Elektronische Diener
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)30.06.1993)

1.

Der Barbar hebt sein Schwert, um dem fürchterlichen Monster zu begegnen, das gerade auf ihn zukommt. Mit einer geschmeidigen Bewegung schwingt er den todbringenden Stahl in weitem Bogen herum. Der Golem aber wehrt den Hieb mit seiner Keule ab, um gleich darauf seinerseits anzugreifen. In letzter Sekunde reißt der Barbar seine Waffe hoch und pariert so den Schlag, der ihm ohne weiteres den Schädel gespalten hätte. Er duckt sich unter einem weiteren Hieb seines Gegners weg und rollt sich über dem staubigen Boden ab. Gleich darauf ist er wieder auf den Beinen und landet einen mächtigen Treffer gegen das rechte Bein des Golems. Dieser taumelt zurück und kann sich nur mit Mühe aufrecht halten. Ein zweiter schneller Hieb, und das Monster sackt leblos zusammen.

Gerd blickte stolz zu seiner Score-Anzeige hin, die sich gerade um fünfhundert Punkte erhöht hatte. Er hatte mit diesem Gegner seine bisherige Höchstpunktzahl um zweihundertfünfzig Punkte überboten. Jetzt allerdings war er müde geworden, und so speicherte er seinen Spielstand ab, um morgen an dieser Stelle weitermachen zu können. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, daß es wirklich langsam Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Es war bereits Mitternacht, und da er morgen um sieben Uhr wenigstens einigermaßen wach sein wollte, legte er sich kurz darauf schlafen.

Am nächsten Morgen saß er um viertel nach sieben zusammen mit seiner Mutter am Frühstückstisch. Während er aß, dachte er über den heutigen Schultag nach. Wirtschaftslehre und Deutsch waren in den ersten beiden Doppelstunden dran. Für die letzten beiden Stunden hatte Frau Krämer eine Englischarbeit angesagt. Gerd hatte zwar keine Probleme mit der englischen Sprache, wußte aber, daß die meisten seiner Mitschüler nicht so gut dran waren wie er. Besonders Udo und Alexander nicht, und die beiden würden wahrscheinlich wieder versuchen, bei ihm abzuschreiben. Das war natürlich für ihn wie für die anderen ein ziemliches Risiko, denn wenn die Krämer dahinterkam, konnte er seine zwei in Englisch vergessen. Aber wenn er sie nicht in seine Arbeit sehen ließ, konnte er sich denken, was ihn auf dem Heimweg erwarten würde.

Seine Mutter ahnte nichts von den Gedanken ihres Sohnes, als sie seine Pausenbrote machte und ihn dann zur Tür brachte. »Bis nachher!« rief sie ihm noch die Treppe hinunter nach. »Viel Glück bei der Arbeit!«

Im Bus wäre Gerd beinahe eingeschlafen. Er beeilte sich, hinauszukommen und hetzte dann über den Schulhof bis zur Eingangstür. Dort stand der größte Teil seiner Mitschüler schon in einem dichten Haufen und wartete. Gerd hielt sich etwas fern. Mit den wenigsten seiner Klassenkameraden stand er auf gutem Fuß, denn wer wollte schon der Freund eines Jungen sein, der in fast allen Fächern regelmäßig Einser und Zweier bekam. Außerdem war er für sein Alter sehr klein. Aber was das Schlimmste war, er war eine Klasse vorversetzt worden und damit auch ein Jahr jünger als die anderen.

Gerd lehnte an der Mauer zum Lehrerzimmer und wartete ebenfalls. Schließlich erklang der Schulgong, und die Schüler betraten ihre Klassenräume. Gerd beeilte sich, im ersten Durcheinander auf seinen Platz zu kommen, ohne daß ihn einer ansprach. Georg, ein etwas dicklicher rothaariger Junge mit einem Hörgerät, saß schon auf dem Platz neben seinem. Mit Georg war er immer gut zurechtgekommen. Wahrscheinlich lag das daran, daß Gerd niemals eine abfällige Bemerkung über den Körperbau oder die Schwerhörigkeit seines Freundes gemacht hatte. Aber leider war auch Georg nicht so stark wie Alexander.

Die Wirtschaftslehrestunden zogen sich schleppend dahin, bis endlich der Gong die erste Pause einläutete. Gerd und Georg trafen sich mit Jörg und Ralf aus der Parallelklasse an der Tischtennisplatte. Wie jeden Tag spielten sie bis zum Ende der Pause und waren dann ziemlich außer Atem.

