als er die Kordel mit den Kupferringen aus seinem Versteck holte. »Es macht mir immer wieder Spaß, mit dir zu verhandeln.«

»Als ob es so oft etwas zu handeln gäbe«, erwiderte Venyon lächelnd, als er das Geld entgegennahm. »Ich bin nur froh, daß du noch so jung bist. Ansonsten würdest du mich wahrscheinlich mit dem alten Frau und sechs Kinder-Trick einwickeln.«

»Vielleicht werden wir dieses Vergnügen noch einmal haben, Venyon.« Der Junge verbeugte sich in einer perfekten Parodie der Höflinge aus der Oberstadt. »Lebt wohl, mein Freund.«

»Troll' dich!« rief der Händler fröhlich, als der Junge sich umwandte und binnen weniger Augenblicke in der Menge verschwand.

Wenig später stand Ekoj in einer Gasse und betrachtete das Tor, durch das die Reisenden in die Mittelstadt gelangten. Manchmal dachte er darüber nach, wie es wäre, einmal dort zu leben, auch wenn er wußte, daß er dieses Ziel wahrscheinlich niemals erreichen würde.

*

Rhia schreckte zusammen, als es an ihre Zimmertür klopfte. »Aufstehen, Kleines! Es wird Zeit!« Durch das Fenster konnte sie die gerade aufgehende Sonne sehen. Müde hob sie den Kopf und dachte nach. Sie mußte gestern beim Zeichnen eingeschlafen sein. Vorsichtig nahm sie den Kohlestift auf und legte ihn in die kleine Mulde in ihrem Schreibtisch. Dann fiel es ihr ein: Heute war Markttag! Die ganze Stadt würde auf den Beinen sein. Ihre Eltern würden den Stand aufbauen, um den Menschen aus den umliegenden Dörfern ihre Waren anzubieten.

»Ich bin gleich da!« rief sie. Sie wollte dieses Ereignis auf keinen Fall verpassen. Es gab selten Gelegenheit, etwas von den Menschen außerhalb der Stadt zu sehen. Vielleicht sah sie sogar jemanden aus Njen'rooj oder gar einen Elfen! Eilig stand sie vom Schreibtisch auf und zog sich frische Sachen an. Dann rannte sie den Flur entlang und kam in den Wohnraum, wo ihre Eltern bereits damit beschäftigt waren, mehrere Säcke mit Stoffen zu füllen.

Wenig später war der kleine Karrenwagen bis an die Grenze seiner Belastbarkeit beladen und fuhr, von zwei großen Shennas gezogen, durch die Straßen von Crys. Khelet saß mit Jara auf dem Kutschbock und lenkte die Tiere langsam zwischen den Häusern hindurch, während Rhia hinten auf der Ladefläche saß. Schon zu dieser frühen Stunde war schon viel Betrieb in der Stadt. Überall waren Männer und Frauen unterwegs, die meisten offensichtlich Händler, die ihre Vorbereitungen für den Markt trafen. Obwohl in jeder Siebenspanne ein solcher Markt abgehalten wurde, war es doch immer wieder ein Ereignis, das die Stadt in Aufregung versetzte.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Khelet den Holzverschlag zusammengebaut hatte. Jara begann gleich darauf, die Stoffe ordentlich auszulegen, während Khelet zusammen mit Rhia die restlichen Waren auf dem Stand verteilte. Schon jetzt begannen sich die ersten Leute für die Händler zu interessieren. Die richtigen Käufe würden aber erst in einer oder zwei Stunden losgehen, wenn sich die Kunden bei den anderen Ständen umsehen und die Preise vergleichen konnten.

Nachdem nun der Stand aufgebaut war, und Khelet und Jara auf Kundschaft warteten, bot sich für Rhia die Gelegenheit, ein wenig umherzuwandern. Sie würde ansonsten ohnehin nur hinter dem Stand sitzen und warten, bis der Markt vorüber war. Während der Handel lief gab es nun einmal nicht allzu viel, was ein Mädchen von zwölf Wachen tun konnte.

*

Schon am frühen Morgen hielt Ekoj sich in der Nähe des Tores zur Mittelstadt auf. Heute war es wieder soweit: Es würde einen Markt geben. Vor den großen Holzflügeln drängten sich schon einige der Unterstadtbewohner zusammen mit Fremden aus den umliegenden Gebieten. Er selbst blieb wohlweislich im Hintergrund, er wollte nicht riskieren, daß ihn die Wachen daran hindern würden, die Mittelstadt zu betreten. Denn obwohl dies ein offener Markt war, wurden doch nur die aus der Unterstadt eingelassen, die offensichtlich etwas Geld oder Waren besaßen.

Er wartete, bis ein Wagen an ihm vorbeifuhr, der eine recht niedrige Ladefläche hatte. Flink sprang er hinten auf, ohne daß der Fahrer ihn bemerkte. Dann ließ er die Beine baumeln und tat so, als gehöre er dorthin, während der Mann die kurzen Formalitäten am Tor erledigte. Wenige Augenblicke später fuhr der Karren wieder an und brachte ihn in die Mittelstadt. Dort wartete Ekoj noch, bis der Wagen um eine Biegung gefahren war, und dann sprang er genau so lautlos ab, wie er aufgestiegen war. Grinsend stand er mit den Armen in die Seite gestemmt auf der Straße und beobachtete den ahnungslosen Händler, wie er den Weg in Richtung Markt einschlug.

Er selber wollte aber noch nicht dorthin gehen. Um diese Zeit war da noch nicht allzu viel Betrieb, da würde ein einsamer Junge von elf Wachen zu sehr auffallen. Also schlenderte er ein wenig durch die Gassen. Er war bisher nur selten hier gewesen, denn nachdem der Markt am Abend zu Ende gehen würde, begann die Sperrstunde. In dieser Zeit wurden die Menschen der Mittelstadt angewiesen, sich in ihre Häuser zu begeben und bis zum nächsten Morgen dort zu bleiben. Wer dann noch von einer der zahlreichen Wachen der Stadt aufgegriffen wurde, durfte den Rest der Nacht dann im Kerker oder, wenn man sich gar uneinsichtig zeigte, im Kanal verbringen.

Der Kanal war es eigentlich, der die meisten dazu veranlaßte, diesen Teil der Stadt zur Sperrstunde zu meiden. Der Kerker war zwar kahl und feucht, jedoch im großen und ganzen auch nicht viel schlechter, als in der Unterstadt auf den Straßen. Der Kanal aber war weit weniger angenehm. Er zog sich von den Häusern der Oberstadt bis hinunter zum Par'rooj, wo sich sein Inhalt dann in das dunkle Wasser entleerte. Die Oberstädter nutzten das Bauwerk, um ihre Abwässer und Hinterlassenschaften wegzuspülen, was ihm seinen charakteristischen Gestank einbrachte. Die meiste Zeit hielten sich die Bewohner von Crys von diesem steinernen Graben fern; lediglich, wenn jemand zu zwei oder drei Läufen durch den Graben verurteilt worden war, versammelte sich meist eine ganze Menge an Menschen, den Gestank ignorierend, um dem Unglücklichen bei seiner Buße zuzusehen. Oft beteiligten sie sich sogar an der Strafe, indem sie dem armen Teufel dann auch noch Steine oder verfaultes Obst entgegenwarfen.

Ekoj hatte wenig Lust, sich dem einen oder dem anderen auszusetzen, also beschloß er, kurz vor Beginn der Sperrstunde die Mittelstadt zu verlassen. Jetzt allerdings vertrieb er sich die Zeit damit, die Umgebung des Marktplatzes genauer zu untersuchen, um sich die besten Fluchtwege zu sichern - obwohl er noch nicht wußte, was er auf dem Markt tun wollte. Sicher ist sicher, dachte er. Man konnte schließlich nie wissen, welche Überraschungen der Tag noch bereithielt.

*

Rhia lief fröhlich durch die großen Straßen und betrachtete sich die unterschiedlichen Menschen und Dinge, die sie bei sich trugen. Es war immer wieder faszinierend, wie vielfältig die Kulturen und Sitten der verschiedenen Völker waren. Sie erkannte ein Ehepaar aus Njen'rooj, das sich mit einem Ballen Stoff - wahrscheinlich Ferdufur - vor dem Stand einer Händlerin aufhielt und eifrig feilschte. Die Händlerin lachte plötzlich auf, wobei sie ihr langes, braunes Haar nach hinten warf. Dann beugte sie sich vor, offensichtlich, um den beiden ein Angebot zu machen.