Mitten in der zweiten Stunde des Deutschunterrichts flog ein zusammengeknülltes Stück Papier unter Gerds Tisch. Herr Clauß stand gerade an der Tafel und schrieb die verschiedensten Sätze an, um die Kommasetzung zu erklären. Also bückte Gerd sich und hob das Papier auf. Nachdem er es auseinandergewickelt hatte, sah er genau das, was er erwartet hatte. Der Zettel kam eindeutig von Udo, er erkannte seine Handschrift.

Ich hoffe du weißt, was du zu tun hast.

Er dachte lebhaft über diese Zeilen nach, als er zwei Stunden später in Udos Schwitzkasten steckte. Gerd hatte den beiden weder besonders geholfen, noch hatte er sie bewußt gehindert, in seine Blätter zu sehen. Aber trotzdem war Alexander beim Abschreiben erwischt worden. Natürlich war Gerd jetzt an allem schuld und mußte die Folgen ausbaden. Udo und Alex hatten ihm auf dem Nachhauseweg aufgelauert, waren plötzlich aus einem der Gebüsche hervorgestürzt und hatten ihn gepackt. Jetzt hielt Udo ihn fest, während Alexander sich langsam vor ihm aufbaute.

»Ich schätze, du hast noch immer nicht kapiert, wer hier das Sagen hat. Aber du wirst noch dahinterkommen.« Gerd bekam einen Schlag ins Gesicht. »Wegen dir werde ich jetzt vielleicht sitzenbleiben!« Ein zweiter Schlag traf Gerds Kinn, und er biß sich auf die Lippe. »Ich warne dich! Wenn du dir noch einmal so einen Mist erlaubst, kommst du nicht mehr so glimpflich davon.« Mit diesen Worten ließ Udo los und riß ihm den Schultornister vom Rücken. Gerd ließ sich zu Boden sinken, wo ihm kurz darauf der Inhalt der Tasche über den Kopf gekippt wurde. Er hörte Alex und Udo noch einmal hämisch lachen, bevor die beiden um eine Hausecke verschwanden.

2.

Als er schließlich zu Hause die Wohnungstür aufschloß, war er froh, daß seine Mutter noch arbeiten war. Er hatte keine Lust, ihr davon zu erzählen. Das würde nur noch mehr Krach geben, und wahrscheinlich würde dann alles nur noch schlimmer werden. Er warf die Tür mit kräftigem Schwung ins Schloß. Wenn er nur größer wäre, er würde es diesen Idioten schon zeigen! Wütend stampfte er in sein Zimmer und warf den Tornister aufs Bett. Seine Jacke flog hinterher, und er setzte sich auf den Stuhl, der vor seinem kleinen Schreibtisch stand. Der Monitor flackerte auf und einen Augenblick später surrte das Diskettenlaufwerk.

Der Zorn des Barbaren kennt keine Grenzen. Sein nächster Gegner ist ein schwarzgekleideter Mönch, der mit seinem Stab furchtbare Treffer austeilen kann. Der Kämpfer weiß, daß er nun all seine Kräfte brauchen wird, um den folgenden Kampf zu überstehen. Schon kommt sein Gegner auf ihn zu und wirbelt seinen Stock herum. Kühl und abschätzend wartet der Barbar auf seine Gelegenheit zum Angriff. Als der Stab ihn am Kopf trifft, taumelt er überrascht zurück. Er hatte den Angriff gar nicht kommen sehen. Wieder belauern sich die beiden Gegner, und jeder sucht bei dem anderen eine schwache Stelle in der Deckung. Der Barbar erkennt seine einzige Chance. Im gleichen Augenblick wie der Mönch schlägt er zu und entreißt ihm mit diesem Hieb die Waffe.

Der Schwarzgekleidete strauchelt noch einen Augenblick und geht dann vor dem Barbaren in die Knie. Der Kämpfer steckt sein Schwert wieder in die Scheide.

Er hatte nun die letzte Spielebene gemeistert und trug seinen Namen in die Bestenliste ein. Er wünschte sich von ganzem Herzen, daß er selbst der Barbar wäre und er es den anderen heimzahlen könnte. Als er darüber nachdachte, wurde er wieder wütend. Er und ein Barbar! Ein Muttersöhnchen war er! Klein und schwach, nicht einmal mutig genug, vom Dreimeterturm im Hallenbad zu springen. Nein, er würde nie und nimmer ein Barbar sein.

Der Rest des Tages verging wie immer. Seine Mutter kam um halb fünf nach Hause und machte das Essen. »Wie war denn die Arbeit?« wollte sie wissen.

»Kein Problem.«

Sie lächelte. Nicht zum ersten Mal fühlte sie, wie stolz sie auf ihren Sohn war. Er hatte keine Probleme gehabt, als sie und ihr Mann sich vor drei Jahren hatten scheiden lassen, und auch sonst war er ein aufgeweckter intelligenter Junge. Am meisten freute es sie, daß er so schnell Freundschaften schloß. Als er damals von der zweiten in die dritte Klasse vorversetzt worden war hatte sie befürchtet, er würde den Anschluß an seine Mitschüler verlieren. Aber schon bald darauf war er mit Georg nach Hause gekommen. Seitdem waren die beiden gute Freunde. In ihren Augen hatte ihr Sohn nur einen einzigen Fehler: Seine bedingungslose Gutmütigkeit. Egal, wie oft er schon festgestellt hatte, wie egoistisch manche Menschen waren, er selbst war immer bereit gewesen, mit anderen zu teilen. Auch seine Intelligenz setzte er nie ein, um andere zu beschämen. Nein! Er gab den anderen vielmehr gute Ratschläge und gelegentlich auch einmal Nachhilfeunterricht. Sie beobachtete ihn, während er seine Ravioli aß, die sie ihm gekocht hatte.

An diesem Abend ging er früh ins Bett.

Aber er war nicht der einzige, der um diese Zeit schlafen ging. Am anderen Ende des kleinen Dorfes ging auch in Udos Zimmer das Licht aus. Er hatte sich vor zehn Minuten mit seinem Vater gestritten und war nun in sein Zimmer geschickt worden.

Wie beinahe an jedem Abend war Ludwig Rensen betrunken nach Hause gekommen. Seine erste Handlung bestand darin, den Fernseher einzuschalten, seine zweite war, sich eine Flasche Diebels aus dem Kühlschrank zu holen. Bis dahin hatte er weder Maria - seine Frau - noch seinen Sohn begrüßt. Als Udo zu ihm ging, wurde er scharf abgewiesen, mit der Begründung, er störe ihn beim Fernsehen. Daraufhin hatte sich Maria eingeschaltet, um ihren Sohn in Schutz zu nehmen. Es kam zu einem fürchterlichen Streit, während dem Maria von ihrem Mann einen Schlag ins Gesicht bekam. Udo rannte sofort zu ihr hin und versuchte, sie zu schützen. Dann hatte auch er eine Ohrfeige bekommen und war auf sein Zimmer geschickt worden. Jetzt, wo er im Dunkeln lag, konnte er immer noch die wütenden Schreie seiner Eltern hören, wie sie sich, wie beinahe an jedem Abend, stritten.

Er hatte noch nicht lange geschlafen, als es plötzlich an sein Fenster klopfte. Udo sah auf die schimmernden roten Ziffern, die die Vorderseite seines Radioweckers bildeten. Es war gerade mal zwei Uhr. Draußen war leiser Wind zu hören und gelegentlich ein Auto, das die Straße entlangfuhr. Udo wollte sich gerade wieder hinlegen, da klopfte es zum zweiten Mal. Tack, tack, tack. Dreimal. Er stand auf und ging leise zum Fenster, vor dem die Rolladen heruntergelassen waren. Draußen war es still. Vorsichtig zog er die Jalousien hoch, bis ein etwa zwanzig Zentimeter hoher Spalt entstanden war. Er blickte angestrengt nach draußen und konnte dort im schummrigen Licht des Hofes eine dunkle Gestalt erkennen, die vor seinem Fenster stand. Dann beugte sich der Schatten wieder zu seinem Fenster hin und legte sein Gesicht an die Scheibe.

»Udo!« hörte er ihn rufen. »Mach das Fenster auf! Ich bin's, Alex!«

Jetzt da er wußte, wer vor seinem Fenster stand, erkannte er seinen Freund. Er zog leise die Rolladen weiter hoch und öffnete dann eine Seite seines Zimmerfensters. »Was willst du denn hier? Wenn mein Alter davon Wind bekommt, kriege ich 'ne Menge Ärger!«

»Wenn schon. Ich habe mir was Geniales einfallen lassen. Wir werden diesem schwerhörigen Lackaffen von Sanpes mal tüchtig eins auswischen.«

Georg schlief indessen. Er hatte einen anstrengenden Tag zusammen mit seinem Vater im Garten verbracht. Das neue Gartenhäuschen war nun beinahe fertig. Es fehlten nur noch die richtigen Fensterscheiben und eine neue Tür. Georg hatte beinahe das ganze Dach alleine gedeckt, während sein Vater an der Inneneinrichtung gebaut hatte. Gegen Abend war er dann hundemüde nach Hause gekommen und hatte sich gleich nach dem Abendessen ins Bett gelegt. Deshalb wachte er auch nicht auf, als ein kleiner Stein gegen sein Fenster flog.