Rhia ging weiter, kaufte sich an einem der zahlreichen Zuckerwarenstände ein kleines Paket Konfekt und ließ den Tag an sich vorüberziehen. Als die Dämmerung dann langsam aber sicher Einzug hielt, beeilte Rhia sich, zu ihren Eltern zurückzulaufen. Wenig später half sie schon beim Abbau des Standes. Khelet war sehr zufrieden mit dem Verlauf des Tages; er hatte einige gute Geschäfte machen können. Jara hatte ebenfalls recht ordentliche Abschlüsse vorzuweisen, und so machten sie sich vergnügt auf den Weg nach Hause. Noch bevor die Wachen die Sperrstunde ausriefen, waren sie in ihrem Heim angekommen. Während Jara und Khelet abluden, sortierte Rhia im Wohnraum die Ringe und Plättchen auf einzelne Haufen und Stäbchen, damit ihr Vater sie später leichter zählen konnte.

Schließlich aßen sie gemütlich zu Abend. Rhia lud sich gerade eine Portion der würzigen Gemüseknollen auf, als sie draußen die Stimme der Stadtwache hörte. »Beginn der Sperrstunde!« rief die Stimme. »Alle Bewohner haben sich unverzüglich in die Häuser zu begeben.« Rhia hatte den Sinn dieser Maßnahme nie richtig verstanden. Angeblich wollte man verhindern, daß sich nach Ende des Marktes noch Menschen aus der Unterstadt diesseits der Mauer befanden. Es war ihr nicht ganz klar, warum dies so schlimm sein sollte. Konnten sie sich nicht da aufhalten, wo sie wollten? Sie selbst konnte doch auch hier leben; was unterschied sie von den anderen?

Diese Gedanken beschäftigten sie noch, als sie in ihrem Zimmer war. Spontan kamen ihr dabei einige Bilder in den Sinn; sie huschte zu ihrem Schreibtisch und begann mit flinken Bewegungen zu zeichnen. Eine Mauer bildete sich heraus, aufgebaut aus groben Steinblöcken, deren Fugen mit Mörtel ausgefüllt worden waren. Ein Mädchen stand dort, bäuchlings an die Mauer gelehnt und die Arme erhoben. Ihr Kopf war zur Seite gewandt, so als würde sie mit einem Ohr am kahlen Stein lauschen. Oben auf der Mauer stand ein Mann in Rüstung. An seiner Seite hielt er eine lange Hellebarde, deren Schneide im Licht der untergehenden Sonne gefährlich funkelte. Die andere Hand hatte er über die Augen erhoben, um sie vor dem Licht abzuschirmen. Er schien das Mädchen unter sich gar nicht zu bemerken. Selbst die Risse in der Wand, die sich von den gekrümmten Fingern des Kindes her ausbreiteten, beachtete er nicht.

Rhia legte den Kohlestift beiseite. Das Bild lag vor ihr wie ein Abbild ihrer Gedanken. Die grauen Linien verschwommen vor ihrem Auge zu Flächen und Formen, die in die Tiefe des Raumes einzudringen schienen. Sie streckte die Hand nach der Mauer aus, besann sich aber dann doch noch rechtzeitig, bevor sie mit den Fingern die Kohle auf dem Pergament verwischen konnte.

Geistesabwesend griff sie nach dem kleinen Tiegel mit der merkwürdigen Flüssigkeit, den sie vor vielen Tagen heimlich an einem Verkaufsstand erworben hatte. Da ihre Eltern es nicht gerne sahen, wenn sie ihrem Zeitvertreib nachging, hütete sie sich davor, ihnen zu sagen, was sie besaß. Die Flüssigkeit konnte Kohlezeichnungen so präparieren, daß sie ein Vielfaches länger hielten und auch nicht mehr verwischt werden konnten. Schon öfter hatte man sie gefragt, warum ihre Zeichnungen so dauerhaft waren, doch sie hatte immer nur die Schultern gezuckt und gesagt, daß sie es auch nicht erklären konnte. Behutsam nahm sie den feinbauschigen Pinsel aus dem Gefäß und strich sorgfältig mit dem Finger über seine Unterseite. Die dabei wegspritzenden Tropfen ließ sie auf das Pergament fallen, wo sie sich gleichmäßig verteilten. Schon wenige Augenblicke später zog die Flüssigkeit in die Fasern ein und bildete einen eigenartigen Glanz an der Oberfläche. Schließlich schraubte sie den Deckel wieder auf den Tiegel und verstaute ihren kleinen Schatz in der hintersten Ecke ihrer Schublade. Dann nahm sie das Bild auf und ging damit zum Fenster, um es vom Nachtwind trocknen zu lassen.

*

Der Markt war aufregend. Die Stände der fremden und einheimischen Händler reihten sich dicht an dicht auf dem großen Marktplatz aneinander und führten auch noch weit in die umliegenden Gassen hinein. Ekoj schlenderte fröhlich pfeifend zwischen den Holzbuden herum und betrachtete die Waren, die zum Verkauf angeboten wurden. Es gab mehr zu sehen, als er an einem Tag schaffen konnte. Nebenbei hielt er auch Ausschau nach dem einen oder anderen unvorsichtigen Händler oder Bürger, der seinen Geldbeutel etwas zu auffällig am Gürtel trug. Natürlich wußte er, daß die meisten Leute inmitten einer solchen Ansammlung dazu neigen, besonders auf ihr Hab und Gut aufzupassen, aber das schreckte ihn nicht ab. Ab und an versuchte er sein Glück, doch bisher mußte er zwei Mal flink in der Menge untertauchen, um nicht von einem erbosten Opfer ergriffen zu werden. Aber immerhin hatte er schließlich so viele Ringe zusammen, daß er sich eine anständige Mahlzeit leisten konnte. Ekoj ging zu einer der zahlreichen Garküchen, ließ sich eine Schale mit gebackenen Obststücken und Brot geben, die er mit fünf Kupferringen bezahlte. Dann suchte er sich einen Platz in der Nähe des Standes und ließ sich dort nieder, um sein Mahl in Ruhe zu genießen.

Der Junge hielt sich noch bis zum anbrechenden Abend auf dem Markt auf, bevor er beschloß, in die Unterstadt zurückzukehren. Bei dem Gedanken an die schmutzigen Straßen und zwielichtigen Gestalten seiner gewohnten Umgebung überkam ihn eine gewisse Traurigkeit. Warum konnte er nicht einfach hier bleiben? Natürlich wäre es ein zu großes Risiko, mit den Gardisten der Mittelstadt Verstecken zu spielen; er hatte Geschichten von viel erfahreneren Menschen gehört, die gefangen und verurteilt worden waren. Sie allesamt wurden dem Urteil des Marill aig'Bron überlassen, und der war in seinem Gericht nicht zimperlich.

Also machte Ekoj sich schließlich auf den Weg nach Hause; er mischte sich dabei unter den Strom der Leute, die nun ebenfalls die Mittelstadt verlassen wollten und sprang hinten auf den nächstbesten Wagen, der in seine Nähe kam. Dort streckte er sich aus und wartete darauf, daß der große, steinerne Torbogen über ihm vorbeiziehen würde.

Die plötzliche Stille ließ Ekoj zusammenfahren. Wo waren all die Leute geblieben, die gerade eben noch die Straße bevölkert hatten? Außerdem war der Wagen stehengeblieben. Die leichte Benommenheit in seinem Kopf sagte ihm, daß er eingeschlafen sein mußte. Vom Kutschbock des Wagens kamen leise Geräusche, die ihn dazu veranlaßten, schnell abzuspringen und in der nächstbesten Gasse zu verschwinden. Als er nun endlich ein wenig zur Ruhe kam bemerkte er zum ersten Mal, daß er sich keineswegs in der Unterstadt befand. Diese Häuser gehörten eindeutig zur Nordseite der Mittelstadt. Innerlich fluchte Ekoj wie ein Demra'n-Kutscher. Wie hatte er nur einschlafen können? Anscheinend hatte ihn der Rummel in der Stadt stärker erschöpft, als er angenommen hatte. Wenn er sich beeilte, konnte er es vielleicht noch schaffen, das Tor vor der Sperrstunde zu erreichen. Aber die nächsten Geräusche machten seine Hoffnung zunichte. Nur wenige Schritte von sich entfernt hörte er die Stimme eines Gardisten, der die Sperrstunde ausrief. Sofort rannte er los, um sich zu verbergen, doch da hörte er schon die aufgeregten Rufe eines der Männer. Offensichtlich war er nicht schnell genug weggekommen.

Jetzt rannte Ekoj erneut um sein Leben. Er nutzte die seiner kleinen Statur eigenen Wendigkeit voll aus, so daß er nach und nach an Vorsprung gewann. Flink schoß er um die nächste Ecke, sprang über einen kleinen Zaun hinweg, der eines der Grundstücke umgab und bahnte sich seinen Weg durch eine widerspenstige Hecke, die auf der anderen Seite wuchs. Doch immer noch waren die Stimmen hinter ihm. Nach einem schnellen Rundumblick entdeckte er einen Stall, dessen Tür leicht angelehnt war. Schnell wie eine Steppenkatze überquerte er den freien Platz zwischen der Hecke und dem Stall, zog die Holztür ein Stückchen auf und quetschte sich in den dahinter liegenden Raum. Gleich darauf zog er den Eingang hinter sich zu.