Der dritte Stein war es, der Georg endlich weckte. Nachdem ein weiteres Klacken vom Fenster her zu hören war, stand er auf und zog die Jalousien hoch. Draußen sah er eine Gestalt, die ihm zuwinkte. Da er nicht erkennen konnte, wer es war, zog er die Gardinen zurück, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus, um besser sehen zu können. In diesem Augenblick traf ihn etwas am Kopf, und ein weiterer Gegenstand flog dicht an ihm vorbei ins Zimmer. Er hörte Glas splittern als er sich duckte und das Fenster zuwarf. Von draußen hörte er noch ein lautes Lachen zweier Stimmen, dann begann sich ein fürchterlicher Gestank in seinem Zimmer breitzumachen.

3.

Ein neuer Tag brach an, und zu Gerds Freude war es Samstag. Sein Wecker hatte heute Pause, und er konnte sich endlich mal richtig ausschlafen. Er war allerdings schon hellwach, als seine Mutter an seine Zimmertür klopfte und ihm mitteilte, daß das Frühstück auf dem Tisch stand.

Die Vollkommenheit dieses Frühsommertages ließ ihn die Geschehnisse des gestrigen Tages ganz und gar vergessen. Die Sonne wärmte die Luft, und nur vereinzelte Wolken waren am Himmel zu sehen. Das Thermometer kletterte auf einundzwanzig Grad, und es versprach, im Laufe des Tages noch wärmer zu werden. Also war Gerd auch nicht verwundert, als Patrick anrief um ihn zu fragen, ob er Lust hätte, zum Baggerloch schwimmen zu gehen. Dieser Tag war geradezu geschaffen dafür, und so sagte er zu. Nachdem er aufgelegt hatte, hob er den Hörer noch einmal ab und wählte Georgs Nummer. Nach dem dritten Läuten nahm Georgs Vater ab und Gerd ließ sich seinen Freund ans Telefon rufen.

»Hallo?«

»Hallo, hier ist Gerd. Ich wollte dich nur mal fragen, ob du Lust hättest, mit Patrick und mir schwimmen zu gehen.«

»Schwimmen? Wo denn?«

»Im Baggerloch, drüben bei Belwers. Ich schätze, das Wasser wird jetzt gerade richtig sein.«

Georg überlegte einen Augenblick. »Na gut, von mir aus gerne. Ich suche nur noch meine Sachen zusammen, und dann komme ich 'rüber.«

»Ist gut. Bis nachher dann.«

Gerd legte auf und begann seinerseits, eine Badehose und ein Handtuch, sowie eine Strandmatte und eine Frisbee-Scheibe einzupacken. Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür. Gerds Mutter öffnete, und Patrick kam in sein Zimmer. Mit Patrick war er schon so lange zusammen, wie er denken konnte. Er wohnte auf der gleichen Straße, und es verging kaum ein Tag, an dem die beiden nicht zusammen gewesen waren. Sie hatten so ziemlich die gleichen Interessen und verstanden sich auch sonst sehr gut. Patrick war ein paar Tage jünger als Gerd, überragte ihn aber um mindestens fünf Zentimeter. Dagegen war seine geistige Größe nicht so gut entwickelt, denn obwohl er im gleichen Jahr wie Gerd geboren worden war, war er eine Klasse unter ihm. Aber das störte die beiden nicht.

»Hallo Gerd«, begrüßte ihn sein Freund. »Bist du fertig?«

»Ja, ich muß nur noch mein Fahrrad aus dem Keller holen. Wenn Georg dann da ist, können wir losfahren.« Gerd verabschiedete sich von seiner Mutter, nicht ohne die Ermahnung zu hören, er solle vor dem Dunkelwerden zu Hause sein, und gemeinsam gingen die zwei Freunde nach draußen. Gerd holte sein Fahrrad und zusammen warteten sie noch fünf Minuten, bis Georg angeradelt kam.

»Hallo! Alles bereit?«

»Ja. Wir können losdüsen.«

Der Weg bis zum Baggerloch kostete sie zwanzig Minuten. Dort angekommen, legten sie ihre Räder nahe dem Ufer in den Sand und zogen sich um. Schon bald planschten sie vergnügt im kühlen Wasser herum und warfen sich gegenseitig die Frisbee-Scheibe zu.

Sie waren so im Spiel vertieft, daß sie die beiden Köpfe, die hinter einem Busch hervorlugten, nicht bemerkten. Udo und Alexander waren an diesem Tag ebenfalls am Baggerloch und hatten die drei Freunde bemerkt, als diese ihre Sachen am Rand des Sees ablegten. Sofort war Udo eine Idee gekommen, wie sie den dreien einen Streich spielen konnten. Sie schlichen sich an die Sachen heran und nahmen sie mit sich die Anhöhe hinauf.

Als Gerd bemerkte was passiert war, waren die beiden anderen bereits außer Sicht. Er rief seine Freunde und kletterte ans Ufer, wo die drei Fahrräder noch im Sand lagen. Ihre restlichen Sachen waren nicht mehr da.

»So ein Mist«, fluchte Patrick. »Da hat uns jemand unsere Sachen geklaut!«

»Nicht nur das«, bemerkte Gerd wütend. »Meine Brille und Georgs Hörgerät sind auch weg.«

»Scheiße!« fluchte der rothaarige Junge. »Was sollen wir denn jetzt machen?«

Gerd dachte eine Weile nach. »Ich denke, wir sollten nach Hause gehen und unseren Eltern Bescheid sagen. Was anderes können wir eh nicht tun.«

Also hoben sie ihre Fahrräder auf und schoben sie die Anhöhe hoch, die sie zuvor zum Wasser hinabgefahren waren. Auf dem Gipfel angekommen sahen sie ihre Badesachen quer über die große Wiese verteilt herumliegen. Einerseits erfreut, andererseits verärgert machten sie sich daran, ihre Sachen wieder einzusammeln. Allerdings waren Gerds Brille und Georgs Hörgerät nicht dabei. Mißmutig schlenderten sie in Richtung Straße, weil sie hofften, zu Fuß eher etwas zu finden.

Auf der Straße sahen sie Udo sofort, der ein ganzes Stück weiter auf einem Fahrrad saß und eine Hand triumphierend in die Höhe hielt. Die drei waren sich sicher, was sich darin befinden mußte. Sofort schwangen sie sich in ihre Sättel und radelten auf Udo zu, der nun seinerseits in die Pedale trat. Mit lautem Geschrei verfolgten sie den Größeren. Aber nur wenige hundert Meter weiter warf der Junge den Inhalt seiner Hand auf die gegenüberliegende Fahrbahn und beeilte sich, wegzukommen. Nur Augenblicke später hörten sie den Lastwagen, der, ohne es zu ahnen, eine Brille und ein Hörgerät unter seinen Reifen zermalmte.

Als die drei die Überreste einsammelten, stieg in Gerd wieder dieser ohnmächtige Haß auf. Er ballte die Hände zu Fäusten und sein Blick wurde wild. »Dafür werden sie büßen«, sagte er leise, aber bedrohlich. »Ich schwöre es! Sie werden dafür büßen.«

4.

Sie schoben ihre Räder den Weg zurück. Während sie gingen ließen Patrick und Georg sich in den heftigsten Flüchen über Udo aus, der ihnen das angetan hatte. Gerd blieb still. Die anderen beiden schienen das aber in ihrem Eifer nicht zu bemerken.

»Ich sage dir«, meinte Georg gerade. »Wo Udo ist, kann Alexander eigentlich nicht weit sein.« Er war fest davon überzeugt, daß alle beide an diesem Streich beteiligt gewesen waren. »Hab ich euch eigentlich schon erzählt, was diese Hunde gestern abend gemacht haben?«

Patrick schüttelte den Kopf. »Was denn?« fragte er interessiert.

»Sie haben Steine an mein Fenster geworfen, und als ich es aufgemacht habe, kam eine Stinkbombe in mein Zimmer geflogen. Ich habe die Nacht im Wohnzimmer verbringen müssen. Der Gestank war nicht wegzukriegen, selbst mit Teppichzeug und Duftspray nicht!«

»Diese Idioten gehören eingesperrt«, maulte Patrick. »Die lassen keine Gelegenheit aus, einen zu piesacken.«

Gerd indessen dachte sich die schlimmsten Strafen für Alex und Udo aus.

*

Der Mond scheint hell und klar vom Himmel durch das Fenster. Gerd blickt sich in seinem Zimmer um. Es ist alles wie immer. Nur eine Kleinigkeit hat sich verändert. Der Monitor seines Computers ist eingeschaltet, und das Diskettenlaufwerk summt leise vor sich hin. Auf dem Bildschirm kämpft der Barbar gegen ein großes Monster. Gerd steht auf und geht zum Monitor. Da blickt der Barbar ihn an, und das Monster verschwindet. Der Barbar streckt seine Hand aus, und Gerd ergreift sie. Der kleine Junge fühlt die Kraft im Arm des anderen und hilft ihm, den Bildschirm zu verlassen. Jetzt steht er neben ihm im Zimmer und blickt ihn an.

»Du bist der Meister des Spieles«, sagt er mit dunkler Baßstimme. »Nenne mir meine nächsten Gegner.«

Gerd traut seinen Augen nicht. Ist es Wirklichkeit oder Einbildung? Er schluckt einmal kräftig und spricht: »Wenn ich der Meister des Spiels bin, und wenn ich dir deine neuen Gegner nennen soll, dann nenne ich dir die Namen Udo Rensen und Alexander Pollers.«

»So soll es denn sein. Ich kehre bald zurück.« Mit diesen Worten verschwindet der Barbar, und bald darauf kämpft er wieder gegen das Monster.