Mit pochendem Herzen lehnte er sich rücklings an die Holztür und lauschte. Er konnte die Stimmen der Männer hören, während sie versuchten, seinen Fluchtweg auszumachen. Doch schließlich entfernten sie sich immer weiter, bis sie schließlich nicht mehr zu vernehmen waren. Erleichtert ließ sich der Junge an der Wand zu Boden gleiten. Fürs erste war er in Sicherheit. Hier würde niemand nach ihm suchen. Die Luft roch nach Pferden, Shennas, wenn er sich nicht irrte. Ihre kraftvollen Umrisse konnte er ein Stück weiter vor sich erkennen. Er sah auch einen großen Haufen Heu, der ihn zum Ausruhen einlud. Vorsichtig schlich er dorthin und ließ sich in das weiche Gestrüpp fallen. Nun war er also in der Mittelstadt; und er war entschlossen, das Beste aus der momentanen Situation zu machen. Doch eine Frage konnte er nicht beantworten: Wie sollte er die nächsten Tage bis zum folgenden Markttag überstehen, ohne aufgegriffen zu werden? Genau in diesem Augenblick hörte er, wie weiter hinten im Stall eine Tür geöffnet wurde und das Licht einer Laterne in den Raum fiel.

*

Was ist denn im Stall los? Rhia blieb am Fenster stehen und lauschte. Möglicherweise hatte sie sich getäuscht, aber das glaubte sie nicht. Dieses Geräusch kam ganz sicher von der Eingangstür des Holzverschlages. Sie blieb noch ein paar Augenblicke dort stehen, konnte jedoch keine weiteren Geräusche vernehmen. Leise zog sie sich vom Fenster zurück, schlüpfte in ihre Sandalen und warf sich einen leichten Umhang über. Sie durchquerte den Flur, nahm eine Windlampe vom Haken und verließ das Haus. Draußen sog sie die frische Luft der Nacht ein, die einen leichten Hauch nach Regen in sich hatte. Dann griff sie in die kleine Ledertasche, die sie mit der Lampe mitgenommen hatte, und nahm eine Funkenbüchse heraus. Sie zündete das Windlicht an und ging zum Stall hinüber. Behutsam öffnete sie die Hintertür und hielt die Lampe in den Raum hinein. Zjen'bur und Seet'rooj standen friedlich schnaufend im Heu; ansonsten war niemand zu sehen. Vorsichtig schritt sie in den Stall hinein, während sie mit der Laterne jede Ecke des Raumes ausleuchtete. Plötzlich bemerkte sie dort, wo sich der Heuhaufen befand, eine Bewegung. Sofort drehte sie sich in die Richtung und hielt das Windlicht wie eine Waffe vor sich ausgestreckt. »Wer ist da?« fragte sie. »Komm raus, oder ich rufe meinen Vater!«

Eine kurze Zeit lang geschah nichts. Sie wollte gerade näher herangehen, als sich der Körper eines Jungen aus dem Heu auftauchte. »Schon gut, ich komme ja«, sagte der Junge. »Ich dachte schon, du wärst einer von den Gardisten, die hier herumschleichen.«

»Was machst du hier? Es ist Sperrstunde, da solltest du eigentlich zu Hause sein.« Rhia betrachtete den Jungen genauer. Er sah schmutzig und verwahrlost aus; seine Kleider waren fleckig und teilweise zerrissen. Die Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht und er trug keine Schuhe. »Du gehörst nicht hierher, oder? Wie heißt du eigentlich?«

»Nein, ich komme aus der Unterstadt. Mein Name ist Ekoj. Ich war auf dem Markt, hab aber den Rückweg nicht mehr geschafft.« Während er sich die Strohhalme aus den Kleidern zupfte stand er auf.