*

Gerd erwachte. Ein Schauer überlief seinen Körper und er stand auf, um das Fenster zu schließen. Sein Traum war so realistisch gewesen, er war sich immer noch nicht ganz sicher, ob er nun wirklich nicht mehr schlief. Um sich davon zu überzeugen, kniff er sich in die rechte Wange und kam zu dem Schluß, daß er tatsächlich nicht mehr träumte. Da es aber gerade mal drei Uhr war, legte er sich bald schon wieder hin.

Alex und Udo waren noch lange nicht im Bett. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, sich Samstags abends mit ein paar Kumpels auf dem alten Spielplatz zu treffen und dort ein paar Flaschen Bier zu trinken. Diese Nacht war besonders lang geworden, denn jemand hatte ein Lagerfeuer angezündet, und aus den Lautsprechern eines Ghettoblasters klangen harte Rap-Klänge von Two life Crew. Nachdem Alex und sein Freund vier Flaschen Bier geleert hatten, waren sie in der richtigen Stimmung, die Nacht durchzutanzen. Der Spielplatz lag ziemlich abseits von den Wohnsiedlungen, nur das Feuerwehrhaus stand in Sichtweite, auf der anderen Seite des kleinen Flusses. Hier wurden sie nur selten gestört, es sei denn, eine Polizeistreife verkehrte gerade in der Gegend. Da Alex, Udo und eine Menge der anderen noch nicht volljährig waren, mußten sie darauf achten, daß sie nicht erwischt wurden.

Es war schon nach halb vier Uhr, als sich die beiden endlich dazu entschlossen, nach Hause zu gehen. Gemeinsam wankten sie über die Straße und stützten sich gegenseitig. Ein vorbeifahrender Wagen mußte scharf bremsen, als Alex der Länge nach hinfiel. Der Fahrer hupte entrüstet, und die zwei antworteten mit höhnischen Schreien und lautem Gelächter.

Sie gingen an dem gelben Ortsschild vorbei, das von Bäumen beinahe zugewachsen war und näherten sich nun der Bundesstraße. Dort angekommen, lief Alex zur Mitte der Kreuzung und legte sich flach auf den Boden. Udo begann laut zu lachen. Als er aber dann die Scheinwerfer eines sich nähernden Wagens in der Ferne sah, rief er seinem Kumpel eine Warnung zu. Alex schien ihn nicht zu hören. Alles was er tat war, lauthals zu grölen und zu singen.

»Alex! Paß auf, da kommt 'n Wagen die Straße 'runter!«

Immer noch rührte er sich nicht. Udo bekam nun doch Schiß und rannte zur Mitte der Kreuzung, um seinem Freund hochzuhelfen. Dieser war davon gar nicht begeistert und schüttelte die helfende Hand ab. Dann tauchten die Lichter auf der Anhöhe auf, nur etwa vierzig Meter vor ihnen. Einen schrecklichen Augenblick lang sah Udo die Scheinwerfer auf sich zurasen, dann folgte ein lautes Quietschen und die Lichter schwenkten ab. Der Fahrer hatte es geschafft, im letzten Augenblick auszuweichen. Dieses Ereignis rüttelte Alex auf und er stolperte hinter Udo her, der sein Heil in der Flucht suchte.

Atemlos hielten die beiden neben der Straßeneinfahrt zum Harscherweg an, wo Alex wohnte. Hier verabschiedeten sie sich voneinander, und Alex torkelte den Weg entlang. Udo hatte sich gerade umgedreht und wollte seinerseits gerade die Bundesstraße überqueren, als er einen erstickten Schrei hörte, gefolgt von einem Geräusch, das wie ein Stock klang, der schnell durch die Luft gewirbelt wurde. Dann fiel etwas mit einem Platschen zu Boden. Etwas größeres folgte. Sekunden später war es wieder still.

Udos Herz klopfte wild, als er herumfuhr. Hinter sich hatte er ein Knacken vernommen, das Knacken eines Zweiges, der von einem Fuß zertreten worden war. Vor sich sah er im Mondlicht einen riesigen Mann. Sein Oberkörper war unbekleidet und zeigte kräftige Muskeln, das Haar hatte er mit einem Stirnband zusammengebunden, und in seinen Augen stand blanker Haß. Das lange Schwert, das er mühelos in seiner rechten Hand hielt, reflektierte das weiße Licht des Mondes.

In Todesangst machte Udo kehrt und floh über die Straße. Er hörte, wie ihm schwere Schritte folgten. Seine Beine trugen ihn die Straße hinunter, die an einer anderen Stelle in den Ort hineinführte. Aber trotz aller Anstrengung merkte er schon bald, daß er zu langsam war. Also bog er scharf ab und rannte zu einer kleinen Gasse, die von zwei Häusern gebildet wurde. Vor dem Eingang befand sich ein niedriges grünes Maschentor, das Udo mit einem Satz übersprang. Schon bald war er in der zweifelhaften Sicherheit der Gasse und versteckte sich zwischen zwei großen Mülltonnen. Die Schritte des Mannes waren leise zu hören, als dieser beinahe gemächlich das Tor überstieg und in die Gasse vordrang. Udo kauerte sich zusammen und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Als der andere dann an seinem Versteck vorbeiging, hielt er die Luft an. Sekunden später waren die Schritte des anderen an ihm vorübergegangen und Udo entspannte sich ein wenig. Er lugte um die Ecke, sah niemanden und rannte dann aus seiner Nische heraus. Mit einem Sprung setzte er wieder über das Tor und rannte dem großen Mann genau in die Arme. Hilflos um sich schlagend versuchte Udo, sich aus dem Griff des anderen zu winden, aber es hatte keinen Zweck. Sein gellender Schrei weckte mehrere Familien, bevor er endgültig verstummte. Als dann die Lichter in den Häusern der Straße angingen, war der Barbar schon lange Zeit fort.

5.

Als Gerd am nächsten Tag den Bericht im Blättchen sah, wurde ihm beinahe schlecht. Er konnte sich zwar nicht sicher sein, aber es war die Rede von zwei ermordeten Kindern. Man hatte sie am Morgen gefunden, eines an der Einmündung des Harscherweges in die Bundesstraße und das andere auf der Kölner Straße. Beiden war der Kopf abgetrennt worden, und sie wiesen zahlreiche tiefe Schnittwunden auf. Gerd mußte an seinen Traum denken. Er hatte dem Barbaren gesagt, wen er umbringen sollte, und genau diese beiden waren nun tot, jedenfalls war er sich sicher, daß es nur Alex und Udo sein konnten. Er beschloß, erst einmal bis zum nächsten Tag abzuwarten. Wenn sie dann nicht zur Schule kamen...

Zum Glück klingelte gegen Mittag Patrick bei ihm. So konnte er seine düsteren Gedanken wenigstens eine Zeit lang vergessen. Wenn er mit seinem Freund zusammen war, hatte er stets gute Laune. Patrick verstand es, Gerds Lebensgeister selbst in den schlimmsten Zeiten wiederzuerwecken. Immer hatte er einen kleinen Witz auf Lager, eine neue Idee für ein Spiel oder er schnitt ein Thema an, über das die beiden dann stundenlang reden konnten. Aber es war Gerd nicht so wichtig, daß er irgendetwas machte, es reichte, wenn er einfach nur da war. Irgendwie war seine Anwesenheit allein Grund genug für gute Laune. Deshalb war Gerd auch wieder in besserer Stimmung, als er seinen Freund die Treppe hinaufkommen sah, insbesondere da seine Mutter heute nicht da war. Sie besuchte einen Italienischkurs und würde erst am Abend zurück sein.

»Hallöchen«, begrüßte Patrick ihn. »Hast du heute Zeit?«

»Ja, den ganzen Tag.« Gerd schloß die Tür hinter seinem Freund. Dann folgte er ihm in sein Zimmer.

»Oh, wie ich sehe, trägst du heute mal rot«, bemerkte Patrick und tat so, als würde er sich eine Brille aufsetzen.

Gerd zog eine Grimasse. »Das ist meine Ersatzbrille. Die habe ich mal vor zwei Jahren getragen. Bis ich 'ne neue habe, muß ich halt damit leben.«

»Du wirst das schon überstehen. Ich schätze, Georg ist schlimmer dran.«

Ohne es zu wissen, hatte Patrick das Gespräch auf die Sache gebracht, die Gerd als letztes diskutieren wollte. Also wechselte er schnell das Thema. »Wenn ich mich nicht irre, ist bald wieder die richtige Zeit, um Fröschen zu gehen.«

Patrick dachte einen Augenblick nach. »Ich bin vor einer Woche mal an der Kandel gewesen. Bis jetzt ist da noch nichts zu sehen. Aber es kann nicht mehr lange dauern. He!« Patrick drehte sich herum, um die Gardine, die vor dem offenen Fenster herumflatterte, wieder zurückzuziehen.

Patrick, Gerd und ein paar der anderen Kinder der Umgebung hatten ein beliebtes Spiel, das sie Fröschen nannten. Dabei ging es darum, an einem Tag die meisten Frösche aus der Kandel zu fischen, um sie nachher wieder freizulassen. Gerd und Patrick waren bisher noch nie Sieger gewesen, aber das war auch nicht weiter schlimm. Wichtig war, draußen an der frischen Luft mit Freunden zusammenzusein. Zumindest war es das, was für Gerd wichtig war.