»Ich heiße Rhia i'Mantet. Mein Vater ist Händler hier, weißt du? Und Mutter und ich machen Stickereien. Wir waren auch auf dem Markt. Hast du auch etwas verkauft?«

Ekoj schnaubte verächtlich. »Pah! Was soll ich denn schon besitzen, das ein anderer kaufen will? Ich komme aus der Unterstadt, das sagte ich doch schon.«

Rhia stellte ihre Lampe auf den Boden und näherte sich vorsichtig dem Jungen. »Wie ist die Unterstadt? Ich war noch nie dort.«

»Na dann sei froh. Du kannst glücklich sein, daß du hier lebst und eine Familie hast. Im Loch unten gibt es so was für die meisten nicht. Da bist du auf dich ganz alleine gestellt und mußt für deinen Lebensunterhalt sorgen.« Dabei richtete er sich ein wenig auf. »Wenn du da einen Fehler machst, findest du dich ganz schnell im Fluß wieder.«

»Aber es ist bestimmt nicht langweilig«, entgegnete Rhia. »Bestimmt nicht so, wie hier. Ich muß jeden Tag den Laden saubermachen, Decken besticken und an die Leute verkaufen, in der Küche helfen und so weiter. Das mußt du doch bestimmt nicht, oder?«

»Nein, aber dafür schläfst du in einem richtigen Bett unter einem Dach und nicht irgendwo zusammengerollt in einer Gasse, mit einem offenen Auge auf die Kerle, die sich eine leichte Beute versprechen.« Ekoj verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder dorthin zurück will. Ich schätze, ich werde versuchen, mich hier durchzuschlagen.«

»Wenn du so rumläufst, wird das aber nicht lange gut gehen.« Sie deutete auf seine Kleider. »Du siehst aus, als wärest du gerade aus dem Kanal gekommen. Außerdem riechst du auch so. Wenn du wirklich hier leben willst, müssen wir da erst einmal etwas ändern.« Sie grübelte einen Augenblick lang. Dann sagte sie: »Paß auf! Wir haben hinterm Haus einen großen Wassertrog, da kannst du dich erst mal waschen. Ich hole in der Zeit etwas Waschsand, eine alte Hose und ein Hemd von mir. Das müßte dir eigentlich passen, du bist ja fast genauso groß wie ich. Und dann werde ich dir die Mittelstadt zeigen. Aber nur unter einer Bedingung.«

»Und wie lautet die?« Ekoj gefiel die Aussicht, einmal saubere Kleindung zu tragen.

»Du mußt mir danach die Unterstadt zeigen, ja?« Sie streckte die Hand aus. »Also, wie hört sich das an? Ein fairer Handel?«

Nach kurzem Überlegen ergriff er die Hand des Mädchens. »Ein fairer Handel.«

»Na dann komm! Ich werde dir zeigen, wo du dich waschen kannst.« Sie hob das Windlicht auf, nahm Ekoj bei der Hand und führte ihn durch die Hintertür aus dem Stall hinaus.

*

Noch in derselben Nacht nahm Rhia ihren neu gefundenen Freund bei der Hand und führte ihn durch die Gassen der Mittelstadt von Crys. Sie zeigte ihm alles, was sie kannte: Die Mauern der Wächter; die Tempel der Elementwächter Te'hjass, Te'ruuf, Te'duur und Te'buje, die in einem größeren Komplex zusammen standen; den Kanal; das Einkaufsviertel; den großen Park.

Immer, wenn sie Schritte von Gardisten hörten, bogen sie flink in eine andere Gasse ein. Als sie aber einmal doch angehalten wurden, antwortete Rhia frech, sie seien Kinder eines Händlers der Gegend, die einfach nur ein wenig umherlaufen wollten. Leichten Herzens gaben sie dem Mann das Versprechen, sofort nach Hause zurückzukehren. Für Rhia stand nun fest: Dieses Leben sollte fortan ihr Zuhause sein. Und wenn der nächste Markt kam, würde sie endlich die Unterstadt kennenlernen, die Ekoj ihr beschrieben hatte.

*

Khelet i'Mantet stand hinter der sauber glänzenden Theke seines Ladens. Die letzten Wochen hatten sichtbar an seiner Lebenskraft gezehrt. Er war um Jahre gealtert und diejenigen, die ihn kannten, bemerkten sofort, daß er sehr unglücklich war. Gegen Abend schloß er sein Geschäft ab, nahm die Tageseinnahmen mit sich in das Haupthaus und legte den Beutel mit den Ringen auf den Tisch. Jara kam zu ihm, nahm schweigend das Geld und legte es beinahe abwesend auf eine Kommode, auf der schon mehrere andere Beutelchen lagen. Dort blieb sie stehen, mit dem Rücken zu ihrem Mann, und begann zu weinen. Khelet legte einen Arm um ihre Schulter - auch in seinen Augen schimmerten die Tränen. Dann wandten sie sich um. An der Wand gegenüber der Tür hing eine Kohlezeichnung. Der Mann auf der Mauer blickte immer noch ziellos in die Ferne, ohne auf das Mädchen zu achten, das unter ihm ihren Ausbruch versuchte.

ENDE