»Ich schätze, Ralf wird wie immer am besten abschneiden.«

»Oder Boris«, schlug Patrick vor.

Sie unterhielten sich noch lange über ihre späteren Pläne für die Ferien. Schließlich schaltete Gerd seinen Computer ein und legte eine Diskette ins Laufwerk. Nach kurzer Ladezeit präsentierte sich ihnen die Titelgrafik eines Kampfsportspieles. Wie so oft kämpften sie gegeneinander um den ersten Platz des Turnieres. Aber irgendwie war es diesmal anders. Gerd kam es so vor, als säße er nicht vor einem Monitor mit dem Joystick in der Hand, sondern er war der Kämpfer. Er stand seinem Gegner in der Arena gegenüber. Sein Bewußtsein für die Realität schwand mehr und mehr.

Plötzlich riß ihn ein fürchterlicher Krach wieder in seine Welt zurück. Patrick hatte seinen Joystick fallen lassen und starrte gebannt auf die Zimmertür. Dort stand ein mindestens zwei Meter großer Mann, mit einem Stirnband und einem gefährlich blitzenden Schwert. Gerd glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Schnell blickte er zu Patrick hinüber, der immer noch den Kämpfer anstarrte. Der Barbar machte einen Schritt auf die beiden zu. Gerd sprang auf und zog Patrick von seinem Stuhl hoch.

»Ich komme, um mir meine Bezahlung zu holen«, sagte der Barbar.

Gerd wußte nicht, was er antworten sollte. Er hatte keine Ahnung, was der andere meinte. Allerdings konnte er sich vorstellen, was ihn erwartete, wenn er ihm nicht geben konnte, was er wollte. Er faßte einen Entschluß. »Wir müssen hier raus«, flüsterte er Patrick ins Ohr. »Paß auf, wir verduften durchs Fenster. Spring einfach runter! Wer weiß, was der mit uns vorhat.« Gleich darauf wirbelte er herum und zog die Gardine beiseite. Sekunden später baumelten seine Beine hinunter und er ließ sich fallen. Es gab einen harten Aufprall, und mehrere Sekunden lang konnte er sich nicht aufrichten. Seine Beine schmerzten fürchterlich. Er rückte nur so weit zur Seite, um Patrick Platz zu machen, der gerade herauskletterte und neben ihm aufschlug.

Schließlich waren sie beide wieder bereit, weiterzulaufen. Während sie flohen, warf Patrick ihm einen Blick zu. Gerd zuckte mit den Schultern. Er wußte es auch nicht.

Sie rannten über den Rasen, auf dem jede Menge bunter Wäsche auf der Leine hing. Dann eilten sie den kleinen Abhang hinunter und fanden sich auf der hier endenden Straße wieder, die in einen Feldweg überging. Schon bald hörten sie, wie sie verfolgt wurden, und was das Schlimmste war, sie wurden eingeholt. Patrick fiel etwas zurück, er war zwar größer als Gerd, hatte aber nicht die Kondition, um so lange durchzuhalten. Gerd versuchte, ihn zu packen und mitzuziehen, als Patrick auch schon zu Boden fiel. Gerd wandte sich um und sah, wie der Riese sein Schwert hob.

»NEIN!« schrie er und blieb stehen. Patricks Angstschrei endete abrupt. Gerd rannte wieder weiter. Tränen verschleierten seine Sicht. Aber er wurde nicht mehr verfolgt.

Atemlos blieb er an dem kleinen Bahnübergang stehen. Der Barbar war also Wirklichkeit, und er hatte Patrick getötet. Gerds Kehle war wie zugeschnürt. Bei dem Gedanken daran, wie sein bester Freund mit abgetrenntem Kopf auf der Straße lag, wurde ihm schwindlig, und er mußte sich übergeben. Als er wieder einigermaßen bei Kräften war, wanderte er den Hüsersweg hinauf.

Er wußte nicht mehr, wie er den Weg nach Hause geschafft hatte. In seinem Zimmer angekommen, warf er sich auf sein Bett und begann zu weinen. All seine Trauer, seine Angst und seine Wut strömten aus ihm heraus. Und doch, er konnte nichts tun, was ihm seinen Freund wiederbringen würde. Schließlich versiegten die Tränen, und Gerd konnte wieder klar denken. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann fiel sein Blick auf den noch immer laufenden Computer. Die Figur eines degenschwingenden Fechters wirbelte herum. Da sah Gerd seine Chance. Er setzte sich an den Bildschirm und begann zu spielen.

ENDE